Murray Bookchin war immer seiner Zeit voraus. 2021 haben seine Ideen das Potenzial, die Linke in Europa und in der Schweiz, aus ihrer Ratlosigkeit herauszuholen. Seit einiger Zeit wird überall die “soziale und ökologische Wende” beschworen. Was ist damit überhaupt gemeint, wenn es nicht bloss eine leere Aussage sein soll? Murray Bookchin war einer der Ersten, der Ökologie und Gesellschaft zusammendachte. Seine “Soziale Ökologie” bietet einen kohärenten theoretischen Hintergrund, um diesen Zusammenhang zu verstehen. “Alle ökologischen Probleme sind im Grunde soziale Probleme”, lautet eine vielzitierte Aussage von ihm.
Ökologie heisst nicht, möglichst umweltverträgliche, ressourcenschonende Technologien und Wirtschaftspraktiken zu erfinden, sondern unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das auch ewigem Wachstum (“grow or die”) beruht, grundlegend in Frage zu stellen. Für Bookchin heisst das auch, die Verflechtung von institutioneller Politik und Wirtschaftslobbyismus abzulehnen. Die Politik soll nicht von Berufspolitiker*innen gemacht werden, sondern (wieder) von den Menschen im Alltag: mit direkter Demokratie auf der lokalen Ebene. Das sind ähnliche Forderungen, wie Teile der heutigen Klimabewegung in der Schweiz sie stellen.
Kommunalismus bedeutet, dass die Kommune der Ort sein soll, an dem Politik stattfindet. Also die Gemeinde, das Dorf, das Quartier, die Stadt – kurz gesagt die Sphäre, in die man eintritt, sobald man die Türschwelle des Privaten überschreitet. Bookchin plädiert für direktdemokratische Versammlungen, in denen die Menschen selbstbestimmt ihre täglichen Angelegenheiten untereinander regeln. Die selbstverwalteteten Kommunen wiederum vernetzen sich konföderalistisch, sie wiederholen also auf regionaler Ebene dasselbe Prinzip als “Kommune der Kommunen”. Die Selbstverwaltung in Rojava hat dieses System mit dem “Demokratischen Konföderalismus” praktisch umgesetzt – und es zeigt sich, es funktioniert erstaunlich gut.
Bookchin neu lesen
Im Jahr 2021 drängt es sich auf, sich an Murray Bookchin, der in den 1970er- und 1980er-Jahren neben Noam Chomsky der bekannteste linke US-Intellektuelle war, zu erinnern und ihn wiederzuentdecken. Und ihn neu zu lesen.Die Meinungen über Murray Bookchin gleichen in der politiktheoretischen Welt einer Karikatur, die ihm nicht gerecht wird. Bookchin wird oft als Polemiker gezeichnet: Er schoss scharf gegen alle esoterischen Formen der Ökologie (deep ecology und Varianten des Ökofaschismus) und wurde dafür von Umweltaktivist*innen mit Schimpf und Schande überzogen. Er kritisierte den dogmatischen Marxismus-Leninismus-Maoismus, der in den 1970er-Jahren aufkam, und wird deshalb von vielen Marxist*innen argwöhnisch beäugt. Und schliesslich brach er auch mit den Anarchist*innen: nämlich mit dem Teil von ihnen, die nicht einen “sozialen Anarchismus” wollen, sondern eine individualistische Variante. (Bookchin nannte sie “Lifestyle-Anarchist*innen”).
Die Folge war, dass die negative Literatur über Bookchin anschwoll und unüberschaubar wurde – und eine ehrliche, kritische Auseinandersetzung mit ihm erschwerte. Andy Price hat dies mit seinem Buch “Recovering Bookchin” (2012) aufgearbeitet – er spricht die geläuftigsten ungerechtfertigten Kritikpunkte an und löst sie auf. Was nicht heisst, an Bookchin gäbe es nichts zu kritisieren.
Einiges ist problematisch oder muss an den aktuellen Stand der Forschung angepasst werden – aber dazu sind Denker*innen da, würde Bookchin sagen, dass andere über sie hinausgehen, so wie er es mit seinen eigenen Vordenker*innen getan hat, von Aristoteles, Hegel und Marx bis zu Hannah Arendt und Theodor Adorno.
Zudem betonte Bookchin immer, dass er keinen “blueprint” geben will, keine Zauberformel für die perfekte Gesellschaft. Er schlägt lediglich Prinzipen vor: beispielsweise eine egalitäre Gesellschaft, Diversität, Komplementarität (bezüglich wirtschaftlicher “Leistungsfähigkeit”), gegenseitige Hilfe (mutual aid), direkte Demokratie, Freiheit. Wie diese Prinzipien umgesetzt werden, entscheiden erst die selber Betroffenen an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit.
Wenn also Bookchin etwas nicht war, dann ein Dogmatiker. Er mag polemisch gewesen sein, aber wer sich die Mühe nimmt, sein Hauptwerk “Ecology of Freedom” (oder irgend eine seiner Schriften) tatsächlich zu lesen, trifft auf einen rationalen, geistig offenen Denker, dessen Menschenfreundlichkeit überall durchschimmert. Bookchin ging es immer darum, das Leben der Menschen zu verbessern und das Leid zu verringern.
Die Praxis des 21. Jahrhunderts gibt ihm recht
Bookchin neu lesen heisst auch, ihn im Licht des 21. Jahrhunderts zu lesen. Soziale Ökologie und Kommunalismus sind nicht bloss Nischentheorien, als welche sie oft abgetan werden. Murray Bookchin war nicht einfach ein “Ökoanarchist”. Seine grosse Leistung für die heutige linke Theorie muss anerkannt werden: Was ihm gelang, ist nichts weniger als eine Synthese aus Marxismus und Anarchismus. Die ständig plagende Frage: “Wieviel Autorität ist nötig, wieviel Freiheit ist möglich?” hebt er auf eine neue Stufe empor: mittels der direkten Demokratie, die sich konföderalistisch auf den über-lokalen Ebenen vernetzt. Die heutige Praxis gibt ihm recht: Bewegungen wie Black Lives Matter, die weltweiten Proteste von 2019/2020 oder der Klimastreik finden auf je eigene Weise zur direkten Basisdemokratie.Gerade wenn wir ans Klima denken: Welche Lösungen wir in den nächsten, entscheidenden Jahren entwickeln, hängt davon ab, welche ethische Haltung hinter unserem Denken steckt. Die Soziale Ökologie mit dem zugrundeliegenden philosophischen Konzept des “dialektischen Naturalismus” bietet dazu einen rationalen theoretischen Leitfaden.
Es reicht nicht, Elektromobile zu bauen und die Wirtschaft “grüner” zu machen, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Die Wirtschaft, die ja letztlich auch ein Teil der Gesellschaft ist, muss demokratischer werden. Bookchin sprach von der “Kommunalisierung der Wirtschaft” – Ansätze dazu finden sich in Rojava und in anderen Kooperativen-Bewegungen auf der ganzen Welt.
Die Denkbewegung entwickelt sich
Das Statische, Mechanisch-Quantitative schien ihm immer unzureichend. In allen Dingen sah er Entwicklung, Dynamik, dialektische Bewegung. Auch persönlich hat der 1921 geborene Murray Bookchin eine lange persönliche Entwicklung durchgemacht: Im linken jüdischen Milieu von New York geboren, machte er in kommunistischen Jugendgruppen mit, wurde aber vom Stalinismus desillusioniert und wurde Trotzkist. Er fieberte mit den Nachrichten von der Spanischen Revolution (1936–1939) mit und war als Fabrikarbeiter in Gewerkschaften aktiv.Er wurde einer der führenden Redner der frühen Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung. Er beeinflusste sogar die Grünen in Deutschland. Er griff die Theorien des Anarchismus auf, um sich später differenziert dazu zu äussern und schliesslich dieses Label ganz abzulegen und gegen sein eigenes Konzept des Kommunalismus oder libertären Munizipalismus einzutauschen. Von den Schriften, die er in den letzten Jahren vor seinem Tod 2006 schrieb, sind einige posthum erschienen (u. a. das erfolgreiche “Die nächste Revolution”), einige warten noch auf die Veröffentlichung.
Diese lange Entwicklung stellt gleichzeitig eine lange Denkbewegung dar. In vielen Punkten war sie um Jahre ihrer Zeit voraus und heute, wo wir auf unumkehrbare Klimawandelfolgen blicken, zeigt sie, zugespitzt, auf einen kritischen Wendepunkt in unserer Gesellschaft.
Eine Denkbewegung, die nicht abgeschlossen wird, sondern weitergeht: am Institute for Social Ecology (ISE) in Vermont, das eine umtriebige Lehr- und Autor*innen-Aktivität an den Tag legt, auf Twitter und Reddit, in der Praxis der sozialen Bewegungen. Heute ist klar: Murray Bookchin ist nicht der letzte wichtige politische Theoretiker des 20. Jahrhunderts, sondern einer der ersten des 21. Jahrhunderts.