An dieser Stelle habe ich nicht vor und ist es nicht zielführend, detailliert auf Diskurse der politischen Philosophie einzugehen, welche mich aufgrund der Abstraktion der Beiträge persönlich auch nur wenig interessieren. Stattdessen werde ich in Kürze nur auf das Thema von Peter Seyferth eingehen. Meine Kritik daran, ist Zeichen meiner Wertschätzung, insofern ich es gut finde, wenn jemand überhaupt anarchistische Positionen und Perspektiven in die Wissenschaftsdebatte einbringt. Dem Autoren ist hoch anzurechnen, dass er seit vielen Jahren mit seiner humorvollen Art Akzente setzt und damit sicherlich bei vielen Studierenden kritisches und selbstbestimmtes Denken nährt.
Eine individualanarchistische und politisch-pholosophische Kritik der Legitimation des Staates
Die Leitfrage des Sammelbandes, ob der Staat legitim sei, werde von Anarchist*innen pauschal abgelehnt. Damit sei – so Seyferth – das Problem der Legitimierung von Gesellschaftsordnungen jedoch nicht gelöst, sondern lediglich verdrängt. Auch aus anarchistischer Sicht lohnten sich Debatten nach der Legitimität, weil sie Ansatzpunkte dafür geben könnten, wie eine „anarchistische Gesellschaft“ tatsächlich funktionieren könne. Seyferth spricht einleitend auch einen wichtigen Punkt darin an, dass die Position des – wie er es nennt - „totalen Anarchisten“, der per se jeden Staat ablehne, innerhalb der Politikwissenschaften vor allem als Pappkamerad aufgebaut werde, um daraufhin Legitimationsmuster für den Staat auszuarbeiten.Um die Legitimität des Staates in Frage zu stellen, bedient sich Seyferth des US-amerikanischen Denkers Crispin Sartwell. In seinem Buch „Against the State“ (2008) kritisiert dieser insbesondere die Vertragstheorien von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau. Jene stehen tatsächlich am Beginn der politischen Philosophie der sogenannten Neuzeit und formulieren Grundgedanken der bürgerlichen Gesellschaftsform in ihrer konservativen, liberalen und republikanischen Ausprägung. Gegen diese philosophische Begründung von Staatlichkeit richten sich Anarchist*innen mit den Argumenten, dass eine freiwillige Vereinigung von Einzelnen und Gruppen möglich sei und das der Einsatz von Zwang nicht gerechtfertigt werden kann. - Und diese Ansichten schienen und scheinen viele Menschen durchaus zu überzeugen, als auch ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu entsprechen.
Sartwell kritisiert die Behauptung, Staaten seien allein deswegen als legitim anzusehen, weil sie offenbar weltweit durchgesetzt wurden und sich erhalten haben. (Politische Denker, wie auch durch schlechte Lehrer*innen oder Stammtisch-Diskutanten, die so etwas behaupten, haben in der Regel allerdings kaum die Fähigkeit, historisch und strukturell zu denken.). Ferner könne auch die utilitaristische Behauptung stichhaltig hinterfragt werden, dass die Herrschaftsform Staat unterm Strich dem Glück der meisten Menschen nutze. Schliesslich gibt es auch gerechtigkeitstheoretische Argumentationsmuster um den Staat zu legitimieren, wie sie prominent von John Rawls formuliert wurden. Auf der Seite des Kommunitarismus argumentieren bpsw. Alasdair MacIntyre, Michael Sandel oder Charles Taylor jeweils stärker an existierenden Gemeinschaften orientiert, halten aber ebenfalls am Staat zu vermeintlichen Herstellung von Gerechtigkeit fest. Auf der Ebene der Legitimation untergrabe sich der Staat hierbei jedoch selbst, wende er doch vielerlei Zwangsmittel an, die weithin als ungerecht angesehen werden (Besteuerung, Inhaftierung, Sklaverei etc.).
Wie Seyferth nun zutreffend feststellt, sind derartig politisch-philosophische Überlegungen zwar interessant, aber individualanarchistische Abstraktionen. Der Anarchismus konstituierte sich historisch als Bewegung, welche die illegitime Ordnung des Staates abschafft will, indem sie die Form der Staatlichkeit selbst überwindet und an seiner Stelle eine qualitative andere Gesellschaftsordnung etabliert. Diese soll – so wird insbesondere von Kropotkin herausgearbeitet – auf den Organisationsprinzipien von Freiwilligkeit, Dezentralität, Autonomie und Föderalismus beruhen. (Hierbei handelt es sich um Prinzipien, die nicht abstrakt-philosophisch gesetzt werden, sondern in sozialistischen Bewegungen praktiziert wurden.)
Selbstverständlich gibt es auch insurrektionalistische und individualanarchistische Gruppierungen, welche jegliche Form verfestigter Ordnung ablehnen (und dabei abstreiten, dass sie ich ihre Position dennoch aus dem Gedankenspiel um Legitimationsmuster ergibt). Zugleich kann festgestellt werden, dass die meisten Anarchist*innen durchaus die Erschaffung einer freiwilligen, gleichen und solidarischen Gesellschaftsordnung anstreben – und auch spezifische Vorstellungen damit verknüpfen, statt sie als fernes und abstraktes Ideal anzusehen. Wird dies akzeptiert, stelle sich – so Seyferth – auch für Anarchist*innen die Frage nach der Legitimierung dieser Gesellschaftsordnung und ihrer politischen Organisationsweise. Damit werden also Fragen danach aufgeworfen, wie allgemein gültige Regeln aufgestellt und auch angenommen und praktiziert werden. Weiterhin danach, wie verbindende Prinzipien des Gemeinwohls definiert und kollektiv eingerichtet, wie Gerechtigkeit hergestellt und wie Einverständnis über bestimmte Entscheidungen erreicht werden können.
Die spekulative Überlegung zu „anarchistischer Revolution“ und der (vermeintlichen) Unausweichlichkeit eines „anarchistisches Staates“
Schliesslich führt Seyferth seinen eigentlichen Move aus. Als provokatives Gedankenexperiment wagt er die These von der Notwendigkeit eines „anarchistischen Staat“. Dies tut er, um die Frage aufzuwerfen, wie Legitimation in diesem hergestellt werden könne. Seine spekulative Überlegung geht folgendermassen: „Nehmen wir einmal an“, es käme zu einer umfassenden Revolution auf einem Territorium, die Abschaffung des bestehenden Staates, Umverteilung des Eigentums, Selbstverwaltung der Produktion und letztendlich rätedemokratischen Strukturen für politische Entscheidungsfindung und Verwaltung. Die hypothetischen Voraussetzungen dafür können wir an dieser Stelle beiseite lassen. Hinter Seyferths Spekulation steckt ein stichhaltiges Argument: Gesellschaftsordnungen, die weitgehend nach anarchistischen Prinzipien funktionieren sind keineswegs abwegig, sondern können seriös diskutiert werden.Wie alle Erfahrungen in realen Revolutionen gezeigt haben, muss die Revolutionierung der Gesellschaft erstens in verschiedenen Dimensionen (z.B. Wirtschaft, Geschlechter- und Naturverhältnis) weiter vorangebracht werden, da die Umwälzung einer spezifisch-historischen Gesellschaftsform und der Menschen, welche sie bilden, notwendigerweise ein über Generationen anhaltender Prozess ist. Zweitens müsse sich die neu entstandene „anarchistische Ordnung“ gegen wirtschaftliche Konkurrenz und militärische Aggression aus dem Ausland behaupten können, um nicht sofort zu Grunde zu gehen oder erobert zu werden. (Anzunehmen, dass es keine internationalen Verstrickungen und Abhängigkeiten gäbe, wäre zugegeben wirklich unrealistisch, während eine autarke Ordnung für den Grossteil der Bevölkerung keineswegs attraktiv wäre.)
Beides, die wirtschaftliche Konkurrenz, die militärische Bedrohung und die damit hervorgehende Erfordernis, sich an internationaler Diplomatie zu beteiligen, würden unweigerlich dazu führen, dass sich staatliche Strukturen im anarchistischen Gebiet wieder etablieren würden. Auch in ökonomischer Hinsicht, könnte daher keine vollständige Enteignung der heimischen Kapitalist*innen durchgeführt werden. All diese Argumente könne man nicht – wie Kropotkin es tue – damit wegwischen, dass die Bewohner*innen eine anarchistische Ethik verfolgten und deswegen die neue Gesellschaftsordnung unbedingt unterstützen würden. Letztendlich führe das zur Überlegung, wie ein „anarchistischer Staat“ legitimiert werden könne. Dies wäre nicht ausschliesslich durch Propaganda oder Bildung zu erreichen (zumal von vielfachen Anfeindungen der alten Eliten, als auch enttäuschter Revolutionär*innen ausgegangen werden muss). Auch wenn Seyferth das so nicht nennt, bräuchte es daher eine effektive und inklusive Rätedemokratie. Letztendlich entstehe dadurch das Dilemma, dass Anarchist*innen entweder bestimmte staatliche Strukturen verteidigen oder sich von der neuen Gesellschaftsordnung abwenden müssten. In meinen Worten: Dass sie sich zwischen libertär-sozialistischer Gesellschaftsform und Anarchie entscheiden müssten.
Kritik am „philosophischen Anarchismus“
Seyferths Argumentation ist in sich kohärent und hinsichtlich der Frage, wie Anarchist*innen mit Macht umgehen, spricht er wichtige Punkte an, welche von diesen oftmals durch Dogmen oder romantische Phrasen umgangen werden. Auch wenn ich seine Vorstellung eines „anarchistischen Staates“ als grundlegendes Missverständnis ablehne, so haben weder sein Beitrag, noch mein Kommentar an dieser Stelle dazu die Reichweite, anarchistische Grundgedanken zu verzerren. Deswegen kann ich Seyferths Streich als philosophische Überlegung durchaus stehen lassen. Allerdings sehe ich in ihnen auch einige grundlegende Probleme, die es anzusprechen gilt.Erstens: Die spekulative Überlegung ist als solche problematisch. Denn mit seiner Herangehensweise des „Nehmen wir an, dass...“ tappt Seyferth genau in die Falle der bürgerlichen Vertragstheoretiker. Anzunehmen, Menschen verhielten sich im „Urzustand“ entweder gewalttätig und wären elend (Hobbes) oder sie seien friedfertig, frei und glücklich (Rousseau), ist eine offenkundige (und idealistische) Konstruktion einer fiktiven Situation. Diesen Projektionen grundlegend überlegen ist die Einsicht darin, dass Menschen per se als gesellschaftliche Wesen zu begreifen sind, deren Sozialität und Individualität stets nur gesellschaftlich geprägt und vermittelt gedacht werden kann (Kropotkin). Gesellschaften kommen waren nie und kommen nie an den Punkt, wo kollektiv entschieden wird, welche Organisationsform sie sich geben wollen. (Wo es zu einem erzwungenen Verfassungsreferendum wie in Chile kommt, berührt dies nicht die Form des Staates selbst).
Sondern organisierten, überzeugten und engagierten Gruppierungen kann es unter Umständen gelingen, ihr Gesellschaftsmodell mit Macht gegen konkurrierende Modelle durchzusetzen und Alternativen praktisch zu verwirklichen. Dies gilt auch für anarchistische Bestrebungen. Dass Vertragstheorien und dergleichen dennoch immer noch als akzeptable politisch-theoretische Modelle behandelt werden, hat seinen Grund in der Funktion der Politikwissenschaften zur Reproduktion und Implementierung der staatlich-kapitalistischen, bürgerlichen Herrschaftsideologie. Seyferths Argumentation bleibt (in einem beschreibenden Sinne) in bürgerlichen Denken gefangen, weil er nicht in Augenschein nimmt, wie Menschen tatsächlich kollektive Entscheidungen treffen und in welchen sozialen Zusammenhängen sie sich bereits befinden. Sprich, welche Interesse, Vorstellungen, Gefühle, Bewusstseinsformen und Erfahrungen bei ihrem Verhalten und ihrer Positionierung hinsichtlich einer emanzipatorischen Umwälzung eine Rolle spielen.
Zweitens: Um seine Überlegungen durchführen zu können verbleibt Seyferth bei klassischen Revolutionstheorien und beschränkt seine Vorstellung von Revolution in der Konsequenz auch massgeblich auf deren politische Dimension. Alexander Berkman schrieb schon 1929, die Vorstellung, dass Revolutionen massgeblich auf Barrikaden ausgefochten werden, ein altes und naives Schema sei, dass es loszulassen gälte. Seyferth geht hingegen von der Idee eines sich vollziehenden politischen Umsturz aus – welcher dann zwangsläufig in eine politische Organisationsform der Gesellschaft münden müsse. Hierbei handelt es sich um eine relativ langweilige Vorstellung, schon allein deswegen, weil weder eine gesellschaftliche Linke, geschweige denn Anarchist*innen heutzutage ansatzweise über die Macht verfügen, so etwas herbeizuführen. (Sie können allerdings auf vielen anderen Wegen emanzipatorisch wirksam werden.)
Die systematische Verkennung der eigenen Macht, ihre hypothetische Überschätzung – wie in diesem Fall – führt jedoch zugleich zu ihrer konsequenten Unterschätzung. Mit anderen Worten: Das Schema eines hypothetischen Umsturzes hilft uns kein Stück weiter (ebenso wenig die nicht-anarchistische Fiktion einer „befreiten Gesellschaft“). Zumal in der real existierenden anarchistischen Bewegung nie davon ausgegangen wurde, dass Anarchist*innen „die Revolution machen“, sondern, dass eine Revolutionierung der Gesellschaftsform aufgrund ihrer Krisen und Widersprüche zwangsläufig stattfinden werde. In welche Richtung sich diese allerdings entwickle, ist eine Frage von Bewusstseinsbildung, Organisation, Aktionsfähigkeit und der Entwicklung einer von vielen geteilten Vision und Ethik (jeweils nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität nach). Dies ist verknüpft mit der Macht, welche sozial-revolutionäre, emanzipatorische Akteur*innen (bspw. gegen Leninist*innen oder Linksliberale) entwickeln und behaupten können. In diese Richtung müsste Seyferth weiterdenken, wenn seine Überlegungen ansatzweise in der Realität verankert sein sollen.
Drittens missversteht Seyferth meiner Ansicht nach die Formen, anhand welcher er spekuliert. Allein die Überlegung, dass sich eine „anarchistische Gesellschaft“ auf einem bestimmten Territorium realisieren lasse, halte ich für naiv und falsch. Sie bildet lediglich den Ausgangspunkt dafür, zu suggerieren, jenem Gemeinwesen würden sich im Grunde genommen genau die gleichen Fragen stellen, wie einem Nationalstaat, dessen Rahmen Seyferth damit nicht wirklich verlässt. Ja, man könnte annehmen, dass wirtschaftliche Konkurrenz und militärische Bedrohung ein an anarchistischen Prinzipien funktionierendes Gemeinwesen bedrohen. Es ist eine Tatsache, dass ein solcher territorialer Versuch von umliegenden kapitalistischen Nationalstaaten umgehend erobert und als Alternative vernichtet werden würde. (Dies liegt aber nicht an der strukturellen Unzulänglichkeit einer alternativen politischen Organisationsform, sondern an der Dominanz der nationalstaatlichen Form, welche mit Gewalt, Zwang, Krieg und Ideologie aufgezwungen wird.) Aber bringen uns solche Feststellungen weiter, wenn mit ihnen wesentlich interessantere Fragen danach ausgeblendet werden, wie Anarchist*innen unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, auf die radikale Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse hinwirken können?
Seyferths Überlegungen wären deutlich produktiver, wenn sie zwischen libertärem Sozialismus als konkret-utopischer Gesellschaftsform und Anarchie, als einem Modus der permanenten Infragestellung und Transgression, unterscheiden würden. Bei der Ausgestaltung eines libertären Sozialismus erscheint es mir logisch und nachvollziehbar, dass in diesem zumindest rudimentäre quasi-staatliche Strukturen – im besten Fall in Form einer effektiven und inklusiven Rätedemokratie – bestehen werden. Wichtig ist allerdings, dass Staatlichkeit als politisches Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten wesentlich abgebaut werden kann. Die Föderation dezentraler, freiwilliger und autonomer Kommunen ist ein Modell, um politische Organisation zu denken, welches sich qualitativ von der repräsentativen Demokratie unterscheidet. Was dies für mögliche Gesellschaftsformen unter Bedingungen des 21. Jahrhunderts bedeutet, darüber liesse sich nicht nur spekulieren, sondern könnte in kommunalistischen Bewegungen, autonomen Gewerkschaften, selbstorganisierten Kommunen, indigenen Gemeinschaften usw. beobachtet werden.
Staatlichkeit ist im anarchistischen Verständnis nicht lediglich das durch Gewalt und Zwang durchgesetzte und aufrechterhaltene Institutionen-Ensemble „Staat“. Sie beruht beruht darüber hinaus auf den Prinzipien von Autorität, Hierarchie, Zentralisierung, Homogenisierung und Bevölkerungsregulierung. Mittels Staatlichkeit als politisches Herrschaftsverhältnis (analog zu und in Vermittlung mit ökonomischen, geschlechtlichem und Naturverhältnis) werden diese Prinzipien in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein getragen. Deswegen gibt es vom anarchistischen Standpunkt aus absolut Sinn, sich von Staat(lichkeit) zu distanzieren und nach Autonomie zu streben, ohne das dieser Prozess auf das strategische Ziel einer „anarchistischen Gesellschaft“ hinauslaufen müsste (was nicht bedeutet, dass es keine motivierenden und orientierenden Fluchtpunkt bräuchte).
Zusammenfassung der Kritik und Ausblick auf die Legitimationsfrage jenseits des Staates
Um meinen Kommentar aufgrund der Länge des Beitrags und meinen begrenzten Kapazitäten an dieser Stelle abzubrechen, noch einige Worte zur Zusammenfassung.Meiner Ansicht nach greift Seyferths Argumentation nicht deswegen zu kurz, weil sie spekulativ ist, sondern weil sie die Spekulation nicht ausreichend mit vorhandenen ethischen und organisatorischen Erfahrungen und Überlegungen verbindet. Sie bedient sich eines lange überkommenen Revolutionsschemas und reproduziert damit Fehlinterpretationen anarchistischen Denkens, welche in der real vorhandenen anarchistischen Szene auf diese Weise gar nicht vorhanden sind. Seyferth verkennt systematisch die Handlungsmacht in emanzipatorischen sozialen Bewegungen. Zur Stützung seiner spekulativen Überlegung überschätzt er sie. Damit unterschätzt er zugleich, dass Anarchist*innen durchaus wirkmächtig sind und sein können – wenn sie sich vom Schema der politischen Revolution und von einem verengten Politikbegriff selbst endlich verabschieden und stattdessen konsequent andere Formen entwickeln.
Denn dies tut Seyferth nicht, wenn sein Gedankenexperiment letztendlich in einem nationalstaatlichen Rahmen verbleibt,, innerhalb dessen die Herstellung der Legitimität einer Ordnung diskutiert werden kann. Stattdessen sollte er danach fragen, welche Bewusstseinbildung, Organisierung, Aktionsfähigkeit, Vision und Ethik in existierenden emanzipatorischen sozialen Bewegungen betrieben werden kann, um diese nach anarchistischen Vorstellungen zu orientieren. Denn selbstredend stellt sich hierbei die Frage, wie sich anarchistische Organisations-, Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen in einem grösseren Rahmen legitimieren lassen.
Ich vertrete die Position, dass wir es uns nicht mehr leisten können, auf Grosserzählungen zu verzichten und stattdessen bloss Graswurzelansätze, Aufstände, Subversion oder zivilen Ungehorsam zu betreiben. Wege aufzuzeigen, wie soziale Revolution heute aussehen kann, dürfte mehr Menschen interessieren, als Anarchist*innen glauben mögen. Deswegen gilt es ein konkret-utopisches Denken wiederzugewinnen und Fragen nach der Ausgestaltung eines libertären Sozialismus zu stellen. Diese sind allerdings stets verknüpft mit den realen politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen und damit auch der Handlungsmacht von emanzipatorischen sozialen Bewegungen zu begreifen.
Daher müssen auch Überlegungen zur Legitimierung einer libertäre-sozialistischen Gesellschaftsform ausgehend von den vorhandenen Mechanismen und Modi gedacht werden, mit welchen Legitimation durch Akteur*innen innerhalb z.B. der feministischen, antirassistischen und Klimagerechtigkeitsbewegung, in Kollektivbetrieben, autonomen Nachbarschaftsversammlungen, selbstverwalteten Zentren und selbstverständlich in bedrohten Gesellschaftsalternativen wie in Rojava, hergestellt wird. Denn logischerweise findet dort Legitimierungsprozesse statt, solange derartige Zusammenhänge und Gemeinwesen bestehen – ganz jenseits der Konstruktion eines „anarchistischen Staates“