Grenzregime und Nationalismus Gefangen in Raum und Zeit
Politik
Wenn man heute eine antinationale Position bezieht, wird dies als „utopisch“ kommentiert. Dies sogar von Menschen, die sich als „anti-autoritär“ verstehen.
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1. Januar 2024
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Ebenso fast versiegt ist das Wissen darum, dass es eine breite Abwehr gegen die Etablierung des Nationalstaates durch die einfache Bevölkerung gegeben hat. Nationalistische Einschläge kamen also erst später in sozialistische Bewegungen hinein, welche sich ursprünglich gleichermassen regionalistisch wie transnational verstanden.
Handelt es sich bei antinationalen Positionen dennoch um ein Phänomen der Vergangenheit, dass unter zeitgenössischen Bedingungen als „utopisch“ im Sinne einer Rückprojektion auf eine vermeintlich bessere und eindeutigere Vergangenheit für emanzipatorische Kräfte gelten muss? Ich denke nicht. Vielmehr meine ich, dass Millionen von Menschen täglich erfahren, wie menschenverachtend, grausam und tödlich nationalstaatliche Grenzen tatsächlich sind. Weltweit werden und wurden Mauern und Zäune hochgezogen in den letzten Jahren. Aktuell wird z.B. die Grenze zwischen Polen und Belarus weiter ausgebaut, um Migrant*innen an der illegalisierten Einreise in die Festung Europa zu hindern.
Die Bestrebung, Grenzen zu schleifen, das Grenzregime zu überwinden und den Rassismus zu bekämpfen, welcher durch die physische Abgrenzung nicht hervorgebracht, aber enorm gefördert wird, ist somit kein blosser Wunschtraum, keine Utopie im abstrakten, schlechten Sinne. Sie ist aber eine konkrete Utopie in Hinblick auf eine geteilte Vision für eine grundlegend andere Gesellschaftsform. Diese kann man auf einen zukünftigen Zeitpunkt verschieben, an welchem die Bedingungen für vermeintlich derart ambitionierte Bestrebungen dann gegeben wären. Man kann aber auch aus der Geschichte lernen und begreifen, dass es so einen Zeitpunkt nie geben wird.
Mit anderen Worten beeinflusst die Sehnsucht nach einer grenzenlosen Welt, die Ausrichtung und das Handeln von uns im Hier und Jetzt. Lassen wir uns von der überall aufkommenden nationalistischen, militaristischen und fatalistischen Propaganda berauschen und einfangen? Beugen wir uns den vermeintlichen Sachzwängen, nach denen es aktuell die bittere Pille des weltweit zunehmenden Nationalismus zu schlucken gälte, um unsere Anliegen auf den Sankt Nimmerleins-Tag zu verschieben? Oder orientieren wir uns heute nach dem, was sich anzustreben lohnt, weil es wahrer und besser ist: Eine Welt ohne Nationalstaaten und Kapitalismus, in denen sich autonome Kommunen miteinander föderieren und einen dezentralen Sozialismus verwirklichen?
Ein grosser Teil der gegenwärtigen Linken scheint vollkommen gefangen in Zeit und Raum zu sein, scheint weder historisches Bewusstsein noch utopische Sehnsucht zu kennen. Diese Elemente könnten Anarchist:innen in soziale Bewegungen hineintragen, damit Initiative ergreifen und sich als Akteur:innen ermächtigen, statt getrieben hinterher zu laufen und panisch hin und her zu irren. Die Reaktionen der deutschen Linken während der Pandemie haben auch hinlänglich gezeigt, dass sich ein grosser Teil von ihnen bereitwillig dem Regierungshandeln unterwirft, wenn dieses sich als „solidarisch“ labelt – weil sie selbst ein solches Regieren anstreben.
Verständlicherweise erscheint das Bestreben nach der Überwindung der bestehenden Herrschaftsordnung „unrealistisch“, wenn man dies in beschränkten Kategorien reformerischer Politik misst. Umso mehr sollte unser alltägliches Handeln im Hier&Jetzt an einer Vision ausgerichtet sein, mit welcher die objektiv schlechten Bedingungen verlassen werden. Die Herausbildung utopischer Sehnsucht entgegen Sachzwangnarrative, pädagogischer Verbildung und kulturindustrieller Verblödung, bleibt damit eine ganz wesentliche und konkrete Aufgabe, welche Anarchist:innen zukommt. Das ist keine Frage einer ungeahnten Zukunft. Den meisten Menschen heute ginge es besser, wenn Grenzen geschliffen und nationalstaatliche Zugehörigkeiten aufgehoben werden würden. Voraussetzung dafür ist, uns angefangen bei unserem Bewusstsein von ihnen zu lösen.