Anarchismus des krisenfreien Zeitalters Murray Bookchins „Hör zu, Marxist“
Politik
Neugelesen: Murray Bookchins (1921-2006) Pamphlet „Hör zu, Marxist!“ sollte 1969 die amerikanische Studentenbewegung vor marxistischem Einfluss warnen und den Anarchismus mit den Ideen der „Neuen Linken“ verknüpfen. Wie liest sich Bookchins Kritik heute?
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15. Januar 2021
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So ist seine Kritik an die Vorstellungen des traditionellen Marxismus von der unabwendbar kommenden Endkrise des Kapitalismus merklich von Paul Baran und Paul Sweezy beeinflusst – damals den bekanntesten marxistischen Ökonomen in den USA.[2] Ihre Vorstellungen vom entwickelten Kapitalismus, welcher nicht mehr durch Überproduktion, sondern durch Unterkonsumption gekennzeichnet ist, verknüpft Bookchin mit – ebenfalls unübersehbaren Entlehnungen vom Vater der „Neuen Linken“, Herbert Marcuse, der von der Integration der Arbeiterklasse ausgehend „marginale Gruppen“ als ein neues revolutionäres Subjekt entdeckte.[3]
Bookchins These ist, dass der ausschlaggebende Grund der kommenden Revolution nicht die Verelendung, sondern der Wohlstand der Gesellschaft sein wird. „Der Zersetzungsprozess der traditionellen Klassenstruktur schafft zugleich eine stetig wachsende Anzahl von Menschen eines neuen Typs: die Revolutionäre.“ (S. 63) Anderes als seine marxistischen Kontrahenten verschwinden für Bookchin die Klassen vor und nicht erst nach der Revolution – eine Folge des Wohlfahrtstaates und der Krisenabwesenheit. Ihm, der Arbeiterleben und
Arbeiterbewegung aus eigener Erfahrung kennt, gilt die „deklassierte“ Jugend als die grosse Hoffnungsträgerin: „eine Generation, welche keine ökonomische Dauerkrisen mehr erlebt hat, und für die der Mythos von der materiellen Sicherheit, der die Menschen der dreissiger Jahre so beherrschte, kaum noch von Bedeutung ist.“ (S. 64) Bookchin ruft zur Revolte gegen den keynesianisch geprägten Kapitalismus der Nachkriegsjahre auf und erliegt gleichzeitig der vorherrschenden Ideologie – Klassen befänden sich in Auflösung, Krisen seien nicht in Sicht.
Gleichzeitig macht sich die leninistische Vergangenheit Bookchins bemerkbar. Er, der erst bei moskautreueren Kommunisten und später bei den amerikanischen Trotzkisten Erfahrungen sammelte, blieb scheinbar ein Anhänger der Theorie von Monopolkapitalismus und Arbeiteraristokratie. „Die Wirtschaft neigt heute zum zusammengehen mit dem Staat, und der Kapitalismus beginnt, seine eigene Entwicklung zu ‚planen', anstatt sie ausschliesslich den Kräften der freien Marktwirtschaft zu überlassen. Das System will freilich nicht den traditionellen Klassenkampf abschaffen; aber es dämmt ihn sozusagen ein, indem es seine enormen technischen Hilfsmittel dazu verwendet, die wichtigsten Teile der Arbeiterklasse ins eigene Lager hinüberzuziehen.“ (S. 59)
Neu ist bei Bookchin, dass er diese Prozesse auf die technischen Möglichkeiten zurückführt. Verelendung tritt nicht ein, weil das technische Potential gewachsen sei. Darauf liesse sich einwenden, dass auch im 19. Jahrhundert das Elend der unteren Klassen nicht in der Knappheit von z. B. Essen und Kleidung bestand. Produktion für den Markt bedeutete auch damals, dass Menschen angesichts der vorhandenen, aber für sie unerschwinglichen Produkte hungerten und froren. Für Bookchin steht fest: „Die anarchistischen Strömungen der Vergangenheit blieben weitgehend ohne Erfolg, weil der materielle Mangel, eine Folge des niedrigen technologischen Niveaus, kein organisches Aufeinanderabstimmen der menschlichen Interessen erlaubte.“ (S. 81) Seine später ausgearbeiteten Thesen von der „Nach-Mangelgesellschaft“ werden in „Hör zu, Marxist!“ vorweggenommen.[4]
Bookchin warnt die rebellierende Jugend vor der Verklärung der Arbeiterbewegung. „Der Arbeiter wird nicht dadurch zum Revolutionär, dass er ein noch besserer Arbeiter wird, sondern dadurch, dass er sich von seinem ‚Arbeitertum' distanziert.“ (S. 62) Während diverse marxistisch-leninistische Gruppen jeden gewerkschaftlichen Kampf als einen Schritt in Richtung Überwindung der Verhältnisse feierten, scheint Bookchin mit der Unterscheidung zwischen den Interessen als Lohnarbeiter und dem Interesse für Lohnarbeit zu brechen.
Es gibt keinen automatischen Übergang zwischen Kämpfen im System und Kämpfen gegen das System. Jedoch sieht er in der Position der Lohnabhängigen im Kapitalismus keinen prinzipiellen Unterschied zu den anderen Gruppen, während marxistische Theorien die Notwendigkeit des Interessenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital betonen. „Und darin ist er [der Arbeiter – Anm. des Verfassers] nicht allein; dasselbe gilt für den Farmer, den Studenten, den Angestellten, den Soldaten, den Bürokraten, den Geistesschaffenden“ (Ebd.).
Im Mittelpunkt steht nicht – wie bei marxistischen Autoren – das objektive Klasseninteresse, sondern der subjektive Wunsch nach einem – recht diffus vorgestellten – anderen Leben. Bookchin unterstellt diesen Wunsch ziemlich vielen Menschen der zeitgenössischen USA. Im Gegensatz zu Marcuse und zur Frankfurter Schule, die vor neuen Diktaturen warnen, ist Bookchins Blick auf die Gesellschaft sehr optimistisch. Sein Bild von der Geschichte ist ebenfalls voller Hoffnung auf „gute“ Intentionen der breiten Massen. Besonders deutlich wird es, wenn Bookchin über die Russische Revolution von 1917 schreibt.
Wie die meisten linken Kritiker des Bolschewismus geht er von einem Gegensatz zwischen der autoritären Partei (von oben) und den nach dem „richtigen Sozialismus“ strebenden Organen der Selbstverwaltung (meist werden solche Räte genannt, aber Bookchin verwirft die zugunsten der Fabrikkomitees) von unten aus. (S. 72-73) Dass die Mehrheit links von den Bolschewiki gestanden hat, ist für Bookchin, wie für viele andere Anarchisten und Rätekommunisten ein unerschütterliches Dogma. Er schreibt entzückt über die Bauernkommunen, die angeblich „ureigentliche Schöpfungen des Volkes waren, Keimstäten einer moralischen und sozialen Gesinnung, welche turmhoch über den enthumanisierenden Werten der bürgerlichen Gesellschaft stand.“ (S. 73-74)
Nicht der zivilisatorische Messianismus der Bolschewiki, sondern die „moralische Gesinnung“ der traditionellen Gesellschaft sieht Bookchin als treibende Kraft der Revolution. Am nächsten kommt er mit dieser Sicht den russischen Volkstümmlern („Narodniki“) und Sozialrevolutionären, die gegen den sozialdemokratisch-bolschewistischen Fortschrittsglauben die Dorfgemeinschaft als Keimzelle des kommenden Sozialismus hochhielten.
Bookchin ist ein rückwärtsgewandter Optimist. Die Welt ist für ihn reif für die Vergangenheit. Später wurde ein positiver Bezug auf den demokratischen Gründungsgeist der amerikanischen Ursiedler in seinem Werk immer häufiger, so dass Ulrike Heider, der Autorin eines der lesenswertesten Bücher über den US-Anarchismus, ihm 1992 sogar amerikanischen Nationalismus attestierte.[5] Bezogen auf seine Zeit jedoch warnt Bookchin die Neue Linke vor der Begeisterung für den Befreiungsnationalismus in der „Dritten Welt“ oder für den afroamerikanischen Separatismus. Für ihn bilden die hochentwickelten Länder des Westens das „Hauptschlachtfeld“.[6]
Bookchins Analyse der bisherigen Revolutionen lässt ihn zum Schluss kommen, dass die Avantgardeorganisationen und vor allem die Parteien sich als nutzlos, oft auch als schädlich erwiesen hätten. Solchen Organisationen stellt er das Beispiel von der „Bewegung des 22.
März“ während Maiereignisse in Paris 1968 gegenüber – eine Organisation, welche als Katalysator „und nicht wie ein Anführer“ gewirkt habe. (S. 67) Die „Bewegung 22. März […] gab Impulse und überliess die Dinge dem freien Spiel der Kräfte.“ (Ebd.) Wie schon in seiner Rezeption der Oktoberrevolution geht Bookchin von einem Gegensatz zwischen dem Organisationsegoismus und den Interessen der Bewegung aus, wobei er stillschweigend unterstellt, dass die Bewegung bereits auf der richtigen Seite steht und eine zu starke Einmischung der Organisation verderblichen Einfluss haben muss.
Bookchins Vision von einem alternativen Ausgang der Russischen Revolution sieht dann z.B. folgendermassen aus: „Hätte die aus dem Volke kommende Bewegung die ursprünglichen Ergebnisse der Revolution von 1917 wieder erneuert, hätte sich höchstwahrscheinlich eine vielfältige Gesellschaftsstruktur herausgebildet. Die Voraussetzung hierfür wären durch die Arbeiterkontrolle in der Industrie, durch freie Märkte in der Landwirtschaft und durch eine lebendige Wechselwirkung zwischen Ideen, Programmen und politischen Bewegungen gegeben gewesen.“ (S. 77) Oft als Anarchokommunist etikettiert, argumentiert Bookchin bisweilen durchaus liberal für „freie Märkte“ und das „freie Spiel der Kräfte“.
An anderer Stelle kritisiert er aber auch die „Eigentumsgesellschaft“, jedoch ohne Erklärung, wie er sich ein Marktsystem ohne Eigentum vorstellt. (S. 81) Auch wenn „Hör zu, Marxist!“ keine ökonomische Schrift ist, springt diese Differenz zu dem vom Autor kritisierten Marxismus ins Auge. Bookchin scheint der Markwirtschaft durchaus positive Aspekte abzugewinnen, geht aber auf diesen Punkt nicht weiter ein. Ihm erscheinen viel grundsätzlicher die organisationstheoretischen Unterschiede zu marxistischen Strömungen.
„Die wirklichen Revolutionäre“, so Bookchin, müssen „in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Revolution [Herv. Im Original – Anm. des Verfassers]“ handeln „und nicht als Vollstrecker der von der Partei gefassten Beschlüsse.“ (S. 85-86) Dass zwischen den Beschlüssen der Organisationen, die eine Revolution anstreben und den ominösen „Interessen der Revolution“ ein Widerspruch besteht, ist eine Grundannahme Bookchins. Zugleich ignoriert er die Möglichkeit, die Mehrheit in von ihm herbeigesehnten „Organen der Selbstverwaltung“ könnte sich auch gegen die revolutionäre Ziele wenden (wie es sowohl während der russischen, als auch während der deutschen Revolution häufig vorkam).
Nach Bookchin bedeutet die Lehre aus der Leninismus-Kritik: „[…] der Revolutionär hat sich den revolutionären Organen der Selbstverwaltung und nicht der revolutionären ‚Organisation' verpflichtet zu fühlen, oder anderes ausgedrückt: den sozialen Körperschaften und nicht den politischen.“ (S. 86) Von der bolschewistischen Version der „Diktatur des Proletariats“ sich abwendend, geht Bookchin davon aus, dass bei einer richtig modellierten Demokratie in seinem Sinne die richtigen Kräfte sich schon durchsetzen würden.
Auf was basiert Bookchins ungetrübter Optimismus? Er beschreibt den Anarchismus selber als „eine Bewegung, die sich aus innerem Bedürfnis heraus für die Humanität einsetzt und sich gegen alle Formen des Zwanges wendet, die seit dem Aufkommen der Eigentumsgesellschaft, der Klassenherrschaft und des Staates entstanden sind.“ (S. 81) Der prinzipielle Unterschied zu marxistischen Konzeptionen, die den Begriff der Interessen in den Mittelpunkt der revolutionstheoretischen Überlegungen rücken, besteht in der an Kropotkin angelehnten anthropologischen Sicht Bookchins ein „inneres Bedürfnis nach Humanität“ (ein Begriff, den er an keine Stelle erläutert). Es wird einfach unterstellt, die Frage jedoch, bei wem und wieso dieses Bedürfnis sich überhaupt manifestiert, ergibt sich erst gar nicht.
Zu seinen Differenzen mit der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie äussert sich Bookchin erst im 1970 hinzugefügten Anhang „Eine Diskussion über ‚Hör zu, Marxist!'“: „Zwei Dinge stören mich an den späten Arbeiten von Marx besonderes: ihre Pseudo-Objektivität (vorgetäuschte Sachlichkeit) und die Hindernisse, die sie dem utopischen Denken entgegenstellen. […] Er [Marx – Anm. des Verfassers] lehnte jede moralische Bewertung der Gesellschaft ab und wurde in seinem späteren Jahren immer mehr ein Gefangener der Wissenschaftlichkeit und mathematischer Kriterien der Wirklichkeit.“ (S. 104)
Bookchin lobt zwar den technischen Fortschritt und damit die naturwissenschaftliche Erkenntnis, aber, ähnlich wie bei Bakunin, stimmt ihn der Erkenntnisanspruch der Gesellschaftswissenschaften misstrauisch. Marx wollte die Gesellschaft auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Analyse kritisieren – Erklärung und Kritik fielen für ihn zusammen. Bookchin will seine Kritik anthropologisch (das Bedürfnis nach Humanität sei im Menschen angelegt) und moralisch begründen. Nicht die Objektivität beanspruchende Analyse des Bestehenden, sondern subjektive Wünsche nach Verwirklichung von eigenen Entwürfen – „utopisches Denken“ soll Ausgangspunkt des Anarchismus sein. Bookchin hat Marx ganz treffend als Feind von Utopien und Kritiker von Moral verstanden.
Der späte Marx hat sowohl rechte (der Mensch an sich ist böse und muss eingeschränkt werden), als auch linke (der Mensch ist ursprünglich gut und nur durch die gesellschaftliche Einschränkung verdorben) anthropologische Argumentationen abgelehnt. Bookchins Kritik am Objektivismus wird nicht zufällig im Namen der „Humanität“ vorgebracht. Die er sieht als das „Wesen des Menschen“ eigentlich durch Freiheit beherrscht: „Die Freiheit wird [durch den Objektivismus, Anm. des Verfassers] ihrer Unabhängigkeit und ihrer Oberherrschaft über die menschliche Natur beraubt“ (S. 105)
Mit „Hör zu, Marxist!“ verabschiedete sich Bookchin endgültig von seiner arbeiterbewegten Vergangenheit. Vor ihm lagen Jahre in Vermont, wo er sich vor allem mit der Ökologie und der lokalen Selbstverwaltung beschäftigte. Direkte Demokratie in kleinen Siedlungen galt ihm zunehmend als Meisterweg. Die Frage, warum bei einer direkten Demokratie per se mehr Beschlüsse im Sinne des „libertären Kommunalisten“ Bookchins fallen sollen, stellte ihm sich nicht. Wenn die menschliche Natur auf Freiheit programmiert sei, müsste man nur noch dafür sorgen, dass der freie Wille ungeachtet seines Inhalts sich entfalten kann.
Fussnoten:
[1] Murray Bookchin, Hör zu, Marxist!, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand (1970), S. 49-108. Alle Angaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text.
[2] Paul Baran; Paul Sweezy, Monopolkapital : Ein Essay über die Amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Frankfurt/M 1973.
[3] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Frankfurt/M 1967.
[4] Murray Bookchin, Post-Scarcity Anarchism, Edinburgh/Oakland 1971.
[5] Ulrike Heider, Die Narren der Freiheit. Anarchisten in den USA heute, Berlin 1992, S. 77, 83, 108 f.
[6] Ulrike Heider verweist auf die Widersprüchlichkeit des Spätwerkes von Bookchin – einerseits war er lebenslang einer der schärfsten Kritiker des Anarchoprimitivismus, der „Tiefenökologie“ und des esoterisch geprägten Anarchismus, gleichzeitig teilte er mit diesen Strömungen durchaus viele Prämissen.
Dieser Text ist erstmals in „Erkenntnis Nr. 21 - E-Journal der Pierre Ramus-Gesellschaft” erschienen.
[1] Murray Bookchin, Hör zu, Marxist!, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand (1970), S. 49-108. Alle Angaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text.
[2] Paul Baran; Paul Sweezy, Monopolkapital : Ein Essay über die Amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Frankfurt/M 1973.
[3] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Frankfurt/M 1967.
[4] Murray Bookchin, Post-Scarcity Anarchism, Edinburgh/Oakland 1971.
[5] Ulrike Heider, Die Narren der Freiheit. Anarchisten in den USA heute, Berlin 1992, S. 77, 83, 108 f.
[6] Ulrike Heider verweist auf die Widersprüchlichkeit des Spätwerkes von Bookchin – einerseits war er lebenslang einer der schärfsten Kritiker des Anarchoprimitivismus, der „Tiefenökologie“ und des esoterisch geprägten Anarchismus, gleichzeitig teilte er mit diesen Strömungen durchaus viele Prämissen.
Dieser Text ist erstmals in „Erkenntnis Nr. 21 - E-Journal der Pierre Ramus-Gesellschaft” erschienen.