Biografische Mode
War sonst noch was? Leider ist nicht viel zu vermelden – ausser einigen marxistischen Debatten, die aber Randerscheinung blieben (siehe die Reihe „Marx is back“. Der Mainstream stieg, dem Abfeiern runder Jahreszahlen gemäss, auf die biografische Mode ein, was jetzt in abgeschwächter Form beim Friedrich-Engels-Jubiläum 2020 seine Wiederholung fand – eine Würdigung übrigens, die den Jubilaren ein Gräuel gewesen wäre. Marx und Engels haben stets gegen jeden Personenkult Stellung bezogen und sich keine „Follower“ gewünscht, sondern Menschen, die an der „Kritik der politischen Ökonomie“ interessiert sind.Sebastian Klauke hat das im Marx-Dossier des Untergrundblättle schon am 1. April 2019 zum Thema gemacht und angemerkt, dass die neueren biografischen Würdigungen – mehr als drei Dutzend Biografien liegen mittlerweile vor – vielerlei Mängel aufweisen. Das gilt vor allem für die Werke von Jonathan Sperber (2013) und Gareth Stedman Jones (2017), wohl weniger für Jürgen Neffes Opus von 2017, das sich, in begrenztem Rahmen, um die Rekonstruktion der Theorieentwicklung bemüht.
Dass 2019 der Marxist Michael Heinrich, ein ausgewiesener Kenner des „Kapital“, mit dem ersten Teil einer auf drei Bände angelegten umfassenden Biografie dem eine weitere Veröffentlichung hinzufügte, wertete Klauke jedoch als „Glücksfall“. Dabei zeigte er sich angesichts des weit ausgreifenden Publikationsvorhabens selber skeptisch; wie das begonnene Unternehmen fertig zu bringen sei und sich die Jahre nach 1842 in nur zwei weiteren Bänden abhandeln liessen, „bleibt rätselhaft“ (Klauke).
Der grosse Aufwand, den Heinrich für den ersten Band betrieben hat, läuft eigentlich ins Leere. Das umfangreiche Buch erfasst den Zeitraum bis 1842, also bis zu einem Zeitpunkt, wo Marx noch keinen Text von theoretischem Belang verfasst hatte. Heinrich, schreibt Klauke, „beschäftigt sich unter anderem mit den vielfach übersehenen oder schlicht ignorierten Marxschen Gedichten und bettet sie in die Entwicklung seines Denkens ein.“ In der Tat, eine poetische Teenager-Periode, die der Berliner Student mit seinem Hegel-Studium definitiv beendete und die später im Hause Marx als Lachnummer galt, wird bei Heinrich zu hochwichtiger Bedeutung aufgeplustert. Ignoriert wurde sie übrigens nicht; Franz Mehring, der selber Literaturwissenschaftler war und „1918 die erste und bis heute einflussreiche Biografie über Karl Marx“ (Wikipedia) veröffentlichte, hat sie z.B. treffend gewürdigt („triviale Romantik“).
Theoretische Klärung
„Was bleibt von Marx?“ lautete die Überschrift eines Beitrags, der im Juli 2020 im Online-Magazin Telepolis erschien. Er handelte von den neuen Initiativen, die rassistische oder militaristische Vergangenheit aufzuarbeiten, konkret von dem durch die „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA inspirierten Vorhaben, Statuen von Sklavenhaltern, Rassisten und Kriegshetzern niederzureissen oder Strassen in unverfänglicher Weise umzubenennen.In Deutschland hatte dies der ehemalige „Welt“-Chefredakteur Wolfram Weimer dankbar aufgegriffen und prompt konstruktiv gegen links gewendet: Nun sollte es auch den Marx-Statuen an den Kragen gehen, denn „aus den Schriften von Marx wird eklatant deutlich, dass er ein Menschenverachter war“ (Weimer). Diese Aufforderung hat bislang keine praktischen Konsequenzen gehabt. Die zahlreichen Kommentare im Online-Forum von Telepolis zum Artikel zeigten indessen, dass das zugrundeliegende Zerrbild von vielen Menschen geteilt wird. Dass die Gründer des „Marxismus“ „Blut an den Händen haben“, so ein Forums-Kommentar, gehörte dabei noch zu den harmloseren Formulierungen.
Dies war Anlass genug, im Telepolis-Magazin eine Marx-Reihe zu starten, die den Lesern das Hauptwerk von Marx, vor allem den ersten Band des „Kapital“ in seinen Grundzügen vorstellen wollte. Denn bei Marx (und Engels, der Band 2 und 3 herausgab) handelt es sich ja um Theoretiker der Kapitalismuskritik und nicht um (bürgerliche) Staatsmänner, die bekanntlich Militär-, Polizei- und Geheimdienstapparate befehligen und sich zum Schutz ihrer Nation allemal die Hände schmutzig machen, bis hin zur Mutter aller Demokratien: die westliche Führungsmacht USA. Ihn weltwirtschaftlicher Aufstieg vollzog sich über die Ausrottung der Ureinwohner und eine veritable Ökonomie der Sklaverei, mit einem Bürgerkrieg, der den modernen totalen Krieg einläutete. Später sollten Militäraktionen auf dem gesamten Globus folgen, deren Endpunkt heute darin besteht, der Welt, im Falle des Falles, einen „nuklearen Holocaust“ zu offerieren.
„Der Kapitalismus schafft nützliche Güter“, so hiess der erste Teil der Marx-Reihe „Was spricht für den Kapitalismus?“, erschienen am 24. August 2020. Sie ging von der These aus, dass die wenigsten Menschen, die sich positiv oder negativ auf Karl Marx berufen, wirklich auch nur eine annähernde Ahnung davon haben, für welche Inhalte und Erörterungen dieser Mann steht, und wollte diesem Umstand Abhilfe verschaffen.
Es ist nämlich nicht abzusehen, dass der normale und in der Regel durch Propaganda und Ideologie verunsicherte Lohnarbeiter ganz ohne Motivation die Zeit und das Interesse aufbringen wird, das „Kapital“ zu lesen. Man kommt wohl nicht umhin, es ihm schmackhaft machen zu müssen, indem man es ihm in kleinen, leicht verdaulichen Portionen serviert. Gleichzeitig sollte dabei auch mit dem Gerücht aufgeräumt werden, dass das Buch inhaltlich „veraltet“ sei und dem heutigen Leser nichts Wesentliches an Erklärung zur eigenen ökonomischen Lebenslage bieten könne.
Es ist nicht minder aktuell als vor anderthalb Jahrhunderten, als es geschrieben wurde. Es mag sicherlich einige Neuerungen gegeben haben in der Ökonomie, etwa das Konstrukt einer supranationalen Zentralbank, algorithmengetriebene Finanzmärkte, Online-Handel, Kryptowährungen, Negativzinsen, Sozialstaaten, Steueroasen, Umwelt- und Kinderschutzrechte und was es sonst nicht alles an Innovationen seit Marx gibt. Aber rein gar nichts davon ändert die wesentlichen Strukturen dessen, wie Ausbeutung, Armut und Konkurrenz unter kapitalistischer Produktionsweise funktionieren. Im Gegenteil muss man sich sogar all diese Neuerungen zunächst einmal komplett wegdenken, um diese – von den Illusionen solcher Neuheiten stark überwucherten – Strukturen überhaupt erst freizulegen. Und erst dann kann man sich überlegen, in welcher Weise und welchem Umfang all diese Neuheiten in die alten Strukturen eingreifen, ob sie z.B. bestimmte Tendenzen verschärfen oder ausbremsen.
Nur vom Standpunkt einer soliden, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Theorie, so die Behauptung der Reihe, lässt sich die Titelfrage, was überhaupt für den Kapitalismus spricht, beurteilen. Folglich trat sie mit dem Programm an, in fünf Folgen die interessierten Leser und Leserinnen über einige der wichtigsten Argumente der marxschen Kapitalismuskritik aufzuklären.
Diese wurden in der Hauptsache dem „Kapital“ entnommen und nach einer subjektiven Auswahl, die sich an den geläufigen Lobesworten über die Leistungen der Marktwirtschaft orientierte, zusammengestellt. Mittlerweile sind die geplanten fünf Folgen erschienen und Weiteres ist hinzugekommen. Eine Übersicht über die Veröffentlichungen findet sich hier.
Das Programm war, beginnend mit Argument 1 („Produktion findet nur unter Vorbehalt des Mehrwerts statt“) und 2 („Die Produzenten entscheiden nicht über Was und Wie der Produktion“), die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf einige der Hauptargumente zu reduzieren, die auch für die heutige Debatte über das Wirtschaftsleben Relevanz besitzen, und dabei die Argumente gleichzeitig in ihrem theoretischen Zusammenhang der Marxschen Analyse aufzuzeigen.
Noch im August folgte dann der zweite Teil der Reihe („Der Kapitalismus schafft Reichtum“), im September der dritte („Der Kapitalismus stiftet Freiheit und Gerechtigkeit“) und der vierte („Im Kapitalismus wird wenigstens niemand ausgebeutet“). Der kundige Leser erkennt sofort, dass die einzelnen Teile jeweils eine trojanische Überschrift tragen. Anfang November wurde die Reihe mit dem fünften Teil („Das Trickle-Down Prinzip“) abgeschlossen.
Behandelt wurden in den weiteren Folgen die Argumente: (3) „Der Erfolg der Produktion ist nicht garantiert“, (4) „Der Wert von Waren ist durch objektive Bedingungen bestimmt“, (5) „Juristische Gleichheit (re-)produziert ökonomische Ungleichheit“, (6) „Der Mehrwert gehört notwendig dem Kapitalisten“, (7) „Der Lohn ist eine verdeckte Form der Ausbeutung“, mit einem Exkurs zu den historischen Verlaufsformen von Ausbeutung im Vergleich zur modernen, und einem Exkurs zur Berechnung des Grads der Ausbeutung in Form der Rate des Mehrwerts, und (8) „Die Rechtfertigung des Kapitalismus ist Propaganda und Ideologie“, worin einige der gängigsten Argumentationsfiguren, mit denen Kapitalisten ihre ökonomische Stellungen in der Gesellschaft vor sich und anderen zu rechtfertigen pflegen, analytisch aufs Korn genommen werden.
Am Ende der Reihe hiess es dann dann summarisch: „Um also die Titelfrage abschliessend und hoffentlich ein für allemal zu beantworten. Was spricht für den Kapitalismus? Nichts. Wirklich rein gar nichts.“ Das war jedoch nicht das letzte Wort, denn mit der fortschreitenden Veröffentlichung wuchs auch der Diskussionsbedarf in recht eigentümlicher Weise.
Erlebniswelt: digitale Diskurskultur
Der ursprüngliche Plan der Veröffentlichung wurde nämlich durch einen Faktor verzögert bzw. durchkreuzt, der sich im Netz, d.h. auf den entsprechenden Blogs und Online-Magazinen, bekanntlich in ganz eigener Weise bemerkbar macht: Telepolis bietet die Möglichkeit, Online-Kommentare in einem Forum zu veröffentlichen, und von diesem Angebot wurde rege Gebrauch gemacht. Angeregt durch die ersten Artikel kamen etliche Foristen untereinander zum Thema Marx ins „Gespräch“.Das „Gespräch“ steht in Anführungszeichen, da sich hier zu grossen Teilen lediglich ein Bedürfnis zu verbalen Pöbeleien, Beleidigungen, Drohungen und Ähnlichem austobte, so dass man sachliche Gesichtspunkte oft mit der Lupe suchen musste. Da möchte man übrigens gar nicht wissen, was in den von der Administration gesperrten Beiträgen gestanden hat!
Nun ist die Stammtischkultur des Internets bekannt. Über Shitstorms und Mobbing, über Trolle und Fake News wird man regelmässig informiert, und eine ganze Subkultur gibt sich diesem Treiben hemmungslos hin als Ergänzung der Selbstdarstellungskunst und Inszenierung der eigenen Persönlichkeit, denen das Internet Raum geschaffen hat. Erstaunlich war das jedoch bei diesem Thema, welches sich ja in einem theoretisch-wissenschaftlichen Rahmen bewegte – und dies ausgerechnet auf einer Plattform, die investigativ und pressekritisch vorgeht und sich als ein Medium seriöser Gegeninformation versteht.
Das Thema hatte ja auch selber keinen persönlichen Bezug – von der historischen Person Marx abgesehen –, legte vielmehr auf die Klärung von ökonomischen Grundsatzfragen Wert. Dabei argumentierte die Reihe natürlich hart in der Sache, schoss sich aber gerade nicht auf rücksichtslose Unternehmer oder korrupte („neoliberale“) Wirtschaftspolitiker ein, sondern betonte die systemischen Zusammenhänge. Im Forum kam darauf eine Flut von antikommunistischen Beschuldigungen zustande, die an die tiefsten Zeiten des Kalten Kriegs erinnern, sowie viele argument- und sinnfreie Beschwerden über die Unverschämtheit eines Autors, der wirtschaftliche Zusammenhänge kritisch unter die Lupe nimmt.
Trotzdem, die Reihe wagte den Versuch, dies als ein Diskussionsangebot oder -interesse zu nehmen. Noch Ende August startete das verwegene Unterfangen, den Wust an Forumskommentaren selber zum Thema zu machen. „Marx ist Murks“ hiess, den Tenor vieler Kommentare aufgreifend, diese parallel laufende Reihe. Sie versuchte eine Liste der wichtigsten Einwände abzuarbeiten, beginnend mit pauschalen Vorwürfen gegen die Unwissenschaftlichkeit des Autors der Reihe („Der Autor betreibt Begriffsverwirrung“) bzw. des „Kapital“ von Marx („Mehrwert ist gar kein Kriterium der Produktion“) und abschliessend mit den klassischen antikommunistischen Beschuldigungen, die auf nichts anderes als ein Kritikverbot hinauslaufen („Geh doch erst mal arbeiten“, „Marxisten sind Blutsäufer“). Letzteres übrigens ein Niveau, das auch schon im „Schwarzbuch des Kommunismus“ (1998) erreicht wurde, wo Wissenschaftler unter Anleitung des Historikers und Ex-Maoisten Stéphane Courtois ein phantastisches Sündenregister des Kommunismus aufmachten, laut Asienexperte Jean-Louis Margolin gehört selbstverständlich auch der Kannibalismus dazu.
Mittlerweile sind fünf Folgen dieser Replik-Reihe erschienen, die teils wütende, teils überraschte, aber auch einige sachkundige bzw. an Sachfragen interessierte Reaktionen auslösten. Insgesamt kamen bislang an die 2.000 Kommentare zusammen, wobei sich zunehmend gehaltreichere Diskussionen unter den Kommentatoren entwickelten. Bzw. gab es diese auch schon zu Beginn, aber sie wurden von ziemlich viel Unkraut überwuchert und kamen kaum zur Geltung. Dies scheint sich allmählich zu ändern. Die vorläufig letzte Folge wurde Anfang November 2020 veröffentlicht. Sie stand unter der Überschrift „Kritiker des Marxismus erklären diesen für unwissenschaftlich“ und bot einige Ausflüge ins moderne Verständnis von Wissenschaft, wie es sowohl als populäre Auffassung von Laien, aber auch bei (selbst ernannten) Fachleuten gepflegt wird.
Hauptpunkte dieses Wissenschaftsverständnisses sind etwa: Nur was sich exakt messen (und in mathematischen Formeln fassen) lässt, so dass sich daraus prognostische Aussagen über die zukünftige Entwicklung sowie Hilfestellungen für die Akteure der Marktwirtschaft ergeben, verdient das Prädikat „wissenschaftlich“. Gegen diese zentrale Vorstellung, die in der populären Form natürlich gleich das „Argument“ einschliesst, dass es gar nicht anders gehen kann als so, wie es in der Marktwirtschaft eingerichtet ist, schrieb und schreibt die Reihe konsequent an. Diese banale Rechtfertigung des Bestehenden, weil es nun einmal besteht und der Kritiker keine konstruktive Alternative zu seiner Verbesserung nennen kann, beherrschen natürlich auch die Experten – so etwa die SZ-Wirtschaftsredakteurin Franziska Augstein, wie auf Telepolis der Beitrag „Kapitalismus: Kein Spiel!“ aufgezeigt hat.
Und die Reihe ist in dieser Hinsicht mehr als ein Angebot zur Auseinandersetzung über ökonomiekritische Streitpunkte, sondern eine zentrale Herausforderung für ein Denken, das sich in den gegebenen Verhältnissen einrichten will. Im Verlauf der Debatte scheinen nun – vorsichtig gesagt – die Pöbeleien und Beschimpfungen etwas abgenommen zu haben; anscheinend sortiert sich der Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, der in diesem Forum gerade bei bestimmten Themen wie Rechtstrend oder Flüchtlingsfrage bislang zu gehässiger Hochform aufgelaufen ist. (In Reinform findet sich dieser Hass z.B. in den Leser-Kommentaren zu Renate Dillmanns Artikel „Europas Schande?“, in welchem sie anlässlich des Brandes von Moria die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik beurteilt.)
Es wäre in der Tat ein Hoffnungsschimmer, wenn das zunehmende Interesse an der Klärung sozialer Fragen einen Kreis abstösst, der vor allem seine nationalistischen oder rassistischen Affekte ausleben will. Doch es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, dieses Internet-Panoptikum abschliessenden zu bewerten oder zu resümieren. Wer sich für Kapitalismuskritik interessiert, kann sich selber einen Eindruck von der noch laufenden Diskussion verschaffen – oder sich gar dort beteiligen. Wenn sich hier wirklich eine vernetzte Debatte entwickeln sollte, und nicht ein weiterer Mega-Stammtisch, wäre das sicher ein Fortschritt. Ob dies in der begonnenen Form fortgeführt werden sollte oder sich andere Möglichkeiten finden lassen, müsste man dann in Zukunft noch klären.