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Die hiesige radikale Linke (jedenfalls grosse Teile) krankt seit jeher an zwei Grundaussagen. Da wäre zuerst die Heilserwartung.
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19. April 2020
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Korrektur
Das alle bisherigen praktischen Versuche, sofern sie nicht von den Verteidigern der herrschenden Ordnung blutig unterdrückt wurden, zu totalitären Regimen und Millionen von Toten geführt haben, wird als Abweichung von der wahren Lehre interpretiert. (Nachdem man eine Weile den jeweiligen Protagonisten applaudiert und Sekten zu ihrer Nachahmung gegründet hatte.) Nicht von ungefähr, oder vielleicht auch nur als ironische Anekdote der Geschichte, liegt der Ursprungsort der derzeitigen Pandemie, die die Welt in einen seit dem zweiten Weltkrieg nicht erlebten Ausnahmezustand versetzt, in einem Land, das immer noch von einer kommunistischen Partei gelenkt wird, die eine Form des Kapitalismus organisiert bekommt, dass es absehbar ist, wann die althergebrachten, westlichen Varianten in der Konkurrenz uneinholbar ins Hintertreffen geraten.
In dieser grenzenlosen Heilserwartung reproduziert sich auch eine neurotisch-regressive Haltung zum Leben selbst. Dieses habe gefälligst frei von Zumutungen und Entbehrungen zu sein. Frei von Entbehrungen und Krankheit, oder zumindest soll jederzeit ein Elternteil verfügbar sein, das heilende Medizin verteilt und Worte des Trostes spendet. Ansonsten habe das Leben ein bunter Kindergeburtstag an einem sonnigen Sommersonnennachmittag zu sein (“Luxus für alle”, lalala).
Da sich im Laufe der Zeit diese Erwartungshaltung und das wahre Leben irgendwann über den Weg laufen, geschieht das Unvermeidliche: Enttäuschung macht sich breit. Auf diese gibt es dann im Allgemeinen zwei Arten zu reagieren. Man läuft entweder über (sofern man aus den “richtigen” Schichten kommt, die ein späteres Aussteigen aus der frühkindlichen Phase der Revolte möglich machen) oder man schliesst ganz fest die Augen und glaubt weiter an das Weihnachtswunder. Dies erfordert natürlich gewisse Anpassungen und Korrekturen und so erleben wir heutzutage z.B. die Wiedergeburt der Jusos der 70iger in der Gestalt von UG und IL.
Wenn die radikale Linke in ihren Grundannahmen über das Leben selbst aber sich genau diesem verweigert, nämlich ein lebendiger Teil der Widersprüchlichkeit des Lebens selbst zu sein, führt dies zu genau jenen Mechanismen und Verhaltensweisen, wie wir sie derzeit erleben. Der Tod ist als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren, ja er ist sogar zu begrüssen, weil nur seine Unerbittlichkeit uns dazu anhält, uns Gedanken darüber zu machen, was wir unter Leben verstehen und wie wir unser Leben zu leben gedenken. Leider leben, oder existieren (dies zu bestimmen sei jedem selbst überlassen) wir in Zeiten, in denen der Tod aus unserem Bewusstsein weitgehend verdrängt ist. Oder besser abgespalten, aber das sind jetzt psychoanalytische Haarspaltereien.
Covid 19 gebührt die Ehre, diese neurotische Abspaltung wieder sichtbar gemacht zu haben. Unsere Alten werden schon lange in extra geschaffene Einrichtungen (Altersheime sagt schon alles, deshalb heissen sie ja mittlerweile Seniorenresidenz oder wie auch immer) verfrachtet, die Hospizbewegung ist für all jene eine schreckliche Angelegenheit, die diese Institutionen schon einmal von innen gesehen haben. Todkranke Menschen warten dort isoliert und unter sich unter der Anleitung von Pfleger*innen und Pausenclowns auf ihr Ende, ab und zu wird die dort vorherrschende Monotonie von den Besuchen peinlich berührter Angehöriger und Freund*innen unterbrochen.
Der eigentliche Skandal ist nicht, dass so viele alte Menschen in diesen Verwahranstalten an oder unter Beteiligung von Covid 19 sterben, sondern dass es solche Einrichtungen überhaupt gibt. Nicht umsonst wird jeder der noch halbwegs bei Verstand und finanzieller Potenz ist, sich mit Händen und Füssen dagegen wehren, in eine solche Institution verbracht zu werden. (Im Übrigen sind fast alle dort erbrachten pflegerischen und ärztlichen Massnahmen, einschliesslich der Palliativmedizin, auch in einem häuslichen Kontext möglich, dies verursacht nur wesentlich mehr Kosten.)
Die zweite problematische Grundannahme betrifft die Annahmen über die Macht und die Gesellschaft selbst. Seit jeher hält sich der Mythos von den “grossen Machenschaften” im Hintergrund, früher war es die Trilaterale Kommission, heutzutage sind es NATO Führungsstäbe oder EU Agenturen, die angeblich planvoll das politische Geschehen gestalten. Aber so wie der Kapitalismus selber im Kern irrational ist (und deshalb staatlicher Intervention bedarf), so zeigt sich die eigentliche Funktion der politischen Klasse als reine Verwaltungsebene im Krisenmodus überdeutlich. Aus den radikalen Massnahmen des derzeitigen Ausnahmezustandes lässt sich nicht nur die grundlegende Bereitschaft zum Umschalten in einen faschistischen Verwaltungsmodus ablesen, sondern eben auch die Unfähigkeit mit Situationen umzugehen, die sich jenseits der erwarteten Parameter bewegen. Darin unterscheidet sich Covid 19 nicht von spontan auftretenden sozialen Unruhen.
Der Panikmodus, der sich derzeit in der Gesellschaft widerspiegelt, ist nicht nur ursächlich dort entstanden aus den massenneurotischen Bedingungen unter denen sich Gesellschaft hierzulande konstituiert, sondern ist ebenso in der politischen Klasse selbst beheimatet. Aus dem nichts werden grundlegende Normen des menschlichen Lebens umgestaltet oder ausser Kraft gesetzt und dies nur aufgrund der Expertise einer Handvoll von Leuten, die gar keine eigene Idee von Gesellschaftspolitik haben, sondern teilweise sogar aus der Veterinärmedizin kommen und die sich in ihren Expertisen vehement selbst widersprechen, bzw. innerhalb weniger Tage in wichtigen Grundsatzfragen Wendungen um 180 Grad vollziehen.
Will heissen, unserer Gegner verfügt über wesentlich weniger Macht und Ressourcen als er uns ständig zu glauben macht. Aber in den Grundannahmen unserer Angst überhöhen wir ihn und verleihen ihm so erst die eigentliche Macht. Die eigentlich revolutionäre Tat ist nicht, den König zum Schafott zu führen, sondern die Realisierung davon, dass die Bedingungen dafür schon vorhanden sind. Jeder Tag, den der gegenwärtige Zustand der Welt andauert, fordert mehr Menschenleben als die gegenwärtige Pandemie jemals fordern könnte.
Es wäre vermessen, zu behaupten, dass die radikale Linke auch nur über die Idee einer Blaupause zur Beseitigung der gegenwärtigen Ordnung verfügen würde. (Diejenigen, die jetzt mit Verstaatlichungen, etc. kommen, sind, s.o., nur der postmoderne Stamokap Flügel der Sozialdemokratie.) Nicht umsonst hat die radikale Linke mit den sozialen Unruhen der letzten Jahrzehnte (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nichts zu tun gehabt, bzw. hat sie sich als Randfigur dazu sortiert. Ausgegangen sind all diese Revolten von den Abgehängten der Welt, die entweder keinerlei weitergehenden Forderungen erhoben haben (oder ganz konkrete, wie z.B. häufig in den regional begrenzten Riots in Tunesien, was im Kern aber auf dasselbe hinausläuft) oder universelle Forderungen wie Würde, Gerechtigkeit erhoben haben. Dabei als Menschen, die mitten in den Widersprüchlichkeiten des Lebens stehen, niemals dem Irrglauben erlegen, es wäre möglich dass diese Forderungen erfüllbar sind. Sondern sich in ein Verhältnis zu dem Bestehenden gesetzt haben, dass man als kämpferisches bezeichnen könnte. Oder eben als (temporär) antagonistisches.
Camus hat uns mit der Zumutung konfrontiert, uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzustellen. Wenn wir über die jetzige Situation sprechen bedeutet dies aus meiner Sicht, dass man sich den Zumutungen der derzeitigen Situation stellen muss, ohne der Hoffnung zu erliegen eine jenseitige Welt im Hier und Jetzt zu erreichen. Die Aufstände in den Knästen und den Regionen der Ärmsten der Welt haben schon vor Wochen begonnen. Sie warten nicht auf uns, sie wissen nicht einmal von unserer Anwesenheit.
Die einzige Frage, die sich derzeit ergibt, ist, ob die Geschichtsbücher der Zukunft davon berichten werden, dass es hierzulande zumindest eine kleine Minderheit gab, die sich auch widersetzt hat. Dies wird nicht möglich sein, wenn man den Anforderungen nach Achtsamkeit und den Prioritäten der Hygiene Verordnungen Vorrang einräumt. Und ganz sicher nicht, wenn man in seiner Wohnung, seiner WG oder auf seinem Balkon abhängt, Töpfe gegeneinander schlägt, die Umgebung mit Redebeiträgen beschallt oder sich auf das Hochhalten von Transparenten oder Plakaten fokussiert. Und darauf wartet, dass Merkel, Söder, Spahn und das Robert Koch Institut “die Sache schon irgendwie in den Griff bekommen”.
P.S. Ich halte Online Petitionen für die Einführung des Kommunismus, auch in der jetzigen Situation, für wenig erfolgversprechend.
P.P.S. Ich werde nicht applaudieren! Ein Text aus Frankreich, übersetzt von den Gefährt*innen aus Wuppertal
Ich werde für die Katastrophe nicht applaudieren.
Das Spektakel ist vorbei und hat doch nie begonnen.
Ich werde nicht mit denen applaudieren, die alles, was wir sind, alles, was uns am meisten am Herzen liegt, zerstört haben.
Diesen Beifall werde Ich den Diktaturen, dem Hass und den Soldaten überlassen.
Dies sind Männer und Frauen, keine Krieger*innen, dies sind Menschen, die ihre Arbeit tun.
Wir schulden ihnen viel. Viel mehr als nur Applaus.
Wir schulden ihnen das Leben, wir schulden ihnen Hoffnung. Wir schulden ihnen eine andere Zukunft…
Es geht nicht mehr länger um Paraden hinter Ballons und selbst ernannten Führern.
Es geht um das Leben, um den erbitterten Kampf, es zu retten, es den Mördern, die uns regieren, zu entreissen.
Der Krieg gehört den Mächtigen, der Kampf den Unterdrückten.
Ich werde der Barbarei in Aktion nicht applaudieren, aber ich werde mich auch nicht von denen lossagen, die applaudieren.
Unsere Nachbar*innen, unsere Freund*innen, unsere Gefährten*innen, überall auf der Welt.
Es geht nicht darum, zu spalten, es geht darum, sich nicht von ihren Worten, ihren Befehlen und ihren Helden verwirren zu lassen.
Ich kann nicht Bravo sagen zu einer Frau oder einem Mann, die den Tod ankündigt und gleichzeitig ein Leben rettet.
Alles was ich tun kann, ist zu schweigen und meinen Zorn in Schach zu halten. Um ihn effektiver zu teilen.
Ich verstehe Hilflosigkeit, ich verstehe Unsicherheit, Angst.
Ich verstehe den Beifall in seiner zerbrechlichsten Form.
Was Ich nicht verstehen werde ist Feigheit.
Ich werde das Danach nicht verstehen, denn es wird kein Danach geben, es darf kein Danach geben. Wir brauchen kein Danach, wir brauchen die Ewigkeit.
Immer daran denken, immer davon träumen, immer dabei zuhören, sie immer in die Knie zwingen.
Und zwar alle.
Einer nach dem anderen und sagen: „(…) Niemand wird jemals frei sein, solange es Plagen gibt“ [1].
[1] Albert Camus in Die Pest.