Interview mit Alberto Toscano „Solidarität ist das Ergebnis politischer Arbeit“
Politik
Alberto Toscano lehrt am Goldsmiths College in London. Warum Marx' Ideen heute nicht weniger wichtig sind als vor 200 Jahren und warum man trotzdem nicht bei Marx stehenbleiben darf, erklärt er im Gespräch.
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16. Januar 2018
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Korrektur
AT: Marx' Schriften stellen bis heute die herausragendste Leistung dar, den Drang nach einem Verständnis unserer Welt mit dem praktischen Gebot der Ablehnung derselben – also der Negation dieser Welt – zu verschweissen. Mit anderen Worten: Ein Projekt, das ebenso unverzichtbar wie paradox ist und das in einer widerständig-revolutionären Wissenschaft und politischen Praxis besteht. Über eine Vielzahl von Textsparten hinweg (Journalismus, politische Reden, philosophische Traktate, politisch-ökonomische Abhandlungen, Briefwechsel, Polemiken, historische Erzählungen, und so weiter) bestechen Marx' Schriften (inklusive derer, die in Zusammenarbeit mit Engels entstanden sind) gerade dadurch, dass sie das problematisieren, was wir als unser sensorisches und intellektuelles Ökosystem bezeichnen können: Das, was Marx einst die kapitalistische „Religion des Alltaglebens“ nannte.
Es bleibt unverzichtbar, unser Alltagsleben als Problem zu erkennen: ein Problem, dessen Lösungstendenzen von seinen eigenen Konflikten und Blindstellen, von seinen Lücken und Widersprüchen heraufbeschworen werden. Aber auch von einer Praxis, die gegen den Strich jener Geschichten liest, die sich unsere Gesellschaft über sich selbst erzählt. In diesem Sinne müssen wir das Netzwerk von Konzepten reaktivieren, das Marx schmiedete, um den Kapitalismus seiner Zeit zu verstehen. Aber genauso brauchen wir – in diesen ohrenbetäubenden und grotesken Zeiten – seine Fähigkeit zur Satire und Polemik wie auch zur mühevollen Arbeit der Trennung, die eine wahre Politik der Assoziation erst ermöglicht.
KL: Ein häufiger Vorwurf an den Marxismus ist der des „Ökonomismus“. Würdest du sagen, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine grössere Vielfalt und „Offenheit“ in der Marx-Rezeption gab?
AT: Wenn man Marx' Werk auf Stromlinienform bringt und derart homogenisiert, dass es mit den Wirtschaftswissenschaften verglichen und in sie integriert werden kann, dann beraubt man es unzweifelhaft seiner skandalösen Singularität – der einer selbstreflexiven, widerständigen Wissenschaft. Man friert damit Marx' Gedankengänge gewissermassen ein und entschärft sie. Eine marxistische Theoriepraxis sollte stattdessen an den Worten festhalten, mit denen Marx in seinem Text „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ den Charakter proletarischer Revolutionen beschreibt. Proletarische Revolutionen, so Marx,
„kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche“ (Marx 1972).
Seit Marx' Tod, und in wiederkehrender Abfolge der multiplen Krisen des Marxismus, sind die Art und Weisen, wie Marx' Werk gelesen wurde, durch verschiedene Phasen und Konjunkturen der Öffnung und Schliessung, der „Lästerung“ und Orthodoxie, der Deterritorialisierung und Territorialisierung gegangen. Zum Beispiel hat Fredric Jameson (1996, marxistischer Kulturtheoretiker, Anm. d. Red.) einige interessante Beobachtungen zum Zusammenhang von kapitalistischen Krisen und verschiedenen „Post-Marxismen“ gemacht.
Viele dieser abwechselnden Lesarten kann man als „Veredelungsverfahren“ verstehen, die stets eine heilsame Infragestellung von Marx beziehungsweise der Selbstgenügsamkeit des Marxismus mit sich brachten: kantianischer Marxismus (um ein ethisches Defizit zu korrigieren), Freudo-Marxismus (um ein Defizit in Sachen „Lust-Ökonomie“ auszugleichen), „Dritte Welt“-Marxismen (um einer eurozentristischen Schieflage entgegenzuwirken), marxistischer Feminismus (um die vergeschlechtlichten Eigenheiten von Ausbeutung und sozialer Reproduktion sowie queere Perspektiven zu integrieren) und so weiter. Theoretisch gesprochen (die politischen Aussichten sind wohl um einiges düsterer) glaube ich, dass heute grössere Potenziale für eine Wiederbelebung marxistischer Forschung vorhanden sind: einer marxistischen Forschung, die offen ist für die dringenden Anforderungen der Gegenwart und die gleichzeitig nicht voraussetzen kann, dass sie alle analytischen Hilfsmittel bereits zur Hand hat – als würden die rastlosen, vielfältigen und unabgeschlossenen Schriften von Marx eine Art „sicheren Kanon“ bieten.
Ebenso bleibt die Lektion, die Stuart Hall in den 1980er Jahren aus Gramsci gezogen hat, bis heute wegweisend:
„Gramsci [...] stand dem revolutionären Charakter der Geschichte von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wenn bestimmte Umstände zusammenkommen, dann gibt es kein ‚Zurück'. Die Geschichte legt einen anderen Gang ein. Das Terrain verschiebt sich. Du bist in einem neuen Moment. Du musst dich, ‚gewaltvoll', mit dem ganzen ‚Pessimismus des Verstandes', der dir zur Verfügung steht, mit den ‚Erfordernissen der Umstände' befassen“ (Hall 1987, Übers. d. Red.).
Die Frage, die sich dann stellt, ist nicht die, ob bestimmte Lesarten von Marx offen, heterodox oder „lästerlich“ sind – als wäre das schon ein Wert für sich. Vielmehr müssen wir fragen, ob sich diese Lesarten den heutigen „Erfordernissen der Umstände“ fügen. Und wenn das heisst, bestimmte Aspekte von Marx' Werk fallenzulassen, zu verändern oder zurückzustufen, dann sei's drum. Wir dürfen nicht vergessen, dass Marx weder an seinen eigenen Konzepten hing noch sie zu einem Selbstzweck erhob. Wenn wir das flackernde Licht der Gegenwart auf den Korpus von Marx' Schriften werfen, dann treten Aspekte seines Denkens in Erscheinung, die zu anderer Zeit vielleicht nur zweitrangig waren. Oder, um eine andere Metapher zu verwenden: Marx' Texte beinhalten eine ganze Reihe an chemischen Reagenzien, die eine theoretische Reaktion auslösen können, wenn sie mit unserer Gegenwart in Berührung kommen.
KL: Wie würdest du die Rolle verschiedener „postmoderner Theorien“ gegenüber der Rezeption von Marx in den vergangenen Jahrzehnten bewerten? Also zum Beispiel Poststrukturalismus, postkoloniale Theorien oder queer-feministische Theorien?
AT: Meine Antwort ist wahrscheinlich in erster Linie eine persönliche Reflektion, die dadurch zustande kommt, dass ich mich mit Marx und Marxismus erst ernsthaft beschäftigt habe, nachdem ich mich in den sogenannten „Poststrukturalismus“ vertieft hatte (einen Begriff, den ich zugegebenermassen wenig nützlich finde). Im Grossen und Ganzen halte ich das Nachlassen einer gewissen Abwehrhaltung unter Marxist_innen für eine positive Entwicklung. Ich sehe zwar schon, dass sich die theoretischen Strömungen, die ihr nennt, oftmals in einer Marginalisierung von sowohl „klassischem“ als auch „westlichem“ Marxismus verstrickten – einer Marginalisierung, die von einer vorangegangenen Generation von Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen als reaktionär wahrgenommen wurde. Trotzdem glaube ich, dass aus heutiger Perspektive eine andere Einstellung möglich ist: eine, die die Verpflichtung zu einer fortwährenden „Totalisierung“ unterschiedlicher theoretischer Perspektiven beibehält und trotzdem nicht davon ausgeht, dass Marxismus in irgendeiner Art und Weise einen selbstgenügsamen theoretischen Kanon darstellt, der darauf aus ist, sich „Rivalen“ entweder einzuverleiben oder sie in die Flucht zu schlagen.
Obwohl ich Alain Badious (marxistischer Philosoph, Anm. d. Red.) Ausspruch „der Marxismus existiert nicht“ keineswegs unterzeichnen würde, würde ich ebenso bestreiten, dass „Marxismus“ und „Poststrukturalismus“ geschlossene theoretische Einheiten darstellen. Wenn wir über beide Denkrichtungen in ihrer (vermeintlichen) Abgeschlossenheit sprechen, dann geht es meiner Meinung nach nicht um Theorien, sondern um Ideologien und insofern um Fragen polemischer Zustimmung oder Ablehnung. In dieser Hinsicht erscheint mir auch die wenig durchdachte Debatte über Postkolonialismus, die von Vivek Chibbers Buch ausgelöst wurde (siehe Rezension in dieser Ausgabe), zum Grossteil als steriles ideologisches Gezanke und nicht als wirklicher theoretischer Disput, der notwendigerweise eine „Kritik“ im marxistischeren Sinne beinhalten müsste. Insgesamt glaube ich, dass „progressive“ akademische Theorieproduktion heute Elemente beinhalten wird, die sowohl aus marxistischer als auch aus poststrukturalistischer Richtung kommen. Zugleich bin ich der Meinung, dass der Drang, sich ideologisch abzugrenzen, geringer sein wird als noch vor zehn, 20 oder 30 Jahren. Auch in dieser Hinsicht halte ich die Chibber-Debatte für politisch rückwärtsgewandt.
KL: Das marxistische Konzept der „Arbeiterklasse“ wird heute meist mit dem Bild des weissen männlichen Industriearbeiters verbunden. Oft hört man deswegen davon, dass „Klasse“ und „Klassenpolitik“ überholte Begriffe seien. Wie würdest du darauf antworten?
AT: Das ist eine tragische Folge der tatsächlich existierenden Klassenpolitiken des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Entwicklungen in Europa und Nordamerika. Die grundlegenden internen Grenzziehungen entlang von „Rasse“, ethnischer Zugehörigkeit, nach Geschlecht und weiteren Markierungen von Ungleichheit führten und führen noch immer dazu, dass die tiefgehende sowohl praktische als auch theoretische Kritik des „Weissmachens“ der Arbeiter_innenklasse nicht genug Beachtung findet. Die grössten revolutionären Denker_innen des 20. Jahrhunderts, von Lenin bis CLR James, Du Bois bis Fanon, von Rosa Luxemburg bis Angela Davis, sie alle haben sich auf unterschiedliche Weise gegen diese Selbstgefälligkeit gewehrt.
Man kann das als Reaktionen auf die grossen und eindrucksvollen Bewegungen von Frauen und People of Color verstehen, die zum Grossteil an vorderster Front für wahre Veränderungen gegen die Herrschaft des Kapitals kämpften. Und dennoch haben sich die Gewerkschaften und politischen Parteien, die unter dem Banner des Marxismus (oder der Sozialdemokratie) marschierten, vor allem damit am Leben gehalten, sich mit dem vergifteten Bild des weissen männlichen Proletariats zu identifizieren. Beispiele hierfür sind der Ausschluss des afroamerikanischen Proletariats von vielen der Errungenschaften des New Deals, der katastrophale Nationalismus der Kommunistischen Partei Frankreichs, die „Hassstreiks“ gegen die antirassistische Öffnung der Gewerkschaften und nicht zuletzt die phantasmagorische Wiedergeburt eines vermeintlichen Klassen-Subjekts in solch widerwärtigen Slogans wie „Britische Arbeit für britische Arbeiter“.
Wenn wir den vorherrschenden Meinungen über Klasse etwas entgegensetzen wollen, dann könnten wir zunächst sagen, dass Narrative von Klasse und Klassenpolitik genau in dem Masse politisch neutralisiert wurden, in dem „Klasse“ auf bestimmte ethno-nationale Identitäten und Kulturen aufgepfropft wurde – insbesondere auf verschiedene Variationen des „Weissseins“. Klasse ist in der heutigen Vorstellung nur noch als die reaktivste Form von „Identitätspolitik“ vorhanden, davon zeugen Trump, der Brexit, die Rhetorik des Front National und vieles mehr. Die Arbeiter_innenklasse, die nichts zu verlieren hat als ihre Ketten, wird damit durch ihr Scheinbild ersetzt, welches glaubt, dass es mit diesen Ketten alles zu verlieren habe. Es ist ein trauriger Anblick, wenn sich selbst bekennende „klassische“ Marxist_innen einer Klassenanalyse zuwenden, die auf dubiosen Wahl-Statistiken beruht, um die Behauptung zu untermauern, die heutige reaktionäre Politik sei ein Symptom einer Revolte der Arbeiter_innen.
Damit werden gleichzeitig die grundlegendsten Lehren des orthodoxen Marxismus ignoriert, nämlich die Zentralsetzung der Produktionsverhältnisse bei der Definition von Klasse. Eine solche Definition würde zumindest dazu führen, anzuerkennen, dass ein rumänischer Obstpflücker in England heute viel „mehr“ der Arbeiterklasse entspricht als etwa ein Immobilienmakler oder Rentner, dessen Vater einst in einem Stahlwerk gearbeitet hat. Mehr noch: Wenn wir unseren Blick über den euro-amerikanischen Tellerrand erheben, können wir die weltweit enorme Anzahl von Menschen sehen, deren Lebensexistenz und deren blankes Überleben von Lohnarbeit abhängen. Es sind Menschen, die sozusagen „ohne Reserven“ proletarisiert sind. Deutlich wird dann auch, dass sich Ungleichheit und Ausbeutung auf vielerlei Ebenen verschärfen. Der Abschied von Klasse als einer analytischen und politischen Kategorie erscheint damit als massiver Fall von Verleugnung in einem quasi-freudianischen Sinne.
KL: Ebenso scheint sich eine Zweiteilung von „Klassenpolitik“ (verbunden mit dem Bild des weissen männlichen Arbeiters) und so genannter „Identitätspolitik“ (Themen wie Geschlecht, „Rasse“, Sexualität, etc.) verfestigt zu haben. Welche Wege sollte eine (radikale) Linke verfolgen, um diese unglückliche Gegenüberstellung zu überwinden?
AT: Der erste Schritt sollte vielleicht sein, eine rücksichtslose (Selbst-)Kritik daran zu üben, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass marxistische Vorstellungen von „Klasse“ zu Identitätspolitiken verkamen. Das würde bedeuten, die kulturalisierende Fetischisierung industrieller Arbeit, die sowohl geografisch als auch historisch von begrenzter Relevanz ist, als einzigem Ort der Anerkennung von „Klasse“ hinter sich zu lassen. Umgekehrt ist es auch wichtig zu lernen, die klassenspezifische und antikapitalistische Dimension dessen wahrzunehmen, was manchmal einzig als „Identitätspolitik“ missverstanden und auf diese reduziert wird. Schliesslich muss man sich fragen, wie es sein kann, dass die politischen Bewegungen und die militanten Theorieproduktionen derjenigen, deren Arbeit und Leben durch geschlechtsspezifische und rassifizierte Ausbeutung in Beschlag genommen und entwertet wurden, nicht in ihrer entscheidenden Dimension gesehen werden: nämlich in ihrer klassenpolitischen, also relationalen, Dimension.
Insofern kann man von Klasse als einer Beziehung und nicht als einer Identität ausgehen – einer Identität, die es uns immer wieder erlaubt, uns abzugrenzen, wie es viele Marxist_innen nach Marx taten. Diese stellten sich eine gute Arbeiterklasse in Abgrenzung von einem schlechten Lumpenproletariat, Zwangsarbeiter_innen und anderen vor. Mithilfe dieses relationalen Klassenverständnisses könnten wir uns jenem unsichtbaren „Eisberg“ der Ausbeutung annähern (eine Anleihe von Maria Mies' Charakterisierung der Rolle von „Frauen, Natur und Kolonien“ in der kapitalistischen Aneignung), welcher der Klassenzugehörigkeit tatsächlich Gewicht verleiht. Ironischerweise würden wir, gerade mit einer eher orthodoxen, ja sogar dogmatischen Definition von Klasse (als dem Verhältnis zu den Produktionsmitteln und so weiter), heute zwangsweise zu der Erkenntnis gelangen, dass die Arbeiter_innenklasse, global gesehen, aber auch im sogenannten kapitalistischen Norden, alles andere ist als eine weisse, männliche Einheit.
Man darf dabei nicht ignorieren, dass der Fokus auf Identität – auch im individuellen, narzisstischen Sinne – ein ideologisches Problem bleibt, das zum Nachteil für kollektive Erfahrungen von Ausbeutung werden kann. Diese liberalen oder sogar reaktionären Reflexe sind uns allen in unterschiedlichen Ausprägungen inhärent. Ich bin der Meinung, dass diese Zweisetzung – Klassenpolitik versus Identitätspolitik – nicht nur die dringend notwendigen internen Debatten in der Linken in den sterilen Kontext der 1980er-Scharmützel zurückversetzt, in denen es viel um „Postmodernismus“ ging. Auch verdeckt diese Zweiteilung alle Entwicklungen, die durch theoretische und politische Arbeiten im 20. Jahrhundert erreicht wurden, um diese Gegenüberstellung bereits in Frage zu stellen. Die Arbeit von Stuart Hall und Kolleg_innen zur Sprache der Erfahrung und der Vermittlung, etwa in ihrem Meilenstein „Policing the Crisis“, ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich. In diesem Werk schreiben sie vom Schwarzen britischen ProletariAT:
„Rassialisierte Unterdrückung war die spezifische Vermittlung, durch welche diese Klasse ihre materiellen und kulturellen Lebensbedingungen erlebte. Deswegen bildete „Rasse“ den zentralen Ausgangspunkt, von dem aus das Selbstbewusstsein dieser Klassenschicht konstruiert werden konnte“ (Hall u.a. 1979, Übers. d. Red.).
Ähnliche, wenn auch nicht identische, Argumente könnten in Bezug auf Geschlecht oder Sexualität gemacht werden.
KL: Es wurde in letzter Zeit viel über die „vergessene“ weisse männliche Arbeiterklasse geredet, die angeblich Rache nimmt an einer urbanen und elitären „Kulturlinken“. Was sagt das über den Gebrauch – oder vielleicht eher „Missbrauch“ – des marxistischen Konzepts der „Klasse“ aus?
AT: Das Problem mit solchen Formulierungen ist, wie so oft bei ideologischen Phänomenen, dass sie zugleich Trugbilder – inkohärente Ansammlungen von Fantasien, Nostalgien und Wunscherfüllungen – sind und auf schrecklich performative Weise real sind. Ich glaube es ist in diesem Zusammenhang nützlich, uns an Marx' berühmten Brief an Weydemeyer aus dem Jahr 1852 zu erinnern, in dem er deutlich macht, dass nicht er es war, der den Begriff der Klasse erfand. Vielmehr seien es bürgerliche Historiker gewesen. Sein Zutun hätte vielmehr darin bestanden, den Klassenbegriff zu historisieren, die Diktatur des Proletariats ins Auge zu fassen und die revolutionäre Abschaffung von Klasse zu fordern. Anders ausgedrückt: Weder hat die Bezugnahme auf Klasse etwas spezifisch marxistisches an sich noch die Idee der Klassenpolitik. Insofern ist es nicht widersprüchlich oder gar ungewöhnlich, wenn reaktionäre Politik im Namen des Klassenbegriffs gemacht wird. Die Geschichte der unterschiedlichen Formen des Faschismus und nahverwandter politischer und ideologischer Formationen lehren uns das ebenso.
Trotz dieser Vorbehalte gibt es eine Vielzahl an nicht-ausschliessenden Antworten auf dieses Dilemma: Man kann sich die Mühe machen, diese widersprüchliche Einheit (sprich: „die vergessene weisse Arbeiterklasse“) auf soziologischer Ebene zu entmystifizieren; man kann die historischen und materiellen Grundlagen erkunden, die dafür sorgen, dass bestimmte Teile der Arbeiterschaft leidenschaftliche Verhaftungen zu ihren ethno-rassialisierten Klassenidentitäten entwickeln; man kann unter den „Betroffenen“ dieser reaktionären Diskurse zur Agitation aufrufen. Vor allem aber kann man die Tatsache herausstellen, dass Ausbeutung und Ausgrenzung (oder eben gesellschaftliches „Vergessen“) in überdurchschnittlicher Weise die nicht-weisse Arbeiterklasse betreffen. Bei all dem darf man zudem nicht unterschätzen, welch deprimierende Anziehungskraft dem „psychologischen Lohn“ des Weissseins anhaftet. Eine Anziehungskraft, über die W.E.B Du Bois (1997) in seinem Buch „Black Reconstruction“ schrieb. Das erinnert uns zugleich daran, dass jegliche Art von „Klasseneinheit“ oder „Solidarität“ ein zutiefst prekäres Produkt politischer Arbeit ist und keineswegs ein tiefer liegender „Urgrund“, der lediglich durch kapitalistische Gehirnwäsche, liberale Ideologie oder eben „Identitätspolitik“ vernebelt wird.
Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.