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Globale Dörfer: Versuch einer konkreten Utopie in einer Zeit der Ratlosigkeit

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Versuch einer konkreten Utopie in einer Zeit der Ratlosigkeit Globale Dörfer

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Politik

Die „rücksichtslose Kritik der bestehenden Verhältnisse“ birgt wenn nicht gleichzeitig eine positive Gegenvision sie begleitet, die Gefahr in unbestimmter bis destruktivistischer Negation zu enden.

Glocke des Architekturvisionärs Paolo Soleri.
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Glocke des Architekturvisionärs Paolo Soleri. Foto: cogdogblog (PD)

Datum 16. September 2024
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Umgekehrt kann eine utopische Zukunftsfantasie ohne kritische Analyse der Gegenwart schnell unglaubwürdig und weltfremd erscheinen. Meine These: Gerade in der Verbindung von schonungsloser Gesellschaftskritik und imaginativer Utopie liegt eine enorme schöpferische Kraft. Wenn sich diese beiden Pole gegenseitig ergänzen und inspirieren, kann daraus jener produktive Widerspruch entstehen, der echte Veränderungen anstösst. Utopien können und sollen Wegweiser und Orientierung sein, Potentiale und Bedürfnisse artikulieren und das Zusammenwirken verschiedenster verdrängter und unterdrückter Energien und Potentiale antizipieren. Wenn sich zur kritischen und zur visionären Intelligenz auch noch eine pragmatische Intelligenz als dritter Pol gesellt, dann können die Veränderungen Bestand haben.

Insoferne folge ich gerne der Einladung, die in meinen letzten drei Beiträgen erwähnte und angekündigte Vision der Globalen Dörfer hier in Umrissen darzustellen, als ernsthaften Gegenentwurf zu einer zunehmend katastrophischen Entwicklung und als bestimmte Negation der „Zeitenwende“ zum „kybernetischen Kapitalismus“ und seiner Auswüchse in Biopolitik und Geopolitik, informationsflutender Propaganda und kontrollträchtiger Digitalisierung – Dinge die uns gegenwärtig überrollen wie eine veritable Revolution von oben und deren Kritik ich hier als geklärt unterstelle.

Dagegenhalten gegen diese Flutwelle bedeutet nicht eine beliebige Erzählung einer möglichen Zukunft zu liefern, sondern es ist nichts weniger als die Suche nach der nachhaltigen Kombination unserer besten Möglichkeiten, die in der Vision zum Ausdruck kommen soll. (Übrigens: was ich hier schreibe ist in 45 Stunden Radiosendungen detailliert dargestellt worden und soll demnächst ein Buch werden.)

Dabei geht es um alles andere als eine präskriptive technokratische Einheitsvision. Wenn etwas nach all den Erfahrungen der letzten hundert Jahre eine mögliche Zukunft denkens- und lebenswert macht, dann ist es gerade ein dringend benötigter Rahmen für kulturelle Unterschiedlichkeit und reale Freiheit, Formenreichtum und Kreativität, Eigensinn und Autonomie, der mit einer kooperativen Grundstruktur harmoniert. Daher kann auch keiner „bedürfnisorientierten Versorgungswirtschaft“ das Wort geredet werden wie etwa bei Alfred Fresin in seinem gleichnamigen Buch.

Das Prinzip der Arbeitsteiligkeit trägt immer das Kainsmal wechselseitiger Instrumentalisierung, Abhängigkeit und subtiler Erpressung hinter der Fassade produktiver Rationalität, schafft und erhält Ungleichheit und Machtgefälle. Auszugehen wäre eher von eine Renaissance der Eigenarbeit, verbunden mit den neuen Potentialen der Technologie und einer Orientierung am Kreislauf der Natur. Das bedeutet, dass ein solcher Rahmen prinzipiell und beständig der normativen Prüfung und der kulturellen Formbestimmung durch autonome Subjekte ausgesetzt sein muss.

Gerade in einer Zeit, in der sich der verhängnisvolle Gehalt von scheinbar neutralen und zustimmungsheischenden Begriffen wie „Fortschritt“, „Nachhaltigkeit“, „Solidarität“ und vielen anderen Sprachdenkmälern offenbart, brauchen wir eine Vorstellung beziehungsweise den Entwurf einer Welt, in der es maximalen Raum für Dissens gibt. Der Ideologieverdacht gegen den ontologischen Primat von „Gesellschaft“ besteht zu Recht – wahrscheinlich leiden wir an einem Zuviel davon. Kooperationen müssen prinzipiell aufkündbar sein, wie Christoph Spehr in „Gleicher als andere.

Eine Grundlegung der freien Kooperation“ gezeigt hat, aber das kann nicht die ganze Lösung sein, denn Verlässlichkeit von Beziehungen ist umgekehrt ebenso essentiell. Dass es diese Quadratur des Kreises aber gibt und dass sie in der Strukturierung des Raumes eine Basis findet, wird hier zu zeigen sein.

Genug der Vorrede, gehen wir zum Gegenstand oder vielleicht besser zur Idee der Globalen Dörfer selbst. Es gibt ein Leitmotiv in dieser visionären Erzählung über eine friedliche und lebendig gedeihende Welt kooperierender Gemeinwesen. Es ist dies die Idee der „grossen Implosion“, die nach Eric und Marshall McLuhan („Laws of Media“) unsere Epoche trotz allem charakterisiert.

Die weltweite elektronische Kommunikation mit ihren logischen Folgeerscheinungen der dezentralen Automation und Zugänglichkeit jedweder Information bringt es mit sich, dass alle möglichen Kompetenzen und Machbarkeiten überall zugleich entstehen. Die McLuhans kleideten das in das Bild eines Planeten, der sich quasi hundertfach, tausendfach vergrössert. Während alle bisherigen technologischen und medialen Fortschritte und die ihnen folgenden Aufschwünge unwillkürlich in einen Expansionsdrang mündeten, mit Kriegen und Erschütterungen im Gefolge und einem gewaltträchtigen Akkumulationszwang, sei es nun, in der „ersten globalen Renaissance“, grundsätzlich anders.

Die Globalisierung von Wissen und Information bringe es mit sich, dass sie in eine noch nie dagewesene Renaissance des Lokalen umschlagen müsse. Die Umkehrung unserer Anstrengungen in die Richtung geteilten Wissens, um das Lokale überall zum Blühen zu bringen – was von Stefan Meretz das „Auskooperieren“ (keimform.de, 17.3.2008) der Konkurrenzwelt genannt wurde – steht im Zentrum der Vision.

Einen ähnlichen Gedanken hat der Architekturvisionär Paolo Soleri in „Technology and Cosmogenesis“ als den evolutionären Doppelschritt von Zunahme an Komplexität und Miniaturisierung beschrieben. „Small is beautiful“ heisst es bei Kohr und Schumacher, aber dieses „small“ ist ein angereichertes, kondensiertes. Genau das drückt der Begriff „Globale Dörfer“ aus. Eine Welt voller autarker Lebenswelten, die jede auf ihre eigene Art auf den gemeinsam gepflegten Fundus globaler Gestaltungsmuster zurückgreifen.

Dabei kommt es darauf an, eine Kohärenz von Mustern zu identifizieren, die einander verstärken und tragen. Systemzusammenhänge und Gesellschaftsformationen wuchsen ja schon immer aus solchen Kohärenzen, die stofflich-materielle mit technischen und soziokulturellen Mustern verbanden. Die Vision der Globalen Dörfer besteht aus vielen Arten von solchen Mustern aus verschiedenen Grundperspektiven, die gemeinsam Kraft und Lebendigkeit generieren.

Erste Perspektive: Der Raum

Das paradigmatische Werk für die Explikation einer solchen transdisziplinären Kohärenz ist Christopher Alexanders „Mustersprache“, die zwar im Kern Probleme und Lösungen im Bereich der Architektur thematisiert, aber zugleich sich nicht scheut, soziale, politische und kulturelle Fragen und Probleme zu thematisieren, die sich im Lauf der Geschichte in verschiedenster Form gezeigt haben und sie mit bewährten Gestaltungsmustern zu konfrontieren, die weit in die Zukunft Relevanz haben dürften.

Gerade in Bezug auf die Raumperspektive finden sich hier fundamentale Argumente, die allesamt aus Alexanders Engagement für wirkliche Partizipation im Planungsprozess herrühren. So scheut er sich nicht, am Beginn seines Werkes einen Ersatz von Nationalstaaten durch „Unabhängige Regionen“ vorzuschlagen, weil nur so die Rahmenbedingungen für ganzheitliches Handeln, Mitbestimmung und Selbstorganisation gegeben seien. Er spricht sich darüber hinaus gegen Stadtwachstum und Landflucht aus und für eine Intensivierung der Mensch-Natur-Beziehung.„Liegt der Bevölkerungsschwerpunkt einer Region zu sehr bei den kleinen Dörfern, kann sich die moderne Zivilisation nie durchsetzen; liegt aber der Schwerpunkt zu sehr bei den grossen Städten, wird die Erde zugrunde gehen, weil die Bevölkerung nicht dort ist, wo sie sein müsste um sie zu pflegen.“ (MS, Muster 2, Absatz 1)

Stadt und Land müssten wie Finger ineinander greifen, und die Kulturlandschaft sei als ganzheitlicher Lebensraum zu gestalten: „Es gibt keine Parks, keine Farmen, keine unerforschte Wildnis. Jedes Stück Land hat Hüter, die das Recht haben, es zu nutzen, wenn es bebaubar ist, oder die Verpflichtung, es zu pflegen, wenn es wild ist. Und jedes Stück Land ist im Allgemeinen für die Menschen offen, solange sie die organischen Prozesse, die dort vor sich gehen, respektieren.“ (MS, Muster 7, Absatz 4)

Die Vision der Globalen Dörfer kann daran anknüpfen: In der Tat ist das zweite Essential der Vision Globaler Dörfer die bewusste Umkehrung des Stadtwachstums und das aktive Engagement der mit Wissen, Können und Werkzeugen ausgestatteten Gemeinschaften für das Netzwerk des Lebens. Städtische Errungenschaften wie Dichte und kulturelle Vielfalt sind nicht gegen diese Naturbeziehung auszuspielen, sondern in einer neuen räumlichen Synthese unter einen Hut zu bringen.

In einem Report der UN-Abteilung DESA (Department for Economic and Social Affairs) wird der Begriff der „In Situ Urbanisation“ gebraucht – „ein Modell der ländlichen Entwicklung, bei dem die wesentlichen ländlichen Merkmale bestehen bleiben, während der Lebensstandard auf das städtische Niveau ansteigt“. (UN DESA 2021) Ganz im Gegensatz zum neomalthusianischen „Depopulismus“ – also der verrückten Idee, dass zu viele Menschen die Welt bevölkern – ist tatsächlich das Potential und die Tragfähigkeit unseres Planeten weitaus grösser als derzeit benötigt, wenn wir unsere Lebensweise ändern, ohne Lebensqualität zu verlieren.

Gestaltungsmuster die hier ihren Platz haben sind: neue Kleinstadt, Landstadt, multifunktionelle, synergetische Lebendigkeitszentren, Themendörfer, Stadthügel. Aber es geht um viel mehr: Anstatt sich weiterhin exklusiv in den hochgezüchteten Wirtschaftskampfmaschinen der modernen Städte zusammenzuballen und zu verbunkern, breiten sich die Menschen in kleineren Einheiten über die ganze Oberfläche des Planeten aus, Einheiten, die von ihrer Konzeption her stationäre, hochentwickelte, quasi-organische Gebilde sind, die von ihrer Logik her eher Pflanzen gleichen, Stadtpflanzen, Dorfplanzen, die mit Boden und Sonne verbunden sind, mit Techniken, die Wurzeln und Blattwerk ähneln, und die gleich den Pflanzen – und in Gemeinschaft mit ihnen – die stofflichen Grundlagen unseres Lebens synthetisieren.

Zweite Perspektive: Materia Nova

Je mehr wir über die Funktionsprinzipien der Natur lernen, desto mehr konvergiert unsere Technologie mit den Entwicklungen, die die Evolution über Milliarden Jahre hinweg hervorgebracht hat. Die Zukunft gehört daher einer „biomimetischen“ Technologie, welche nicht nur die bewährten Baupläne der Natur nutzt und weiterentwickelt, sondern auch das enorme Potential zu nutzen versteht, das in den Werkstoffen der belebten Welt selbst liegt. Seien es Textilfasern, seien es verschiedenste Baustoffe, resistente Oberflächen, neue Formen der Energiegewinnung aus der Sonne und so weiter – eine „Grüne Chemie“ löst die fossile ab.

Alle möglichen Produkte werden ressourcenschonend mittels 3D-Druck aus biogenen Materialien hergestellt. Abfälle gibt es nicht, alles wird wiederverwertet beziehungsweise regeneriert. Architektur drückt diese Symbiose aus Hightech und Naturnähe auf vielfältige Art und Weise aus. Die Serie „Wunderstoffe“ auf dem Sender ARTE gab einen Vorgeschmack auf diese Vielfalt – untersuchte Materialien, die das Potenzial haben, die Art und Weise, wie wir bauen und leben, zu revolutionieren – vom „denkenden Beton“ über das „transparente Holz“ zu den immensen Potentialen von Hanf, Pilzen, lebenden Brücken und vielem anderen mehr.

So entsteht eine Symbiose zwischen Mensch und Natur, eine neue, nie dagewesene Form der Kulturlandschaft. Die alte Trennung zur reinen Wildnis löst sich auf. Wir sind eins mit der belebten Welt, die uns trägt und nährt. Und dieses neue Verständnis prägt auch unseren Umgang mit ihr. Wir gestalten unsere Umwelt achtsam, als Teil eines grösseren, lebendigen Netzwerks. So können wir den ganzen Planeten in diese einzigartige menschlich-natürliche Kulturlandschaft verwandeln, die einen sehr viel umfassenderen Bezug zwischen menschlichen und natürlichen Infrastrukturen herstellt – und daher auch immer die Einzigartigkeit des Ortes, den genius loci ausdrückt.

Dritte Perspektive: Technik

Es kann nicht genug betont werden, dass die „kybernetische Gesellschaft“, sprich die digitalen Technologien, die sich derzeit in den Händen einer unheiligen Allianz aus staatlicher Herrschaft und Privatmacht des Geldes befinden, daraus befreit und in einer völlig anderen Form entwickelt werden müssen, um die Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Die Digitalisierung ist dafür in dreierlei Hinsicht essentiell:

Zum Ersten verbindet sie Menschen weltweit für Wissensaustausch, Innovation und Kollaboration. Digitale Plattformen und Entwicklernetzwerke erlauben es, Ideen und Designs global zu teilen. Sie sind das Repositorium der Möglichkeiten und Entwürfe, das sich ständig erweitert. Sie enthalten idealiter das allgemeine Resultat aller menschlichen Arbeit, inklusive auch der Arbeit an der Arbeit, an Prozessen und Verfahren. Sie sind daher auch die Grundlage von Lernen und Bildung. So wie jedes Dorf früher eine Kirche im Mittelpunkt hatte, so wird die digitale Technologie ein Gebäude des Zugangs zum Wissen der Welt schaffen, zu allen kulturellen Möglichkeiten und Perspektiven. Das „globale Dorf“ ist eben auch durch diesen Zugangs- und Lernort charakterisiert.

Die Digitalisierung ermöglicht dezentrale Produktion durch digitale Fabrikation und 3D-Druck. Komplexe Gegenstände können so vor Ort hergestellt werden, eingebettet in stofflich-regenerative Prozesse, völlig emanzipiert von der ständigen Beschleunigung der Industrie, sondern eingebettet in eine Zeitstruktur, die Qualitäten braucht. Myriaden von biomimetischen „Samenkapseln“ lösen metaphorisch gesehen die Fliessbänder ab, und tatsächlich werden biologische und digitale Technologien zusammenwachsen. Die dezentralisierende Tendenz der solaren Energiegewinnung und verwandter Technologien ist eine unabdingbare Voraussetzung dieser Entwicklungen.

Die digitale Simulation ermöglicht es aber auch, einen komplexen Kreislauf aller stofflichen und energetischen Prozesse vor Ort abzubilden, was nicht einfach nur der Übersicht und Steuerung dient, sondern auch und vor allem der Abstimmung vorhandener Möglichkeiten mit menschlichen Bedürfnissen und allen möglichen strukturellen Erfordernissen. Das Geld als Medium des gesellschaftlichen Verkehrs und der Wert als Demiurg der wechselseitigen Ignoranz können erst dann verschwinden, wenn Kreisläufe ex ante abgebildet und verhandelt werden können und umfassende Kommunikation an die Stelle des Marktes tritt. Das gilt auch, wenn diese Kommunikation ganz entscheidend von der Grösse und der Flexibilität der sozialen Einheiten bestimmt wird, in und zwischen denen sie stattfindet. Das Leben als beständiger Prozess von immer neuer Anpassung und der Herstellung von Verlässlichkeit. Wie immer die Sache mit der Künstlichen Intelligenz weitergeht, hier wäre wohl der sinnvollste Platz für sie.

Vierte Perspektive: Das Soziale

Es ist schon angedeutet worden: Unsere gegenwärtigen Sozietäten sind nicht das Resultat freier Assoziation, sondern eines des explosionsartigen Weiterwucherns von sesshaften Lebensweisen hin zur globalen Megamaschine, in denen sich gesellschaftliche Zwänge in einem Wettbewerb von Machtapparaten historisch entwickelt und perfektioniert haben. Die Geschichte der Menschheit war bisher durch das Wachstum riesiger Agglomerationen geprägt, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Nun eröffnet die Technologie erstmals die Chance, bewusst kleinteiligere und naturnähere Lebensweisen zu wählen – und so die Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren. Doch kleinteilig bedeutet nicht unbedingt, die herkömmliche Beschränktheit der Sozietäten auf Abstammung und Herkommen fortzuführen. Ganz im Gegenteil. Das Prinzip der Globalen Dörfer ist die Wahlverwandtschaft. Das Netz, das die ganze Welt umfasst, schafft die Grundlage des Zusammenfindens der Gleichgesinnten, wie David de Ugarte schön beschriebt:

„Die Vergesellschaftung via Internet nimmt die Form eines grossen Meeres von Gemeinschaftsblumen an. Die Blogosphäre selbst ist ein Ozean von Identitäten und Gesprächen in ständiger Kreuzung und Veränderung, aus denen in regelmässigen Abständen die grosse gesellschaftliche Verdauung stabile Gruppen mit ihren eigenen Kontexten und spezifischem Wissen herausdestilliert. … Diese Gesprächsgemeinschaften, die sich ab einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung herauskristallisieren, … beginnen in die Realität überzugehen, gegenseitiges Wissen unter ihren Mitgliedern zu generieren, was sie für diese immer mehr identitär wichtiger macht als das Traditionelle der imaginären Gemeinschaften, denen sie angehören (Nation, Klasse, Gemeinde usw.) ganz wie eine echte Gemeinschaft (Gruppe von Freunden, Familie, Gilde usw.).“ (PHYLES,p.103f)

Es gibt eine wachsende Anzahl von Versuchen, das Funktionieren einer solchen auf überschaubaren Gruppen basierenden „holarchischen Welt“ zu begreifen. Auch wenn wir mit unseren Sozietäten auf Grundlage der „grossen Implosion“ ins Kleine gehen können, auch wenn wir die gewaltsame Klammer der Nationalstaaten in Frage stellen, bedarf es doch einer Fülle von nicht nur regionalen, sondern globalen Arrangements. Eine hochgradig vernetzte Welt verbindender Infrastrukturen hat uns erstmals mit völlig neuen Möglichkeiten des Zusammenwirkens konfrontiert, so wie wir erstmals die Bilder unseres Planeten aus dem Weltraum sahen. Die Erhaltung und der Ausbau dieser Infrastrukturen der Globalen Kommunikation und Kooperation bei Ausschluss jeder als Technik maskierten kulturellen oder politischen Dominanz sollte daher das erste Lebensinteresse jeder einzelnen Gemeinschaft sein, egal wie hoch ihr Autonomiegrad auch immer sein mag. Wir sind ein planetarer Organismus – ob wir es wollen oder nicht.

Als Referenzbeispiel für einen solchen freiwilligen Zusammenschluss kleiner Einheiten könnte die Schweiz dienen, die weder eine gemeinsame Kultur noch Sprache brauchte um in ihrer Zeit ihre Unabhängigkeit von den Grossmächten zu erkämpfen. Und was die Struktur der Entscheidungsfindung anbelangt, so lehrt uns z.B. das indianische Medizinrad, die Gegensätze und Polaritäten zum Ausgangspunkt der Integration zu machen statt das Spiel von Mehrheit und Minderheit.

Die Steigerung der Fähigkeiten aller bei Maximierung der Unabhängigkeit aller wäre tatsächlich leitendes Prinzip unserer Vision.

Fünfte Perspektive: Kultur und Sinn

Eingangs wurde in Kritik an Christoph Spehr eine Auflösung des Widerspruches zwischen Freiheit des Verlassens und Notwendigkeit der Existenz von verlässlichen Kooperationen gefordert. Jene unaufgelöste Paradoxie ist in der Vision der Globalen Dörfer der Ausgangspunkt, die Ko-Existenz einer möglichst grossen Vielzahl an gelebten und lebbaren Kulturen zu fordern, zwischen denen Individuen eine „Abstimmung mit den Füssen“ vornehmen können. Kein Mensch gehört einer Kultur, und doch ist das Verlassen einer Kultur nur mit dem Eintritt in eine andere sinnvoll. Dies in diversen Räumen umzusetzen und zu manifestieren wird wohl unser grösster planetarer Reichtum sein. Und die Lösung des alten philosophischen Rätsels von Freiheit und Gleichheit.

Sechste Perspektive: Evolution

Viele Fragen bleiben offen. Eine davon: Ist das jetzt ein Aufruf zur Stagnation? Was ist mit der Expansion in den Weltraum, den Zivilisationsphasen von Kardaschow und ähnlichem? Meine trockene Antwort: Wir sollten eher die Hausaufgaben der Menschheitswerdung mal auf unserem wunderschönen Planeten erledigen, statt die absurden Widersprüche unseres Gesellschaftssystems ins ungemütliche All zu tragen. Dennoch ist dieser Planet zu fragil, als dass wir als Menschheit gänzlich darauf verzichten könnten, ihn durch eine gemeinsame Anstrengung in Richtung Weltraum vor kosmischen Wuchtbrummen zu schützen. Wie gut, dass es dafür ganz sicher eigene Neigungsgruppen und Kulturen geben wird!

Franz Nahrada

Zuerst erschienen auf streifzuege.org