Anarchie soll damit nicht gegen, aber über die anarchistische Szene hinaus, gedacht werden. Die konkrete Utopie wird in Gestalt des libertären Sozialismus beschrieben und soziale Revolution als gesamtgesellschaftliches Transformationsprojekt vorgeschlagen. Statt Pläne zu schmieden und Lösungen anzupreisen, zielen die Texte vielmehr auf den Entwurf guter Fragen und regen zum Nachdenken an.
Es handelt sich bewusst nicht um akademische Texte, weswegen auf Fussnoten und Belege verzichtet wurde. Die ersten drei Texte wurden bereits in der Gai Dao. Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen veröffentlicht. Ebenfalls werden sie in Kürze beim Online-Versand black-mosquito.org als Broschüren bestellbar sein und finden sich auf dem Blog des Autor zum download als pdf.
Vor dem Aufbruch steht die Enttäuschung
Wir leben in Zeiten eines von vielen wahrgenommenen gesteigerten Transformationsbedarfs der gesellschaftlichen Verhältnisse. Viele Menschen, auch anarchistisch inspirierte, empfinden immer drängender eine zunehmende Notwendigkeit, handlungsfähig und wirkungsmächtig zu werden. Ohnmachtserfahrungen und Bedeutungslosigkeit haben sich in dieser Gesellschaft bei den meisten tief eingegraben. Gleichzeitig sehen sie eine enorme Kluft zwischen den eigenen Ansprüchen und der Unzulänglichkeit des eigenen Handelns. Ihre Motivation ist gebrochen, weil jegliche Versuche, sich im „demokratischen Prozess“ positiv einzubringen, zunichte gemacht werden.Ja, wir leben in ganz spezifischen historischen Zeiten. Doch gerade um zu begreifen, was unsere Epoche besonders macht, in welcher Umgebung wir leben, wie wir in dieser zurechtkommen, welchen Bedingungen wir unterliegen, wie ωir sie erweitern und Geschichten mitgestalten können, ist es sinnvoll, ab und zu inne zu halten. Dies ist keine Zeitverschwendung, sondern notwendig, um ʋns zu verorten. Denn ohnehin können sich die meisten Menschen in der modernen Welt dem Grundgefühl des Hamsters auf dem Laufrad kaum entziehen. Vielleicht ist davor noch ein Fernseher aufgebaut, bei dem immer neue Bilder vorbeilaufen, sodass sie in der Illusion gefangen sind, mit ihrem Rennen gelangten sie auch fortwährend woanders hin. Tatsächlich bleiben sie aber im rasenden Stillstand und im immer gleichen Laufrad gefangen...
Für all jene, die aus verschiedenen Gründen Enttäuschungen in linken und anarchistischen Szenen erfahren haben: Eure Enttäuschung ist berechtigt. Sie ist berechtigt, weil eure Ansprüche wie auch eure Bedürfnisse und Gedanken richtig sind und ihr von diesen ausgehen könnt. Ihr habt zu selten erfahren, dass sie erfüllt und gestillt werden. Da die Welt in der wir leben, uns auf verschiedene Weise bedrängt und bedrückt, da wir alle – wenn auch auf sehr verschiedene Weise – Gewalt erfahren haben und in zerstörerischen Lebensweisen verhaftet sind, fällt es ʋns selbst – wenn ωir ehrlich sind – unglaublich schwer, ʋns eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung vorzustellen.
Daher kann euch, die ihr aus verschiedenen Gründen Enttäuschungen erfahren habt, gesagt werden: Eure Enttäuschung ist notwendig. Sie ist notwendig, weil ωir den Schleier zerreissen und den falschen Schein durchschauen, weil ωir mit den Illusionen brechen müssen, denen wir alle unterliegen. Nur, wenn wir einen realistischen Blick auf die Dinge gewinnen, können ωir von ʋns ausgehend handeln. Nur, wenn unsere Zielvorstellungen keine Luftschlösser und Traumgebilde sind, können ωir die neue Gesellschaft aufbauen.
Nur, wenn wir unsere Geschichten kennen, können ωir uns als geworden, werdend und durch Zeit und Raum verbunden begreifen und gemeinsam echte Schritte in die lebenswerte Zukunft gehen. Nur, wenn wir unsere eigenen Sehnsüchte und Leidenschaften begreifen, werden ωir Verantwortung übernehmen und nicht anderen ʋnsere Ansprüche aufzwingen. Und schliesslich werden wir Herrschaft nur überwinden, wenn ωir ʋns nicht herrschaftsförmiger Mittel bedienen - dass heisst uns von der tief wurzelnden Annahme zu enttäuschen, ωir oder jemand anderes könnte „besser“ regieren.
Deswegen bitte, bitte, enttäuscht mich, raubt mir die Illusionen. Jeden Tag ein bisschen mehr. Damit ich atmen kann und nicht immer keuchen muss. Damit ich klarer sehen kann und nicht immer betrübt bin. Damit ich keine Kadaver mit mir herumschleppe, sondern Blumen der Hoffnung trage. Niemand von uns hat einen Masterplan. Niemand von uns kann einen Masterplan haben oder sich einen ausdenken. Den brauchen ωir auch nicht.
Denn jede*r von uns ist Expert*in für irgendetwas – nicht zuletzt für das jeweils eigene Leben, dessen Gestaltung und Sinnhaftigkeit uns selbst obliegt. Und weil Menschen heute ihre Leben – allerdings zu sehr unterschiedlichen Graden - nicht frei und selbst gestalten und sie mit Sinn erfüllen können, gilt es für jene Gesellschaftsform zu kämpfen, welche ausnahmslos und bedingungslos Allen die Ressourcen zur Verfügung stellt, dies in vollem Umfang und zum Nutzen Aller tun zu können. Der Weg um die Anarchie zu erkämpfen und einzurichten, anstatt bloss zu meckern, Recht zu haben, keine Zeit zu haben, harmoniesüchtig oder streitversessen zu sein oder schwarz-rote Gartenzwerge aufzustellen, besteht darin, dass ωir unser jeweiliges Handeln aufeinander beziehen.
Wer ist ωir?
Wenn ich bisher schon von einem „Wir“ gesprochen habe und es im Folgenden tun werden, so unterstelle ich damit nicht, dass es eigentlich „allen“ Menschen auf eine bestimmte Weise geht. Ebenfalls behaupte ich nicht, dass bestimmte soziale Klassen „objektiv“ bestimmbare Interessen hätten, die sie erkennen müssten oder könnten. (Wenngleich hier von einer fundamentalen Spaltung der Gesellschaft anhand mehrerer Antagonismen, mindestens von Herrschenden/Unterworfenen, Kapital/Arbeit, männlich/ nicht-männlich, nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit und menschlicher/nicht-menschlicher Lebenswelt ausgegangen wird.) Dennoch gehe ich damit von einer bestimmten Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Situation aus, die ich als begründbar, vernünftig, reflektiert und nachvollziehbar ansehe – und für deren Wahrheitsgehalt ich hiermit streite.Mit dem formulierten „ωir“ und „ʋns“ meine ich die handelnden Subjekte, welche diese Ansichten (potenziell) teilen und sich angesprochen fühlen. Ich meine damit dich und lade dich dazu ein, dich in diesem ωir zu assoziieren und es aktiv mitzugestalten. Womöglich tust du das schon längst. „ωir“ bedeutet nicht, dass es etwa eine einheitliche „anarchistische Szene“ gäbe, die ein solches Kollektivsubjekt darstellen würde. Überhaupt geht es gar nicht nur oder vor allem um sogenannte „Anarchist*innen“. Dieses strategische ωir beschreibt an dieser Stelle ein Interpretationsangebot, eine Perspektive.
Zu diesem ωir können sich alle assoziieren, die seine Grundlagen teilen und es mitgestalten wollen. Dass sich darunter keine Faschist*innen, Nationalist*innen, religiösen Fundamentalist*innen und Menschenfeind*innen, aber auch keine Kapitalist*innen zusammenfinden (können), versteht sich aus dem weiter Ausgeführten von selbst.
Mit einer anarchistischen Herangehensweise ist zu betonen, dass jegliches Kollektivsubjekt auf der Freiwilligkeit aller Assoziierenden beruhen und prinzipiell einen freien Austritt aus ihr ermöglichen muss. Sie darf nicht durch Zwang und Gewalt eingerichtet und aufrechterhalten werden. Hierarchien sollten reflektiert und auf ein Minimum reduziert werden. Dabei sind Hierarchien jedoch von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu unterscheiden, auch wenn beide in Wechselwirkung stehen. Nicht jede Autorität wird pauschal abgelehnt, solange dieser zugestimmt und sie auf eine bestimmte Zeit übertragen wird, sie zurückgenommen werden kann, sie sich auf eine Kompetenz oder ein Thema bezieht und sie keine Privilegien zur Folge hat.
Die Debatte eingehen
Für die notwendigen Weiterentwicklungen der Anarchie und ihre Verwirklichung braucht es viele Hände, Füsse, Bäuche und Münder. Wie gesagt, womöglich sind es gar nicht hauptsächlich jene, die sich selbst als Anarchist*innen verstehen und bezeichnen, welche entscheidende und umfassende Veränderungen Richtung Anarchie einleiten. Doch an ʋns ist es, Beispiele zu geben, Interpretationsangebote zu schaffen und den gesellschaftlichen Konfliktdynamiken die Tür in Richtung einer Welt der Freien, Gleichen, Solidarischen aufzustossen.Ein Ausbau und eine Stärkung des Anarchismus als Inspirationsquelle für soziale Bewegungen, kann nur durch eine Erneuerung der Denkweise und Theorie, mit funktionierenden Organisationskonzepten und der mühevollen Arbeit der kontinuierlichen und verbindlichen Organisierung, wie auch mit einer fortwährenden Diskussion um Ziele und Strategien gelingen. Auch ʋnsere eigene Ethik ist fortwährend zu vermitteln und neu auszuhandeln. Dieser Text beschäftigt sich vor allem mit dem Letzteren: Mit der Frage, wie ωir miteinander umgehen sollten, wenn ωir relevant, stark und schlagfertig werden wollen. Allerdings steht dies in einem direkten Zusammenhang mit ʋnseren Organisationsformen und ʋnseren Theorien.
Ausgangspunkt dieses Schreibens war für mich das Auftreten einer anarchistischen Gruppe, die anstrebt, eine plattformistische anarch@-kommunistische Föderation zu schaffen, wozu sie ihren Ansatz und ihre Inhalte zunächst verbreiten und Kontakte knüpfen möchte. Ihr Grundlagentext Über die Bedingungen, unter denen wir kämpfen und den Zustand der anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum – Die Schaffung einer revolutionären plattformistischen Organisation liest sich (für mich) wie ein Reenactment des ursprünglichen Plattformismus-Manifestes Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union von 1926. Daran ist meiner Ansicht nach nichts problematisch.
Manche Texte sind viele Jahre alt, dennoch bergen sie grosse Weisheit und können Menschen heute etwas sagen. Viele sind bei ihrem Erscheinen bereits veraltet oder kreisen sich um Probleme, die schon hundertmal besser besprochen wurde, auch wenn ihre Autor*innen so tun, als hätten sie etwas ganz Neues erfunden. Dies trifft auf die Plattform aber nicht zu.
Weil ich daran Lust habe, aber auch die Debatte darum wichtig finde, möchte ich selbst einen Antwortversuch auf den Plattformismus wagen, in dem ich passenderweise auf die klassische Position zurückgreife, die schon Sebastien Faure im Text Die anarchistische Synthese formuliert. Ich werde dies allerdings in einer Art indirekten Antwort tun. Anstatt mich einfach an diesen Texten abzuarbeiten, möchte ich eine andere Perspektive auf die Fragen entfalten, die sie meiner Ansicht nach beinhalten.
Steht der Plattformismus für die Suche nach Einheit, Struktur und Klarheit, thematisiere ich diese als die Sehnsucht nach Einheit, Struktur und Klarheit. Ich versuche mich also – mit meinen eigenen Erfahrungen – in diese Position hineinzuversetzen und nach den Ursachen dieser Sehnsucht zu fragen. Denn aus einer Analyse folgt noch nicht automatisch eine bestimmte Handlungsweise. Beidem möchte ich nachgehen. Weil meine Überlegungen eine Art Spiralbewegung nehmen, kannst du auch in ihnen springen und schauen, womit du selbst etwas anfangen kannst.
Wenn es sich dabei um eine reine Gedankenspielerei oder lediglich um eine rhetorische Umformulierung des Textes handeln würde, so würde ich trotz vielleicht geschwungener Sprache, eigentlich nur tote Buchstaben aneinanderreihen. Sie mögen so schön wie ein verwilderter Friedhof oder aus Stein gehauene Skulpturen sein – wirklich verändernd könnten sie nicht wirken.
Allerdings gründen sich meine Überlegungen auf konkrete eigene Erfahrungen, über die ich viel reflektiert habe. Wie alle Erfahrungen bilden meine nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit ab und sind ferner auf eine ganz bestimmte Weise interpretiert. Wenn es Menschen geben sollte, die sie möglicherweise teilen, dann erreiche ich sie wohl am ehesten genau hier, an dieser Stelle.
Sinnvoll ist es, sich ab und zu in derartige Debatten zu begeben, wenn sie nicht abstrakt bleiben, sondern mit dem zu tun haben, was ʋns wirklich bewegt. Bestimmte Diskussionen wurden in anarchistischen Kreisen immer wieder geführt, weil diese zu weiten Teilen eine Art Jugendbewegung darstellte und es selten gelingt, ihren Träger*innen Kontinuität zu verleihen. Weil es sich oft um „Szene“ handelt, die sich dazu noch gelegentlich klandestin organisiert (und öfter so tut, als wäre sie es), besteht leider auch nur bei einigen Leuten das Interesse, die eigenen Inhalte und Denkweisen an Aussenstehende zu vermitteln.
Menschen tun so, als hätten sie eine bestimmte Bewusstseinsstufe erreicht - mit der sie eigentlich vor allem ihr Zugehörigkeitsgefühl bestätigen wollen. Dabei vergessen sie die banale Tatsache, dass es für die meisten von ihnen ein langer Prozess war, zum Anarchismus zu finden - und dann auch länger dabei zu bleiben. Dies konnten sie lediglich, weil sie inspirierende Menschen trafen, von denen sie lernen und mit denen sie sich auseinandersetzen konnten. Und sie konnten es nur, weil sie sich auf verschiedene Weise mit anderen zusammenrauften und organisierten – sei es als soziale Bezugsgruppe, offene politische Gruppe, in einem Arbeitszusammenhang, als sonntäglicher Kaffeeklatsch, autonome Gruppe oder bei der Kinderbetreuung. Dass Ausbalancieren des Verhältnisses der jeweiligen Einzelnen zur Gruppe und ihre wechselseitige Weiterentwicklung stellt eine dauerhafte Herausforderung dar.
Weil sich die Einzelnen in diesen Zusammenhängen weiterentwickeln und sich auch die Umstände, unter denen sie agieren ändern, sind bestimmte Grundfragen deswegen immer wieder neu zu klären. Daher ist es immer begrüssenswert, wenn grundsätzliche Fragen aufkommen, egal welches Thema sie betreffen. (Allerdings gibt es auch einen Unterschied zwischen Grundsatzfragen und permanenten Selbstzweifeln.) Grundsatzfragen zu klären ist absolut notwendig.
Einerseits, damit politisch aktive Menschen nicht in ihrer Praxis stagnieren, ihre eigenen Bedürfnisse nicht auf problematische Weise zurückstellen, ausbrennen oder zynisch werden.
Andererseits sollten Grundsatzfragen besprochen werden – und das ist die Kehrseite – damit Leute nicht völlig unverbindlich und unzuverlässig bleiben, es mit einem gesteigerten Aufmerksamkeitsbedürfnis nicht schaffen, die anderen zu sehen (das heisst auch: sich mal zurückzustellen) und damit sie anderen nicht ihre Vorstellungen und Ansprüche aufzwingen (und die Gruppe verlassen, wenn sie sich nicht durchsetzen).
Es liegt im Wesen der Sache, dass es dabei nicht darum geht, ein fertiges Programm als Stein der Weisen zu finden und sich auf irgendwelche Dogmen festzulegen. Weil ωir unheimlich viel voneinander und selbstverständlich auch von anderen lernen können, ist es allerdings wichtig, – ganz von ʋns ausgehend – zu definieren und zu beschreiben, von was ωir eigentlich reden, wenn ωir zum Beispiel sagen: „Herrschaft“, „gegenseitige Hilfe“, „Dezentralität“ oder „Gefährt*in“? Was meinen ωir, wenn wir sagen: „Staat“, „Anarchismus“, „Politik“ oder „Bedürfnis“? Nein, das ist nicht sowieso klar. Es wäre auch ein Wunder, wenn ωir genau die selben Ansichten über diese Dinge hätten. Um sich solche Fragen zu stellen, braucht niemand zu studieren. ωir können das ganz von ʋns ausgehend machen, indem ωir unsere Gedanken, Assoziationen, unser Wissen, unsere Gefühle teilen.
Übrigens: Selbstverständlich geht es nicht darum, eine Gruppe zu gründen und erst mal ein halbes Jahr oder zwei Jahre über diese Themen zu sprechen, „bevor“ wir dann praktisch werden können. Im Gegenteil, ωir sollten uns zusammenfinden anhand des Kontextes in dem ωir leben, über die Themen, die ʋns verbinden und über die Sympathien (oder Affinitäten), die zwischen ʋns bestehen - die ωir auch entwickeln können. Ja, ωir sollten erst mal „was machen“ und dann schauen, was das mit ʋns macht, auf welche Probleme und Missverständnisse ωir stossen und welche Positionen ωir im Einzelnen zu bestimmten Dingen beziehen. Grundsatzdebatten sind wichtig. Aber wie alles andere haben sie ihre Zeit.
Weder dürfen ωir ʋns in ihnen verfangen bis der vermeintlich „richtige Weg“ gefunden ist (was höchstens bedeuten könnte, dass sich Einzelne mit ihren Ansichten durchgesetzt haben). Noch sollten ωir sie fortwährend vermeiden, aus Angst, mensch könnte sich darüber zerstreiten oder aus Genervtheit über die Ansichten anderer, beziehungsweise aufgrund der immer falschen Annahme, „es wäre doch sowieso alles klar“. Denn das ist es nicht. Wir sollten miteinander reden – ehrlich, offen, direkt, doch immer solidarisch und respektvoll.
Bestandsaufnahme aus der Vogelperspektive
Wir leben im Zeitalter der Apokalypse. Die Apokalypse ist allerdings kein grosser Knall oder der spektakuläre Zusammenbruch mit Katastrophen, Mutanten, knappen Lebensmittelvorräten, Raumschiffen, die einen winzigen Teil der Erdbevölkerung retten und einem Pärchen, dass am Ende zusammenfindet und eine neue Menschheit begründet, wie uns die Bibel oder Hollywood weismachen wollen. Ausserdem ist die Apokalypse menschengemacht. Sie ist nicht unaufhaltsam und bricht nicht über uns hinein, sondern wir leben täglich in ihr und mit ihr.Um die globale Situation zu beschreiben, liefere ich an dieser Stelle keine Analyse, sondern belasse es bei bekannten Schlagworten: Lohnsklaverei, Sklaverei und Zwangsprostitution; Klimawandel, Ölkatastrophen, Atommüll, Plastikmeere, genetisch manipulierte Lebewesen und Tierausbeutung; Patriarchat und die fortbestehende Vorherrschaft des „weissen Mannes“; Verdummung, Verblödung, Verwirrung und „Unterhaltung“ der Leute; Ellenbogenmentalität, Grausamkeit, Narzissmus und Depression; offene oder verdeckte Kriege zur Behauptung von Staaten und Interessengruppen in der globalen Hackordnung; der Verfall kommunaler Infrastruktur bei gleichzeitiger Investition in neue Herrschaftstechnologien und den Ausbau der Überwachungs- und Repressionsapparate. ~ Dies sind nur einige Stichworte der irrwitzigen Situation in der wir lange schon leben, bei der sich jedoch kein Ende abzuzeichnen scheint, was uns wiederum umso kränker macht.
Für Menschen in den privilegierten Teilen der Welt – sei es den „westlichen“ Industrienationen, deren ungeheurer Reichtum auf globaler Ausbeutung, Raub und Kriegsführung beruht, sei es bei den Oberschichten aller möglichen Länder – mag es soweit noch ganz gut laufen. Rein materiell gesehen sogar besser, denn je. Global gesehen steigen auch viele Menschen in „Mittelschichten“ auf, kommen also gerade erst in den „Genuss“ einer zerstörerischen imperialen Lebensweise.
Sie kaufen sich fröhlich SUVs und teure Wohnungen in den Innenstädten der Metropolen, die sie leer stehen lassen, reisen in Urlaubsparadiese und zu Meetings, schliessen Lebensversicherungen ab, lassen neue Kameras an ihren Villen anbringen, eröffnen ein neues Schwarzgeldkonto in der Schweiz oder auf den Bahamas und investieren in was eben gerade so geht – den digitalen Wandel der Produktion und Arbeitswelt, Waffen oder Schweinebäuche. Sie leben nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ und tun doch alles daran, ihre Privilegien juristisch, militärisch, politisch, physisch und durch Mythologie abzusichern. Sie zu enteignen und zu entmachten ist die Herausforderung, der nur strukturell begegnet werden kann - und die dennoch kaum ohne Blutvergiessen ablaufen wird.
Doch jeden Tag sterben Menschen an Hunger, heilbaren Krankheiten, verseuchtem Trinkwasser, im „asymmetrischen“ oder Drogen-Krieg, auf der Flucht, durch patriarchale, sexistische, rassistische, antisemitische oder homophobe Gewalt, durch Terror – ob staatlich oder quasi-staatlich. Der physische Tod ist dabei nur das äusserste Kennzeichen der barbarischen weltweiten Herrschaftsordnung, der wir unterworfen sind. Alles andere ist Leid. Leid, dass sich Menschen innerhalb dieser Konkurrenzgesellschaft und den Gewaltverhältnissen, unter denen sie zu leben gezwungen werden, sogar dauernd gegenseitig zufügen.
Leid, das immerfort gerechtfertigt wird, welches als „natürlich“ oder selbstverschuldet dargestellt werden muss. Leid, das aus dem einzigen guten Grund abgeschafft gehört: Weil es möglich ist, es abzuschaffen. Weil Menschen die technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Mittel dazu haben, die so weit reichen, dass sie selbst den Planeten nicht weiter zerstören müssten, um dies möglich zu machen. So wie vor vielleicht 200, mindestens aber 100 Jahren, sind auch heute mehr als genug Dinge da, um allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Kannibalismus zu ermöglichen. Ängste vor Armut, sozialer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, die mit Wohltätigkeit abgemildert, durch die Unterhaltungsindustrie und sinnentleertem Konsum kompensiert und somit aufrechterhalten werden, sind zwar Folgen der Herrschaftsordnung, dienen zugleich jedoch auch ihrer Verfestigung.