Der Form nach unterscheiden sich seine Vorträge dabei nicht von anderen Youtube-Stars, wenn er schnell redet, ein „Faktum“ nach dem anderen aufzählt und die „Fakten“ dann eigentlich schon klar machen sollen, was los ist in der Welt. Prominent ist ein Video am Anfang der Corona-Pandemie geworden, in dem er eine halbe Stunde lang „erläutert“, dass die Pandemie inszeniert sei und letztlich Bill und Melinda Gates dahinter stecke: „Inzwischen ist es so, dass es ein Ehepaar ist, was der ganzen Welt diktiert, wie es zu leben hat.“[1] Die aktuelle BRD hält er nicht mehr für eine Demokratie, sondern für eine Diktatur, er hält einen Volksaufstand gegen das politische Establishment für notwendig. Dazu habe das Volk gemäss Grundgesetz Art. 20 nicht nur ein Recht, sondern nach Jebsen sogar die Pflicht.[2]
Mancher reibt sich die Augen, wie plötzlich Bekannte, die man bisher als eher linksalternativ einsortiert hat, Jebsens Weltbild, Thesen und politische Praxis übernehmen. Dass das so einfach und schnell geht, liegt daran, dass so gut wie alle Bürger*innen die überwiegenden Grundlagen von Jebsens Weltbild teilen (Thesen 1 und 2). Der Absprung, der für diejenigen Gedanken entscheidend ist, die Vielen dann so verrückt erscheinen, ist einfach zu haben (These [3]). Als Grundlage für die Analyse von Jebsens Weltbild wird hier das erwähnte Video von Beginn der Corona-Pandemie genommen und hin und wieder Zusatzmaterial eingeflochten:3
These 1: Jebsens ist ein normaler Bürger, der lauter Ideale über die Demokratie hat
Zunächst zeigt sich Jebsen am Anfang des Videos dankbar für die (alte) Bundesrepublik Deutschland. Diese habe ihm als Arbeiterkind Sachen ermöglicht, die anderswo in der Welt nicht passiert wären. Soweit nichts besonderes: Er ist in eine Konkurrenzgesellschaft hineingeboren worden, die zufällig Deutschland war. Er wollte und will sich in der Konkurrenz bewähren und dabei hat der Staat ihm geholfen, indem er für ihn brauchbare Bedingungen (z.B. Schule) hingestellt hat. Dafür findet er Deutschland gut und verspürt eine moralische Schuld: „Von daher bin ich diesem Land Deutschland eine Menge schuldig, vor allem diesem Buch, dem Grundgesetz.“Sein grosses Überthema, das ihn anhand der Corona-Massnahmen der Politik beschäftigt, ist das Verhältnis von Staat und Volk. Darüber hat er lauter Ideale, die in dem Video implizit und explizit vorkommen – im Sinne von, so hätte es eigentlich zu sein. Diese Ideale hat er in der Demokratie gelernt, wie so viele andere Menschen auch:
Der demokratische Staat wickelt sein Staatsprogramm über Rechte ab, die er den Bürger*innen gewährt. Er erlaubt den Bürger*innen also, ihre ganz eigenen Interessen zu verfolgen (z.B. mit der Berufs- und Gewerbefreiheit), solange sie sich an die Grenzen halten, die er ihrem Wollen setzt (z.B. Pflicht zur Einhaltung von Verträgen oder Steuerabgabepflicht). Im Regelfall schreibt er ihnen nicht explizit vor, was sie tun müssen. Innerhalb dieser Grenzen sind die Bürger*innen frei. Dieses Prinzip erfährt in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigerweise lauter Idealisierungen, die von der Politik selber vorgetragen, im Sozialkundeunterricht verbreitet, aber auch unabhängig davon, von den Bürger*innen ausgedacht werden.
Ideal Nummer 1: In den staatlichen Erlaubnissen und Verboten entdeckt der Privatmensch nur eine Dienstleistung an seinem Willen. Er übersieht, dass jedes Recht, das ihm gewährt wird, zugleich die Pflicht enthält. So enthält z.B. das Recht darauf, mit seinem Eigentum zu tun und zu lassen, was man will, die direkte Pflicht, das Eigentum Anderer und deren willentliche Willkür darüber anzuerkennen. Indirekt folgt daraus, dass man sich um das Geldverdienen in Konkurrenz zu den Anderen kümmern muss. Dieser staatliche Auftrag ist ein Herrschaftsprogramm - das Privateigentum in der Gesellschaft soll wachsen. Diesen Zweck hat sonst niemand in der Gesellschaft, denn die Privaten sind ja damit beschäftigt, ihr Privateigentum gegen andere zu verdienen oder als Kapitalist*innen zu vermehren. Dem Staat kommt es aber auf das Gesamtergebnis aller Aktivitäten an, denn darauf beruht ein Gutteil seiner Macht und Handlungsfähigkeit (Steuern, Kreditwürdigkeit, wirtschaftspolitisches Druckpotential gegen andere Staaten).
Im Ideal der Bürger*innen diene der Staat dagegen nur den Einzelnen, schütze ihre Interessen und helfe ihnen in der Abteilung Sozialstaat sogar. Das ist der erste grosse Idealismus: Wo der Staat ein Herrschaftsprogramm durch die Gewährung von Rechten durchzieht, entdeckt der Privatmensch nur eine Dienstleistung an seinem Willen. Daran knüpft der zweite grosse Idealismus an.
Ideal Nummer 2: Die vom Staat gewährten Rechte sehen Bürger*innen als etwas, was sie auch ohne den Staat schon immer hatten. Dabei übersehen sie den Haken, der in der Gewährung von Rechten liegt: Wer jemandem ein Recht gewährt, befindet sich in einer Machtposition und kann dieses Recht auch beschränken oder entziehen. Der Staat schätzt den falschen Gedanken von quasi-natürlichen Rechten aber und legt den Leuten nahe, die im Grundgesetz definierten Rechte als etwas zu sehen, dem auch der Staat unterworfen sei. Das ist natürlich nicht so, wie jede Grundgesetzänderung zeigt, in der der Staat praktisch beweist, dass er sich mit seinen Grundrechten für einen bestimmten Umgang mit seinen Bürger*innen entschieden hat und diese Entscheidung auch immer anpassen kann. Wenn der Staat also sein Handeln durch Gesetze steuert, an die sich alle – selbst die Bundeskanzlerin – zu halten haben, dann bindet er sich selbst und wird nicht von aussen gebunden. Anders gesagt: Um Rechte zu gewähren und Pflichten aufzulegen, braucht man die Gewalt und die ist beim Staat monopolisiert. Prinzipiell sind Rechte und Pflichten so nur von einer Seite her gestaltbar – vom Staat.
Demokrat*innen betrachten dieses Verhältnis aber anders: Durch die Grundrechte sei der Staat zum Dienst an den Bürger*innen verpflichtet. Sie hätten somit durch ihr Mensch-Sein ein verbürgtes Recht auf seine Dienste.
Ideal Nummer 3: Im dritten grossen Idealismus drehen die Bürger*innen dann das Verhältnis von „Bestimmer“ und „Auftragsempfänger“ um. Wo der Staat Tribut verlangt (Steuern), ergäbe sich für den Steuerzahler das Recht auf eine Regierungspolitik, die ihm dient, ganz so als wäre die Steuer ein Tauschgeschäft. Wo in Wahlen die Bürger*innen sehr vermittelt (ein Kreuz auf dem Wahlzettel) mitbestimmen, welche Partei oder Kandidat*innen auf vorab festgelegte Posten der staatlichen Macht kommen, halten sie sich glatt selbst für die Auftraggeber*innen einer Regierung.[4] Selten ist jemand so vermessen zu behaupten, dass man glatt selbst der König im Land sei, aber als Volk, das der Regierung und dem ganzen Staatsapparat eigentlich sagt, was sie zu tun haben, verstehen sich die Bürger*innen allemal.
Mit den drei grossen Idealisierungen bzw. Illusionen akzeptieren die Bürger*innen die staatlichen Beschränkungen grundsätzlich – aber nicht in jedem Einzelfall – als legitim.[5] So entsteht der Gedanke einer Rechtsgemeinschaft: Der Staat habe das Recht auf den Gehorsam seiner Bürger*innen, weil er die Pflicht hat, sie zu schützen und ihnen zu nützen. Die Bürger*innen hätten wegen der quasi-natürlichen Grundrechte Anspruch auf den Schutz des Staates und seien als Volk die eigentlichen Auftraggeber*innen des Staates – und im Gegenzug haben sie die Pflicht zur Gesetzestreue. So entsteht die Einbildung eines moralischen Vertrages zwischen Staat und Bürger*innen und das ist dann die Nation: eine eingebildete Gemeinschaft, in der jede*r von sich aus bemüht sein soll, den Rechten und Pflichten nachzukommen.
Die Nation ist die Erfindung einer Rechtsgemeinschaft, deren Substanz der moralische Wille aller Beteiligten sei, nur soweit dem eigenen Egoismus nachzukommen, wie es auch der Gemeinschaft nütze. Regierungen, Unternehmer*innen, Lohnarbeiter*innen usw. wollen und sollen einander dienen, so komme etwas Feines heraus, von dem alle was hätten.
These 2: Jebsen ist ein notorisch unzufriedener Bürger und damit ebenfalls ganz normal
Mit der Vorstellung eines moralischen Vertrages stellt sich aber keine allgemeine Zufriedenheit ein. Und das liegt zunächst gar nicht an den moralischen Erwartungen, sondern schlicht an den materiellen Interessen. Alle Bürger*innen sind mit den Leistungen des Staates unzufrieden. Das ist notwendig so. Die bürgerliche Gesellschaft, die der Staat einrichtet und betreut, ist eine Konkurrenzgesellschaft, in der es systemgemäss Gewinner*innen und Verlierer*innen gibt. Die meisten Lohnarbeiter*innen kommen geldmässig nur schwer über die Runden, die höher bezahlten Berufe lassen in der Regel noch weniger Freizeit übrig, auf dem Wohnungsmarkt haben viele zu kämpfen. Auch wenn sich alle unter Beachtung der Gesetze ordentlich anstrengen, bleibt der Ertrag für viele überschaubar. Und selbst die Unternehmer*innen, deren Eigentum sich durch das Arbeitgeben in der Regel wunderbar vermehrt, kennen in ihrer Konkurrenz untereinander Misserfolge.Hinzu kommt, dass jedes Gesetz, das der Staat erlässt, Leute hinterlässt, denen das neue Gesetz eher nützt und Leute, die es eher benachteiligt. Und sehr oft sind alle Betroffenen unzufrieden, weil den einen das Gesetz zu weit und den anderen nicht weit genug geht. Wie soll es auch anders sein, wenn die Bürger*innen Konkurrent*innen ums Geld sind? Letztlich denkt der Staat an sich, wenn er wirtschaftspolitisch die Gesellschaft mit Gesetzen so bugsiert, dass insgesamt für ihn eine grosse Geldmacht herauskommt, die er benutzen kann, um sich gegen andere Staaten durchzusetzen. Auf jeden Fall gibt es nie den einfachen Zustand, dass doch alles pi mal Daumen o.k. ist und auf vieles kann man sich nicht so richtig einstellen, ständig gibt es Reformbedarf.
Woran sich die Unzufriedenheit bei einer Person aufhängt, hat Grundlagen in der Klassenlage, den Umständen, woran man persönlich in einem Karriereweg scheitert, aber darüber hinaus auch zufällige Gründe im Sinne von „was fällt einem auf, wo richtet sich das Interesse besonders drauf“. Hier nur eine kurze Liste von alltäglichen Klagen in der Demokratie, mit Hinweisen, was Jebsen davon besonders aufregt:
Der Staat ist zu lax bei der Überwachung von Unternehmen.[6] (Umgekehrt: Diese ganze Überregulierung würgt die Wirtschaft ab, kostet Arbeitsplätze und gerade als Kleinunternehmer hat man dann keine Chance mehr). Die Regierung unterstützt die Reichen und kümmert sich nicht um die Schwächsten.[7] (Umgekehrt: Der Staat ist zu lax gegenüber Arbeitslosen, die sich auf Kosten der Beschäftigten einen faulen Lenz dank der Sozialkasse machen). Und mit der Corana-Pandemie und den politischen Reaktionen kommt jetzt einiges zusammen, über dass sich die Bürger*innen aufregen, z.B.: Die Gefahr wird masslos überschätzt.[8] (Umgekehrt: Die Politik verharmlost die Gefahr). Der Föderalismus verhindert gezielte Massnahmen.[9] (Umgekehrt: Die Bundesregierung verschaffe sich mit den Infektionsschutzgesetz zu viel Macht).[10]
Im Laufe des Lebens akkumuliert ein Privatmensch so manche Eindrücke und gemäss seines Ideals über die Nation als moralische Rechte- und Pflichtengemeinschaft, stellt er dann nicht einfach politische Umstände fest, die man sich mal erklären sollte, sondern ist mit der Erklärung fast schon fertig, wenn er Missstände feststellt. Ständig stellen die Bürger*innen moralische Pflichtverletzungen seitens der Regierenden fest und von den Oppositionsparteien werden sie in diesem Eindruck immer schön bestätigt, wenn sie der Regierung Versagen vorwerfen, um sich als anständige Alternative zu präsentieren. Ist die ehemalige Oppositionspartei an der Macht, betreibt die ehemalige Regierungspartei dasselbe Geschäft.
Das Auseinanderfallen von Ideal der Nation und Realität der Gesellschaft verarbeiten die Bürger*innen auf unterschiedliche Weise – z.B. so:
- „Hauptsache Gesund“ und „man kann halt nicht alles haben“ ist der Weg in die Bescheidenheit. Man ist also immer wieder unzufrieden und schiebt die Unzufriedenheit beiseite durch bodenlose Vergleiche.
- Die Regierung hat versagt, man hofft auf deren Ersatz durch eine andere Parteienkoalition und geht wählen. Macht die neue Regierung in etwa dasselbe wie die alte – was überwiegend so ist –, geht man wieder wählen. Oder man landet irgendwann bei folgender Variante:
- „Der Ehrliche ist der Dumme“, „die da oben machen ja doch, was sie wollen“ und „die Politiker*innen sind alle korrupt“ sind Varianten, bei denen man sich zumindest im Geiste über die Verhältnisse erhebt – man lässt sich nichts vormachen. Das bleibt in der Regel aber eine Angeberei, bei der man anderen deutlich macht, dass man nicht naiv ist und die Welt durchschaut hat. Bei dem Durchschauen am Stammtisch (oder heute beim modernen Ersatz in den Social Media-Kommentarspalten) bleibt es aber auch. Vielleicht holt man sich gerade noch Genugtuung beim Steuertricksen. Ansonsten trägt man alles weiter mit im Alltag, was so passiert.
Die Regierungen und ihre Auftraggeber*innen
Jebsen entdeckt wie die herkömmlichen Bürger*innen auch lauter Missstände und verlangt, dass die Ideale der Demokratie auch Wirklichkeit sein müssen. Er will die Ideale nicht so pflegen, dass sie ihm die Existenz in der Demokratie bei fortlaufendem Murren aushaltbar machen. Die Diskrepanz von Ideal und Realität hält er nicht aus. Den Spruch „Die da oben machen ja doch, was sie wollen“ teilt er und hält das für den Untergang einer würdigen freien Existenz eine*r Bürger*in.[11] Dann leben die Bürger*innen für Jebsen nicht mehr in einer Demokratie, in der der Staat dem Volk (in Sinne von Bevölkerung) verpflichtet ist, sondern in einer Diktatur.[12] Mit diesem Unterschied beginnt die wunderliche Welt des Ken Jebsen, die der normale Bürger dann nur noch kopfschüttelnd als irre und unbegreiflich deuten kann:Als erstes fragt sich Jebsen, woher die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit eigentlich herkommt. Nüchtern müsste man antworten: Die Diskrepanz beruht ja auf einer Erfindung von ihm – sowie von fast allen Bürger*innen. Er hat sich die Ideale gebildet und wenn sie mit der Welt nicht übereinstimmen, dann sollte er die Ideale einer Kritik unterziehen, indem er über die reale Welt sachlich nachdenkt.
Jebsen hält aber an den Idealen fest: Die Welt müsste so sein, sie ist es aber nicht, warum? Oder genauer: Die Welt müsste gut und edel sein, ist sie aber nicht. Wenn an sich gute Einrichtungen wie Rechtsstaat und Demokratie nicht das leisten, was Ken Jebsen von ihnen erwartet, dann muss es Akteure geben, die schlecht und böse sind, wer sind sie? Die Suche von ihm geht weiter an diesem moralischen Massstab.
Wenn der gute Zustand der Nation, die Rechte- und Pflichtengemeinschaft von Führung und Volk nicht da ist, dann muss das an Leuten liegen, die sich hier versündigen. Der rechte Standpunkt à la AfD, NPD et al. beantwortet sich die falsch gestellte Frage, indem er „das „Ausländische“ oder „das Fremde“ als Grund oder Inbegriff des Bösen findet. „Ausländer raus“ und keine Verpflichtungen in internationalen Staatenorganisationen eingehen, sind dann die Wege zur Wiederherstellung des gerechten und guten Zustandes. Wenn das Volk wieder „deutsch“ sei und der Staat so nur „dem Deutschen“ diene, dann sei die Rechte-Pflichtengemeinschaft wieder in Ordnung.
Jebsen geht einen anderen Weg. Die Suche nach den bösen Menschen läuft bei ihm über die Frage „Cui bono?“, also wem nützt das? Weil es um die Erklärung einer nicht-vorhandenen Rechte- und Pflichtengemeinschaft geht, sucht sich Jebsen den Grund in einer Motivation von Akteuren, die in einem Egoismus liegen muss. Hier wird er dann fündig. Das ist der Weg hin zu seiner Weltanschaung: Man hat Ideale, man kann sich viele Sachen in der Welt nicht erklären, vieles erscheint unsinnig. Dann hat man einen Einfall, quasi ein „Aha-Erlebnis“, warum das Ideal nicht Wirklichkeit ist: Hinter dem Regierungshandeln steht letztlich die Profitmacherei einzelner. Wenn man den Gedanken erstmal hat, dann geht die Reise rückwärts und man erklärt sich alle bisherigen und zukünftigen Ungereimtheiten, die man entdeckt, mit dieser Leitlinie. Letztlich ist alles von den Superreichen gekauft, inszeniert usw. So ergeben sich bei Jebsen dann lauter Zusammenhänge, die aus einem James-Bond-Film geklaut sein könnten und die den Normalbürger*innen als spinnert erscheinen – was sie natürlich auch sind:
Bill und Melinda Gates. Die reichsten Privatpersonen der Welt. Krisengewinnler*innen, weil die Corona-Pandemie und die dabei beschlossenen Massnahmen, das Internetgeschäft beflügeln. Krisengewinnler*innen, weil deren Stiftung weltweit im Gesundheitswesen unterwegs ist und derzeit von den Staaten (die auf ihren Haushalt achten) gerne als Mitfinanzierer für Projekte ins Boot geholt werden.
Jebsen hat nichts dagegen, dass es arme und reiche Menschen gibt. Er hat auch nichts dagegen, dass Unternehmen das Eigentum der Inhaber*innen vermehren, also sich mit Geldreichtum Produktionsmittel kaufen, Arbeitskräfte kaufen, die für sich arbeiten lassen, so dass der Warenberg am Ende, der dem Unternehmen gehört, mit Gewinn verkauft werden kann. Er hat ein Problem, wenn das zu weit geht.[13] Jebsen will nicht – wie in einem herkömmlichen DER SPIEGEL-Artikel – einfach ein einzelnes Gesetz erklären, dafür dessen Zustandekommen investigativ erforschen und als Ergebnis dabei auf Lobbyverbände stossen. Er möchte vielmehr das generelle Auseinanderfallen von Regierungspolitik und Dienst am Volk erklären und dafür halluziniert er sich eine grössere Profitstrategie zusammen: Das Ehepaar Gates habe soviel Geld, dass sie sich nicht nur Produktionsmittel und Arbeitskräfte kaufen, sondern gleich noch ganze Regierungen dazu. Die erlassen dann Gesetze, die das Gates-Geschäft befördern. Und dann können Bill und Melinda das ganze wiederum nochmal von vorne machen und immer besser.[14]
So lebt Jebsen nicht mehr in einer Demokratie, die Gesundheitspolitik macht, dabei z.B. Unternehmen vorschreibt, wie sie ihre Medikamente auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen prüfen müssen (was er richtig findet), sondern in einer „Gesundheitsdiktatur“: Die Menschen würden gezwungen als Versuchskaninchen und Laborratten zu fungieren, wenn Staaten (von Gates gekauft oder erpresst)[15] eine Impfpflicht verordnen wollen und zugleich die Testreihen für die Corona-Impfstoffe verkürzen.
Ein kleines Zwischenfazit: Die Idee von Superreichen Strippenziehern hinter der Politik ist der erste Baustein dafür, dass Jebsen sich das Etikett Verschwörungstheoretiker einhandelt. Die Idee ist eine Theorie und eine Ideologie. Sie „erklärt“ ihm (und seinen Gesinnungsgenoss*innen) das Drangsal, dass ihr Ideal, der Dienst des Staates an den Bürger*innen, keine Wirklichkeit hat.
Jebsen mag anhand des Corona-Themas einigen Leuten die Augen für seine Deutung der Welt geöffnet haben. Für ihn selbst war das Weltbild bereits vorher fertig und er hat es anhand der Pandemie nur aktualisiert und modernisiert: Sein Hauptthema vorher war Krieg und Frieden in der Welt (Palästina, Libanon, Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Ukraine, Iran) und die neuen Befugnisse, die sich die Staaten im Zuge des Kampfes gegen den politischen Islamismus genehmigt haben. Auch da galt: Für ihn total unverständliche Kriege und nationale Kreuzzüge gegen den Islam, die keinem Staat der Welt (nichtmal der USA) nützen würden, erklären sich über den Profit der Rüstungs- und Ölkonzerne. Die hätten die Regierungen gekauft. Bezüglich der Haltung der westlichen Welt gegenüber Israel und der Palästinenser*innenfrage ging er soweit, die Hauptbösewichte in einigen amerikanisch-jüdischen Superreichen zu finden, die die Regierungen des Westens im Griff hätten.[16]
Wo Staaten mit- und gegeneinander um Über- und Unterordnungsfragen konkurrieren, sich allerlei Waffensysteme auf der Erde und im Weltall beschaffen, sich bedrohen und dabei diplomatisch mitteilen, was sie voneinander wollen und in letzter Konsequenz einen Krieg führen, wenn das Gegenüber uneinsichtig bleibt, da verharmlost Jebsen die ganze Angelegenheit als Profitsteigerungsstrategie der Superreichen. So erhält er sich auch an dieser mörderischen Ecke staatlicher Politik das Ideal der Demokratie als allseitige Nutzengemeinschaft. In einer wirklichen Demokratie, die nicht gekauft wäre, könnte es all das gar nicht geben.
Ein Volk von Schafen
Das einfache Volk (zu dem die Superreichen für ihn natürlich nicht gehören) hat Jebsen einerseits lieb. Das ginge ganz unegoistisch seinem Tagewerk nach und wolle eigentlich nur Frieden. Andererseits hat er viel Verachtung für das Volk über, denn dass sich die Leute eine Politik gefallen lassen, die für Jebsen offenkundig moralisch verwerflich agiert, spricht gegen den Geisteszustand des Volkes.Mit diesem Standpunkt könnte er sich von der politischen Bühne verabschieden und wie so viele Menschen selbstgerecht und besserwisserisch rummaulen, wie dumm die Menschen seien. Jebsen hat da aber noch einen rettenden Einfall: Im Grunde kann das Volk gar nichts für seine Dummheit, weil es von Politik, Medien und Intellektuellen manipuliert werde.[17] Nicht nur die Politik sei von den Superreichen gekauft, sondern auch die öffentliche Meinung und die Intellektuellen.[18] Dagegen betreibt Jebsen seine Gegenöffentlichkeit und hier ergibt sich der zweite Baustein dessen, was gemeinhin Verschwörungstheorie genannt wird: Die Superreichen, die gekaufte Politik und die gekauften Medien würden lauter Ereignisse erfinden oder inszenieren, um die einfachen Leute einzuseifen.
Objektiv ist es so: Für jede einschneidende Massnahme der Politik gibt es in der Regel einen Anlass. Die Anschläge auf die Twin Tower nahm die USA zum Anlass den Krieg gegen den Terror auszurufen mit einigen neuen Kriegsschauplätzen in der Welt. Die islamistisch motivierten Anschläge in Frankreich (z.B. Charlie Hebdo) waren der Anlass für anhaltende Notstandsgesetze in Frankreich. Die Corona-Pandemie war in vielen Staaten der Anlass für umfangreiche Notstandsgesetzgebungen in Sachen Seuchenschutz.
Der Anlass ist eben aber nicht der Grund der politischen Entscheidungen. Es ist die Politik, die solche Anlässe politisch deutet und die entsprechende Deutung als Legitimation ihrer folgenden Politik nimmt. Eine vernünftige Auseinandersetzung würde versuchen, die drei Ebenen zu analysieren und unterscheiden zwischen 1.) Anlässen (und woher sie kommen), 2.) Legitimationen von Kriegen oder Gesundheitspolitik und 3.) den sachlichen Gründen für die Kriege und die Gesundheitspolitik. Jebsen geht anders vor:
Er nimmt zur Kenntnis, dass die Anlässe bei der Legitimation der Politik eine Rolle spielen und Menschen dann vieles mitmachen, was ihm nicht schmeckt. Er nimmt jetzt nicht die Legitimation kritisch ins Visier, sondern fängt an, gleich die Beschaffenheit der Anlässe zu hinterfragen und Zweifel zu sähen. 9/11 sei letztlich von der CIA inszeniert gewesen. Islamistisch motivierte Attentäter in Frankreich oder anderswo seien vom Geheimdienst gesteuert. Corona sei auch nur eine harmlose Grippe.
So betreibt Jebsen seine alternative Aufklärung, die gleich drei Zwecke erfüllt: Erstens solle so der Regierungspolitik nicht nur die Legitimation entzogen, sondern zweitens durch die Aufdeckung der „Wahrheit“ der korrupte Charakter und die manipulative Strategie der Superreichen gleich mit aufgedeckt werden. Drittens werde den einfachen Leuten so die Angst genommen und dann können sie besser nachdenken. Das gehört für Jebsen nämlich zur Strategie der Strippenzieher dazu, wenn diese Ereignisse „erfinden“. Sie wollten das einfache Volk ständig in Angstzuständen halten, damit sie gefügig blieben. Die grosse Aufgabe des Widerstandskämpfers zur Wiederherstellung der gerechten Nation und Demokratie – Jebsen – ist es, dem Volk die Angst zu nehmen.
Was braucht es laut Jebsen?
Die Bevölkerung müsse aufwachen und sich nicht mehr täuschen lassen wollen. Um das „einfache“ Volk aufzurütteln, müssen die „Lügen“ der Presse und der Intellektuellen entlarvt werden und dem Volk die Angst genommen werden. Es brauche einen Aufstand des Volkes gegen die Regierung bzw. gegen das gesamte System.[19] Das Ziel ist ein Staat und eine Regierung, die endlich gut und selbstlos dem guten und selbstlosen einfachen Menschen (und den anderen selbstlosen und guten Staaten und Völkern in der Welt) dient – dafür wird mit dem Grundgesetz rumgewedelt. Der erste Beweis für die Güte so einer geläuterten Regierung wäre es, wenn sie die bisherigen Politiker*innen und Intellektuellen wegen Hochverrat zur Rechenschaft ziehen und in den Knast werfen würde.[20] Alles weitere Gute in der Welt ergibt sich dann.Mit diesem Blödsinn, der beweist, wieviel Gewaltphantasie und Strafbedürfnis einem guten moralischen Menschen zu eigen ist, handelt er sich die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ein, was ihm natürlich wiederum nur als Bestätigung seines Weltbildes dient.
Nachtrag
Die ARD, NDR und andere haben eine Podcast-Reihe über Ken Jebsen namens „Cui Bono“ gesendet. Darin kritisieren sie nicht die verkehrte Logik des „Cui Bono“, sondern wenden diese Logik auf Ken Jebsen selber an. Die Einleitung der Folge 1 geht so:„Also was ist mit Ken Jebsen passiert? Vom geliebten Radiomoderator zum vielleicht einflussreichsten Verschwörungstheoretiker Deutschlands. (…) Wie konnte es dazu kommen? Was treibt Ken Jebsen an? Geht es ums Geld? Geht es um Macht? Geht es am Ende nur ums Ego? Oder geht es um Hintermänner, die ganz andere Absichten verfolgen? (…) Cui Bono? Wem zum Vorteil? Eine Frage, die sich Verschwörungstheoretiker*innen auch immer stellen, weil sie eine Geschichte hinter der Geschichte vermuten. Eine Verschwörung eben. Wir drehen den Spiess um und stellen diese Frage zurück. Welche Interessen, welche Akteur*innen stehen hinter den Verschwörungstheorien, hinter Ken Jebsen und Ken FM.“ (Cui Bono – Folge 1)
Während Jebsen Deutschland liebt, darüber lauter Ideale hat, sich mit der Nicht-Verwirklichung der Ideale nicht abfinden will und sein Ideal rettet, indem er lauter Sachen erfindet, die hinter Deutschland stecken, gehen die Podcast-Macher*innen analog vor:
Sie lieben Ken Jebsen als jungen, innovativen und lustigen Radio-Fritzen und haben über ihn und über die Demokratie lauter Ideale. „Wie konnte es dazu kommen?“ leitet eine Erklärung der Veränderung von Jebsen ein, die auf jeden Fall nichts mit dem jungen, innovativen und lustigen Radio-Fritzen zu tun haben könne. Er war damals ein anständiger Demokrat und das kann ja nichts mit dem heutigen Jebsen zu tun haben. Um sich ihr Ideal über diesen jungen Radio-Fritzen zu erhalten, müssen sie für die Veränderung von Ken Jebsen lauter Sachen erfinden oder investigativ herausgraben, die hinter Ken Jebsen stecken.
Da kann man gespannt sein, ob die Podcast-Macher*innen mit ihrer investigativen Schläue, mit ihren Demokratie-Idealen und einigen Enttäuschungen im Leben reicher, dann in einigen Jahren nicht genau da landen, wo Jebsen und viele andere schon stehen.