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Politik von unten

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Teil I: Subjektivität und Organisierung Politik von unten

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Politik

Die Inhalte des folgenden Textes können nicht als vom Autor selbst entwickelte Ideen betrachtet werden.

Demonstration gegen Preissteigerung in Ulm am 22. Oktober 2022.
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Demonstration gegen Preissteigerung in Ulm am 22. Oktober 2022. Foto: DieErkenntnis (PD)

Datum 31. Januar 2023
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KorrekturKorrektur
„Wenn wir uns aufmachen, werden unsere Ängste verschwinden“. Der kleine schwarze Fisch - Samad Behrangi

Vorwort

Die Inhalte des folgenden Textes können nicht als vom Autor selbst entwickelte Ideen betrachtet werden. Das meiste davon ist eher meine Schlussfolgerung aus den Diskussionen innerhalb der Gruppe „kollektiv aus Bremen“, in der wir die unterschiedlichen Feedbacks zu unserem Gruppenmanifest1 (veröffentlicht im Mai 2016) gemeinsam reflektiert haben. Insofern hat dieser Text eigentlich einen kollektiven Ursprung. Unsere Broschüre („11 Thesen”) befasst sich mit einer neuen revolutionären Strategie in Deutschland und stellt den Ansatz „revolutionäre Basisarbeit” wie z. B. die „revolutionäre Stadtteilarbeit” vor.

Die vielfältigen Diskussionen und Feedbacks haben uns jedoch gezeigt, dass dieser Ansatz für viele der radikalen Linken nicht überzeugend schien2. Ebenso scheint es, dass die allgemeine Akzeptanz der „11 Thesen” nicht unbedingt mit dem Verständnis für die Priorität dieses strategischen Ansatzes zu tun hatte. Daher haben wir in diesen späteren Gruppenüberlegungen versucht, die tieferen Wurzeln bestehender Hemmungen zu überdenken und zumindest für uns eine bessere Vision zu schaffen. Der nachfolgende Text3, der von diesen Reflexionen inspiriert wurde, ist ein Versuch, einige der theoretischen Grundlagen der “revolutionären Basisarbeit” zu erläutern. Das Ziel ist, zu zeigen, warum dieser Ansatz notwendig und warum er möglich ist.

Einleitung

Viele linke Aktivist*innen und Dissident*innen glauben im Gegensatz zur „Politik der Herrschenden“ (offizielle Politik oder „Politik von oben“) an gewisse Formen der „Politik der Unterdrückten/Beherrschten“, die eine emanzipatorische Perspektive bieten; eine Art von Politik, die die Kämpfe der Unterdrückten gegen die Herrschaftsmechanismen in den Vordergrund rückt und daher „Politik von unten“ genannt werden kann. Nach verschiedenen historischen Versuchen, von denen viele erfolglos waren, gibt es jedoch keinen Konsens über die Art und Weise einer solchen Politik sowie über ihre Anforderungen. An dieser Stelle legen wir unseren Fokus so weit wie möglich auf die Formen und Inhalte der „Politik von unten“4. Dieser Aufsatz sollte als Anstoss für weitere Debatten zu diesem Thema betrachtet werden, dessen Vertiefung und Ergänzungen die kritischen Beiträgen anderer Genoss*innen erfordert.

Die „Politik von unten“ wird häufig mit zwei miteinander verbundenen Begriffen (wenn auch oft mit unterschiedlichen Namen) assoziiert: Subjektivität und Organisierung. Dies ist ein Versuch, einige problematische Aspekte dieser beiden Begriffe in Verbindung mit der „ Politik von unten “ zu beleuchten.

1. Die Subjektivität und das Problem von Subjektwerdung

1.1 Wie definieren wir „Subjektivität“?

Subjektivität wurde von unterschiedlichen Quellen verschieden und mehrdeutig definiert. Der Begriff ist jedoch mit Vorstellungen von Bewusstsein, Handlungsfähigkeit (agency), Persönlichkeit, Selbstwahrnehmung (Identität) etc. verbunden, die oft austauschbar verwendet werden. Der Begriff wird am häufigsten als Erklärung für das verwendet, was die Urteile der Menschen über Wahrheit oder Realität informiert und beeinflusst; es ist die Sammlung von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erwartungen und persönlichem oder kulturellem Verständnis von (und Überzeugungen über) Realität5. Als Einstieg gehen wir das Risiko ein, eine begrenzte Definition des komplexen Begriffs der Subjektivität zu bestimmen: Subjektivität geht von einer persönlichen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität (einschliesslich der eigenen Lebenssituation) sowie einer Selbstwahrnehmung aus und strebt daher bestimmte Veränderungen in der eigenen Umgebung bzw. in der Gesellschaft an. Die Subjektivität ist also die Überzeugung bzw.

Fähigkeit, für eine gesellschaftliche Veränderung zu kämpfen. Die Menschen haben jedoch, aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, unterschiedliche Erfahrungen und Wahrnehmungen über die Soziale Wirklichkeit (also „social reality“). Infolgedessen nehmen zielen ihre Erwartungen und angestrebten Veränderungswünsche auf unterschiedliche Bereiche und Richtungen. Aus diesem Grund manifestiert sich Subjektivität in total unterschiedlichen politischen Orientierungen, von reaktionär bis emanzipatorisch6. Aufgrund der Ausrichtung dieses Textes, begrenzen wir uns ab hier meistens auf die progressive Gesellschaftsveränderung bzw. emanzipatorische Subjektivität. Daher wird unsere Definition von Subjektivität, im Vergleich zur Neutralität des üblichen Begriffs „agency“ (Handlungsfähigkeit) in der Soziologie, mit einem normativen Inhalt verbunden, der sich auf die emanzipatorische Orientierung der Subjektivität bezieht. Aus dieser Ansicht folgt: Subjektivität ist eine Art von Bewusstsein und Entschlossenheit, die man sich im Verlauf der persönlichen Entwicklung aneignet. Während dieses Prozesses gelangt die Person zu einem kritischen Verständnis ihrer Lebenssituation in der Gesellschaft und beabsichtigt daher, diese Situation (radikal) zu ändern.

Diese Definition der (emanzipatorischen) Subjektivität unterscheidet sich in gewissen Aspekten von „agency“ bzw. Handlungsfähigkeit: Handeln enthält auf seinen verschiedenen Ebenen und Feldern oft ein bewusstes Eingreifen, um sich so weit wie möglich an die Bedingungen und Möglichkeiten der Umgebung anzupassen. Dabei geht es vor allem um das Streben nach Schutz, Überleben und Fortschritt innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist in seinen bewusstesten Erscheinungen schliesslich ein Rückgriff auf (oder eine Anwendung) der etablierten Rechte oder Normen. Obwohl (emanzipatorische) Subjektivität mit der Fortsetzung von Handlungsfähigkeit zu tun hat, beinhaltet sie jedoch, aufgrund der kritischen Einsicht, einen Bruch mit der bestehenden Situation. Das Ziel ist, eine neue gesellschaftliche Situation zu schaffen, die unter den bestehenden Ordnungen und Strukturen noch nicht zugänglich ist.

1.2. Warum hat Subjektivität unterschiedlichen Formen und Niveaus?

Der Kapitalismus reproduziert sich als ein komplexes System, das auf der Zusammensetzung unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen basiert. Aufgrund der Vielfalt der Unterdrückungsmechanismen ist Heterogenität ein struktureller Bestandteil der modernen Gesellschaft. Daher erscheint die Subjektivität in verschiedenen Formen und in verschiedenen Bereichen. Noch wichtiger ist, dass selbst in einem bestimmten Bereich der Unterdrückung unterschiedliche Ebenen und Grade von Subjektivität existieren, da die gesellschaftliche Heterogenität, auch innerhalb einer bestimmten Schicht, verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen für die Individuen erzeugt. Dazu gehört auch, wie Leute eigene Erlebnisse interpretieren und darauf entsprechend reagieren.

Die wichtigsten verbundenen Faktoren, die bei dieser Vielfalt eine Rolle spielen, sind folgende: materielle auferlegte Lebensbedingungen (sozial-ökonomischer Hintergrund); die persönliche Lebensgeschichte (Erziehungsfaktoren und kulturelle Sozialisation) und der politisch-historische Zustand der Gesellschaft7. Diese Faktoren zusammen bestimmen bei jeder Person den Grad des angeeigneten kritischen Bewusstseins sowie deren Bereitschaft und Fähigkeit, die bestehenden Verhältnisse zu bekämpfen (oder sich an solchen Kämpfen zu beteiligen). Hierbei ist es wichtig zu beachten, dass die Art und Weise der Kombination und Wirkung dieser Faktoren bei Einzelnen unterschiedlich ist. Deshalb führt diese existenzielle Vielfalt bei den Prozessen der persönlichen Entwicklungen zur Vielfalt der Subjektivität.

Infolgedessen sehen wir im Laufe der Geschichte, innerhalb eines bestimmten sozio-historischen Rahmens, nicht die Verwirklichung eines einzelnen Aspekts von Subjektivität8; sondern unterschiedliche Grade und Richtungen der Subjektivität, die in verschiedenen Bereichen der Unterdrückung auftauchen. Ob und wie sie die bestehenden Herrschaftsmechanismen und Unterdrückungen beseitigen können, ist immer eine offene Frage der revolutionären Kräfte. An dieser Stelle müssen wir einen widersprüchlichen Aspekt der Heterogenität genauer in Betracht ziehen, und zwar: Warum können (potenziell) die Unterdrückten trotz ihrer Heterogenität überhaupt kollektive Subjekte werden? Es ist klar, dass die Vielfalt der Unterdrückungsmechanismen die Unterdrückten spaltet. Diese verwobenen Mechanismen reproduzieren sich nicht nur in Wechselwirkung mit den Funktionsweisen des ganzen Systems (Kapitalismus), sondern sie treiben die gesellschaftliche Heterogenität voran. Denn sie betreffen nicht alle Menschen gleichermassen und führen dazu, dass sich die Subjektwerdung von Menschen in unterschiedliche Richtungen und Grade entwickelt.

Es gibt jedoch eine Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen9, wodurch die bestehenden Unterschiede von wesentlichen Gemeinsamkeiten begleitet werden. Ein wesentliches Beispiel dafür ist die Situation der Arbeiter*innenklasse in einer Klassengesellschaft: Einerseits ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen und deren Intensivierung für sie viel wirksamer. Andererseits, trotz der oben genannten Unterschiede, sind sie auf ähnlicher Weise von den Klassenverhältnissen betroffen, die einem Grossteil von ihnen miserable Umstände auferlegt. Diese materielle Gemeinsamkeit schafft das Potenzial für die Entstehung eines „kollektiven Subjektes“ von Arbeiter*innen, auch wenn es intern heterogen ist. Nun stellt sich die Frage: Welche Bedingungen hindern diese Unterdrückten, sich als ein kollektives Subjekt zu verstehen und sich eine entsprechende Subjektivität anzueignen, um mit der kapitalistischen Ordnung einen emanzipatorischen Bruch zu vollziehen?

1.3. Was hindert die Unterdrückten daran, ihre Subjektivität zu entfalten?

Diesbezüglich sind zumindest vier Punkte zu erwähnen:

a) Subjektivität nur als ein (materielles) Potenzial: Die Unterdrückten können theoretisch aufgrund ihrer Lage (soziale Ontologie) und ihrer unmittelbaren Lebenserfahrungen zu Subjekten werden, die den Kampf gegen die entsprechenden Unterdrückungsmechanismen anstreben. In der Tat sind aber verschiedene Grade von Subjektivität zu beobachten. Denn das Potenzial der Subjektwerdung lässt sich nur dann verwirklichen, wenn es Prozesse gibt, in denen die Unterdrückten sich auf Grundlage ihrer eigenen Lage kritisches Bewusstsein aneignen und sich (gemeinsam) in Auseinandersetzung mit den entsprechenden Verhältnissen entwickeln können. Deshalb können wir nur von materiellen Potentialen von Subjektivität sprechen. Mit anderen Worten: Es gibt nur potenzielle Subjekte. Diejenigen, die unter alternativen Bedingungen ihre Subjektivität entfalten könnten, aber unter den derzeit vorherrschenden Bedingungen die Gelegenheit nicht ergreifen können. Das würde heissen, dass eine revolutionäre Strategie mit der Schaffung der Prozesse zur Subjektwerdung zusammenhängt.

b) Hindernis durch den Staat und seinen Ideologieapparat: Die „Politik von oben“ (Herrschaftspolitik) basiert gewissermassen auf der Bereitstellung und Durchführung der Mechanismen, die zwei grundsätzliche Funktionen zu erfüllen haben: auf der einen Seite sollen die potentiellen Subjekte daran gehindert werden, ihre Potentiale (zur Subjektwerdung) zu verwirklichen und dadurch heranzuwachsen. Und auf der anderen Seite sollen sich die bereits realisierten Subjekte unterwerfen und ausgelöscht werden. Die erste Funktion ist mit der Schaffung der Hegemonie verbunden und die zweite Funktion mit der Überwachung und Repression, wobei beide durch den kapitalistischen Staat durchgesetzt werden. Der Staat setzt seinen vielfältigen ideologischen Apparat und seine ausführende Gewaltmacht ein, um die Entstehung und das Wachstum der antikapitalistischen Subjekte zu verhindern. Dadurch garantiert der Staat eine grundlegende Voraussetzung der Reproduktion der herrschenden Ordnung, und zwar: Das Schwächen und Unterwerfen der Unterdrückten.

c) Warenform der Gesellschaft und Entfremdung: Parallel zu den genannten Funktionen des Staates gibt es noch einen anderen strukturellen Faktor, der den Prozess der Subjektwerdung (Realisierung des bestehenden Potentials) erschwert. In der kapitalistischen Gesellschaft werden die menschlichen und sozialen Verhältnisse in Form von Waren vermittelt. Die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse und deren Mechanismen führen zur multilateralen Entfremdung der Arbeiter*innen10, vor allem von sich selbst. Diese vorherrschende soziale Form verbirgt einerseits die tatsächlichen Ursachen und Mechanismen der Unterdrückungen und stellt die bestehenden Verhältnisse als natürliche und ewige Ordnung dar. Andererseits nimmt sie den Unterdrückten die Möglichkeiten zur Selbstentwicklung und Kollektivität. Daher scheint für viele Menschen jede Perspektive auf Veränderung unrealistisch. Diese Erscheinungsform wird wiederum durch die Verschärfung von Individualisierungs- und Atomisierungsprozessen noch mehr verinnerlicht. Zusätzlich führen die Funktionen des Sozialstaates dazu, dass viele Menschen dazu tendieren, die Gestaltung ihres Lebens den staatlichen Institutionen zu überlassen. Dadurch können sich ihre Kapazitäten und Fähigkeiten zur kollektiven Verwaltung sowie der Selbstorganisation nicht entfalten.

d) Verformte Subjektivität bzw. reaktionäre Subjekte: Die Subjektivität kann noch weitere Formen annehmen, die nicht derder Definition dieses Textes entsprechen, da wir uns nur das Entstehungspotenzial der emanzipatorischen Subjekte ansehen. Die Menschen sind, trotz der obigen Überlegungen, die Subjekte ihres eigenen Lebens und ihrer unmittelbaren Umgebungen. Das heisst, dass die Realisierung und Orientierung ihrer Subjektivität sowie deren Grad (Intensität), unter den bestehenden Bedingungen, oft anders ist als wir sie für emanzipatorischen Subjekte festgelegt haben.

Die Leute versuchen sich nicht nur an die gegebenen Situationen besser anzupassen (Handlungsfähigkeit), sondern versuchen diese auch zu ändern oder zu verbessern. Dafür nehmen sie - aufgrund der herrschenden Ideologie und der Sozialform - oft scheinbare Mechanismen als Ursachen zur Erklärung ihrer eigenen Situation wahr. Beeinflusst von diesen ideologischen Weltanschauungen kämpfen sie (mehr oder weniger) in falsche Richtungen und/oder verbinden sich mit reaktionären Kräften und Strömungen. All das negiert jedoch nicht ihre Potentiale der Subjektwerdung in eine emanzipatorische Richtung. Es beweist eher, dass bei einer revolutionären Strategie der Aufbau von Prozessen der Subjektwerdung mit den anti-hegemonialen Kämpfen zusammenhängt.

Nach dieser kurzen Einführung in die Subjektivität wenden wir uns dem Thema „Politik von unten“ zu und gehen auf ihre Möglichkeiten - trotz der Hemmnisse - ein.

1.4. Was bedeutet ”Politik von unten” in Bezug auf Subjektivität?

Angesichts des oben Gesagten ist „Politik von unten“ nichts anderes als ein kollektiver Entwicklungsprozess der Unterdrückten auf ihrem Weg hin zur Subjektwerdung. Die materiellen Möglichkeiten zum Aufbau dieses Prozesses hängen mit den gesellschaftlichen Bedingungen (dem historischen Kontext) zusammen: Einerseits gibt es die bedrückenden Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse, die Unzufriedenheit und Wünsche nach Änderungen erwecken und daher die Potenziale von Subjektivität11; andererseits gibt es die aktiven Mechanismen und Strukturen, die die Realisierung dieser Potenziale verhindern/erschweren12. Dementsprechend basiert die „Politik von unten“ auf den dauerhaften kollektiven Kämpfen um die Verwirklichung der verhinderten Potentiale einer Subjektwerdung13. Sie versucht, trotz aller gesellschaftlichen und historischen Hindernisse, die materiellen Möglichkeiten zur Subjektwerdung zu erweitern und zu multiplizieren.

Durch vielfältige langfristige Kampfprozesse zielt die „Politik von unten“ darauf ab, ein immer breiteres Spektrum der Unterdrückten in eine andere Art von Politik miteinzubeziehen. Diese beginnt mit einem kritischen Verständnis der eigenen Lebensbedingungen und geht durch die Anerkennung der eigenen kollektiven Veränderungskraft weiter. Sie entwickelt sich durch eine wachsende Solidarität unter den Beteiligten und macht deutlich, was für ihr Elend verantwortlich ist und was für ihr Wohlergehen benötigt wird. Der Ausgangspunkt der „Politik von unten“ ist daher das Durchführen kollektiver Kämpfe für die Verbesserung der Lebensbedingungen, mit der Perspektive einer Organisierung der Unterdrückten. Das unmittelbare Ziel ist die Schaffung solidarischer Prozesse zur Selbstermächtigung. Durch das gemeinsame Reflektieren der kollektiven Kämpfe sowie durch regelmässige politische Bildungen werden die Aneignung und Vertiefung des kritischen Bewusstseins ermöglicht. All das ermöglicht eine Entwicklung hin zu kollektiven emanzipatorischen Subjekten14.

Jedoch wird „Politik von unten“, trotz kleiner, verstreuter, spo15ntaner Funken, nicht nachhaltig von selbst entstehen. Unter der vorherrschenden kapitalistischen Ordnung wirken die strukturellen Mechanismen dagegen, sie verhindern die Prozesse der Subjektwerdung und tragen zur Unterwerfung der aktiven Subjekte durch Repression bei. Auch der historische Trend in den letzten Jahrhunderten sollte die latente teleologische Hoffnung, dass die zunehmende Akkumulation der Unterdrückungen zu einem Wachstum der emanzipatorischen Subjektivität führen wird, eindeutig zerschlagen haben. Es scheint also so, als ob wir mit einem geschlossenen Kreislauf konfrontiert sind, der jegliche Möglichkeiten zur Verwirklichung der kollektiven Subjekte bzw. Entfaltung der „Politik von unten“ blockiert. Wir werden sehen, wieso diese Wahrnehmung nicht wahr ist.

1.5. Warum ist „Politik von unten“ möglich?

Angesichts der umfassenden Funktionen der Herrschaftsmechanismen wird die „Politik von unten“ meistens als zu utopisch bzw. unrealistisch angesehen. Auch viele der radikalen Linken tendieren dazu, sie nicht für möglich zu halten. Eine solche verzweifelte Wahrnehmung leitet sich aus zwei miteinander verbundenen grundlegenden Annahmen ab:

a) Das herrschende System als eine absolute Macht: Es wird angenommen, dass die strukturelle Macht des kapitalistischen Systems unbegrenzt sei - wie eine absolute Macht. Infolgedessen wird das System überall als präsent und einflussreich angesehen. Das setzt jedoch voraus, dass das System alle Folgen seiner Widersprüche unter seiner Kontrolle hat. Dieser Ansicht zufolge gibt es keine Möglichkeit für die Entstehung kollektiver Subjekte, um dem herrschenden System zu entkommen.

b) Homogene Bedingungen zur Subjektwerdung: Die Tatsache, dass das kapitalistische System die ganze Gesellschaft beherrscht/dominiert, bestärkt die Annahme, dass die Möglichkeiten zur Subjektwerdung homogen in der Gesellschaft verteilt sind. Entweder gibt es massenweise (realisierte) Subjekte oder es gibt keine Möglichkeit zur Subjektwerdung. Mit dieser Ansicht, in Anbetracht des heutigen Niedergangs der antikapitalistischen Bewegungen, kann man davon ausgehen, dass es zumindest heute keinen Raum zur Umsetzung der „Politik von unten“ gibt. Nachfolgend Argumente gegen die obigen Vorannahmen:

Im Gegenteil zur Annahme (a) weist das kapitalistische System eine Vielzahl von internen Rissen und Lücken auf, die für die Unvollständigkeit der kapitalistischen Herrschaft sprechen. Diese Risse basieren einerseits auf den inneren Widersprüchen der Dynamik des Kapitals und anderseits auf den Überschneidungen und Konflikten in der Logik des Kapitals mit einer Vielzahl nicht-ökonomischer Mechanismen. Der zweite Aspekt bezieht sich auf einen historischen Kontext, der von vielen zufälligen Ereignissen und Prozessen („contingencies“) geprägt wird. Daher gibt es viele konkrete sozio-historische Gelegenheiten und Faktoren, die aus der Vielfalt der Erfahrungen der Unterdrückten Momente zum Erwachen des kritischen Wissens und des kollektiven Handelns bilden.

Kurz gefasst: Aus der Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit des Kapitalismus folgen strukturelle Benachteiligungen, die zur Unzufriedenheit und zu spontanen Widerständen (Alltagskämpfen) führen. Diese existenzielle Unzufriedenheit und die daraus resultierenden Alltagskämpfe und spontanen Widerstände sind die Felder, in denen sich die Potentiale der Unterdrückten zur Subjektwerdung teilweise verwirklichen können, wenn auch in unterschiedlichen Formen und Graden. Auf der anderen Seite kann der kapitalistische Staat das Auftauchen dieser Widerstände nicht blockieren (er kann auf sie danach nur Repression ausüben und/oder sie verformen). Das heisst: Da die Gesellschaft heterogen ist, kann sich die politische Dominanz des Systems nicht vollständig durchsetzen.

Darüber hinaus basiert das kapitalistische System, trotz seiner Tendenz zur Verdinglichung („reification“) der sozialen Verhältnisse, auf der Arbeit menschlicher Akteur:innen, einschliesslich derjenigen, die schon in unterschiedlichen Bereichen und Graden ihre Subjektivität realisiert haben16. Daher ist die Nachhaltigkeit der historischen Entwicklung des Kapitalismus und seiner Funktionsweisen abhängig von der Art und Weise der Aktivitäten und Orientierungen der Unterdrückten, insbesondere von der Arbeiter:innenklasse im weitesten Sinne. Deswegen ist dieses System trotz seiner enormen und erschreckenden Dominanz gleichzeitig auch sehr verwundbar.

Im Gegenteil zur Annahme (b) gibt es neben der riesigen Menge an verhinderten Subjektivitäten auch zahlreiche realisierte Subjekte. Das bedeutet, dass sich die gesellschaftliche Inhomogenität auch in der Vielfalt der Möglichkeiten zur Subjektwerdung widerspiegelt. Lasst es uns genauer anschauen: Da die Art und Weise der Überschneidungen der Unterdrückungsmechanismen (Intersektionalität) und ihre Auswirkungen auf die Menschen völlig unterschiedlich sind, entsteht ein breites Spektrum an Betroffenheit innerhalb der Unterdrückten. Auch eine bestimmte Gruppe von Menschen, die bestimmten Unterdrückungsmechanismen ausgesetzt ist, wird nicht völlig homogenisiert17.

Vielmehr werden ihre Lebenserfahrungen und persönlichen Entwicklungen durch einen sozialen Kontext geprägt, der viele differenzierte Mikrostrukturen enthält. Diese Mikrostrukturen umfassen all jene zufälligen Faktoren und Ereignisse, die zu biografischen Mikrounterschieden innerhalb einer bestimmten Gruppe von Unterdrückten führen. Solche materiellen, mikrostrukturellen Hintergründe führen dazu, dass die Mitglieder einer bestimmten Gruppe der Unterdrückten nicht die gleiche Subjektivität entwickeln. Die Auswirkungen dieser Mikrostrukturen zeigen sich in der Vielfalt der Aneignung des kritischen Bewusstseins sowie in der Bereitschaft der Unterdrückten, sich mit den entsprechenden Unterdrückungsmechanismen auseinanderzusetzen. Diese existenzielle Vielfalt im Bereich der „Möglichkeiten“ der Subjektwerdung der Unterdrückten ist ein materielles und historisches Mittel zum Aufbau der Politik von unten18.

Aus dem Gesagten lässt sich ablesen, dass es in jeder Gesellschaft eine Reihe von aktiven Subjekten sowie einige Möglichkeiten zur Realisierung der Potentiale der Subjektwerdung gibt. Das Ausmass der Verteilung dieser Möglichkeiten hängt von den historischen Bedingungen sowie den Strategien der aktiven (antikapitalistischen) Subjekte ab. Dieses Ausmass nimmt dramatisch in Krisenzeiten und auch in revolutionären Prozessen zu. Die Kämpfe gegen den Kapitalismus entwickeln sich - wie der Kapitalismus selbst – im historischen Kontext. Die aktiven Subjekte dieser Kämpfe lernen ständig von dieser Geschichte, um ihre Ziele, Werte und Errungenschaften effektiver multiplizieren zu können. Dazu gehört auch die Steigerung der Kampfbereitschaft in der Gesellschaft und die Organisierung der Unterdrückten. Deshalb sollte, bei der Untersuchung der Möglichkeiten von Subjektwerdung und der „Politik von unten“, der Einflussfaktor der antikapitalistischen Subjekte (und Traditionen) ebenfalls berücksichtigt werden.

2. Organisierung: Bildungsprozess der kollektiven Subjekte

2.1. Was bedeutet Organisierung aus der Perspektive der Politik von unten?

Aus dem bisher Gesagten lässt sich schliessen, dass die Herausforderung eines revolutionären Wegs darin liegt, die verstreuten verhinderten Potentiale der Subjektwerdung zu aktivieren. Der Begriff Organisierung bezieht sich auf die Schaffung eines kollektiven Prozesses zur Subjektwerdung. Da dieser Organisierungsprozess zu einer Perspektive der Massenbewegung beitragen soll, muss er für viele unterdrückte Menschen zugänglich sein (der Quantitätsfaktor). Er wird aber nur dann vom politischen Scheitern geschützt, wenn er gleichzeitig an der Entfaltung der emanzipatorischen Subjektivität der Unterdrückten orientiert (der Qualitätsfaktor) ist.

Die Synthese dieser zweier Faktoren sollte die Entstehung eines kollektiven Subjektes sein. Organisierung in diesem Sinne erfordert einerseits den Aufbau kollektiver Strukturen von unten. Diese Strukturen bilden sich - vor allem - um die Bedürfnisse der Individuen oder Gruppen und zielen darauf ab, kollektive Kämpfe für diese zu ermöglichen. Auf der anderen Seite muss ein Organisierungsprozess (von unten) auf jeder Ebene mit der Erweiterung und der Vertiefung des kritischen Denkens verbunden sein. Das würde heissen, dass die Organisierung für eine Politik von unten unterschiedliche Formen von Lernprozessen fördern und anbieten muss. Dazu gehören auch Angebote der politischen Bildung, die sich an den offenen Fragen und Reflexionen aus der Praxis und den entsprechenden Strategiefragen orientieren (Aneignung der Theorie für die Praxis), aber gleichzeitig an die unterschiedlichen Wissensniveaus der Mitkämpfer:innen angepasst sind. Die Herausforderung ist jedoch, eine geeignete nachhaltige Kombination von zwei Komponenten zu etablieren: von einerseits kollektiven Kampfstrukturen und andererseits multilateralen Lernprozessen und Bildungen.

Die Politik von unten versucht durch diese dynamische Kombination, den vorherrschenden Attitüden innerhalb der heutigen entpolitisierten Gesellschaften (u. a. Individualismus und Ohnmachtsgefühl) entgegenzuwirken. In diesem Sinne zielt sich Organisierung (von unten) darauf ab, den Unterdrückten alternative Erfahrungen von Sozialisierung und Politisierung zugänglich zu machen. Durch die kollektiven Kampf- und Lernprozesse können sie sich nicht-kapitalistische Sichtweisen und Haltungen (wie Kollektivität, Solidarität, Verbindlichkeit und Hoffnung19) aneignen. Diese Merkmale bilden die elementare materielle Basis für die Unterdrückten, um einen eigenen emanzipatorischen Prozess zur Gesellschaftsveränderung aufbauen zu können. Es ist in diesem Sinne, dass die Organisierung von unten zur Subjektwerdung bzw. der Entstehung von kollektiven Subjekten beitragen kann. Im Sinne dieser Perspektive, d.h. einer Organisierung von unten, sind die „Politik von unten“ und die „revolutionäre Basisarbeit“ das Gleiche.

2.2. Wo wird organisiert: in den Betrieben oder Stadtteilen?

Es sollte klar geworden sein, dass die Politik von unten weit weg von den üblichen Orten der Szenepolitik praktiziert und aufgebaut werden sollte. Denn es geht hauptsächlich darum, in der Gesellschaft verankert zu sein und darin zu wirken. Das Übungsfeld der „revolutionären Basisarbeit“ sind all jene Orte, an denen die meisten Unterdrückten ihr Alltagsleben leben. Dazu gehören vor allem die Arbeitsstätten (wie Betriebe) und die Stadtteile. In vielen Gesellschaften, insbesondere in Deutschland, herrscht jedoch seit Jahrzehnten der Machtmechanismus der Sozialpartnerschaft, die die Gelegenheiten zum Aufbau eigenständiger Betriebskämpfe (oder die Radikalisierung der bestehenden Kämpfe) zu sehr beschränkt.

Deshalb können - in der heutigen Zeit - die armen Stadtteile gängige Orte zum Praktizieren der Organisierungsprozesse von unten sein. So ein Versuch kann unter „revolutionärer Basisarbeit“ kategorisiert werden. Diese Strategie kann eine besondere Rolle zum Wiederaufbau des gescheiterten Klassenkampfes spielen. Im Zeitalter der entpolitisierten Gesellschaft, in der sich die Arbeitskämpfe in einer langjährigen Sackgasse befinden, setzt eine revolutionäre Klassenpolitik vor allem die Wiederbelebung des Klassenbewusstseins voraus. Jeder Kampf an der Basis der Gesellschaft, der den sozialen Raum zur Subjektwerdung der Unterdrückten erweitert, entspricht daher den Bedürfnissen revolutionärer Klassenpolitik. Dieser Zusammenhang wird deutlicher, wenn wir den Fakt in Betracht ziehen, dass die armen Stadtteile die tatsächlichen Wohnorte eines Grossteils des Proletariats sind. Also die Wohnorte der Menschen, die in prekären Arbeits- und Lebenslagen leben, sowie die Wohnorte der Arbeitslosen.

Dazu gehören auch Geflüchtete und diejenigen, die meistens als Aussenstehende betrachtet und behandelt werden und daher zusätzlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Deshalb ist die revolutionäre Stadtteilarbeit (als eine Form von revolutionärer Basisarbeit) nicht nur kein Ersatz der Arbeitskämpfe in den Betrieben, sondern ist ein notwendiger Ansatz, um die Blockade der Betriebskämpfe zu überwinden. Denn die revolutionäre Stadtteilarbeit bietet eine materielle Möglichkeit an, das Klassenbewusstsein und die Klassenkämpfe gesellschaftlich zu erweitern und zu bestärken.

Die historische Notwendigkeit dieses Ansatzes wird deutlicher, wenn wir die Entwicklung des Spätkapitalismus betrachten: Der Spätkapitalismus hat die grundlegenden Herangehensweisen der Fabriken/Betriebe sowie das Besitzen der vom Arbeitsmarkt verlangten Fähigkeiten in alle Sphären der Gesellschaft ausgedehnt und auferlegt. Die Arbeit wird nun – mehr denn je - überall verrichtet, auch in den Wohnorten der Unterdrückten. Die neoliberale „Flexibilisierung“ der Arbeit hat massiv prekäre Arbeitsverhältnisse erzeugt, in der zunehmend mehr Menschen immer wieder ihre Arbeitsplätze sowie ihre Jobs wechseln oder verlassen müssen. Sie müssen daher immer wieder die Phasen der Arbeitslosigkeit oder Berufsvorbereitung durchmachen, um ihre Arbeitskraft überhaupt wieder verkaufen zu können. Kurz gesagt: der Neoliberalismus hat die ganze Gesellschaft zu einer „sozialen Fabrik“ gemacht und dadurch die damalige Grenze zwischen Arbeit und Freizeit (bzw. Leben) rasant weggewischt. Das ist aber nichts anders als die Erweiterung und Verschärfung des Proletarisierungsprozesses in der Gesellschaft. Folglich können und müssen die Orte und Formen des Widerstands gegen den Kapitalismus auch erweitert werden. Deshalb sind die armen Stadtteile potentielle Orte zur Erweiterung des antikapitalistischen Klassenkampfes, bzw. zur Organisierung des kollektiven Kampfes um das Ganze.

2.3. Was hält linksradikale Kräfte von revolutionärer Basisarbeit ab?

Heute, aufgrund einiger historischer Entwicklungen, macht das oben dargestellte Konzept der „Politik von unten“ (im Sinne des Organisierens der Basiskämpfe) für viele radikale Linke immer noch wenig Sinn. Zumindest wird dessen historische Notwendigkeit oder dessen strategische Priorität nicht anerkannt. Diese Hemmung lässt sich nicht überwinden, wenn die Gründe der Vorbehalte und/oder Ablehnung von Organisierung (von unten) nicht verstanden und beseitigt werden. Dazu sind mindestens drei verbundene Faktoren20 zu betrachten, die solche Vorbehalte und/oder Ablehnung verursachen und sich gegenseitig bestärken:

A) Absolute Negation der Vergangenheit: Seit den 1980er Jahren gibt es immer wieder beharrende Skepsis gegenüber den Begriffen Organisieren und Politisieren und gegenüber deren entsprechenden Ansätzen. Es wird daher die Rolle der Linken in solchen Prozessen in Frage gestellt: „Dürfen wir überhaupt die anderen Menschen organisieren bzw. politisieren!?“. Diese Ansicht nimmt Bezug auf die lange Geschichte von autoritären Organisationen in den marxistischen Traditionen und verweist daher auf die manipulativen und instrumentalisierenden Herangehensweisen gegenüber den Unterdrückten. Daher wird jede Organisation per se als eine Machtstruktur verurteilt, die zwangsläufig Autorität ausübt und zu Bürokratismus führt.

Durch diese Art der absoluten Negation der Vergangenheit werden die heutigen Ansätze, die für eine Organisierung sprechen, undifferenziert mit dem leninistischen Avantgardismus gleichgesetzt und somit de-legitimiert.21. Die historische Niederlage des realen Sozialismus hat u. a. diese alten antiautoritären Ansätze innerhalb der nachkommenden Generationen der Linken legitimiert und bestärkt. Folglich werden Organisieren und Organisation überwiegend als Merkmale von „autoritären Kommunist*innen“ (wie Bolschewiki) betrachtet, nicht als eine allgemeine Notwendigkeit für den kollektiven Kampf. Ihre Alternativen zur Organisierung sind: „Politik der ersten Person22“(„ich mische mich nur da ein, wo ich direkt betroffen bin“); temporäre Solidaritätspolitik oder Teilbereichskämpfe; Kampagnenpolitik; und (heute zunehmend) Politik in den Sozialen Medien.

B) Trennung von der Gesellschaft: Andererseits, unter dem zunehmenden Einfluss der post-strukturalistischen Denkweisen, ist die linke Politik immer mehr in differenziertere Teilbereichskämpfe bzw. Mikropolitik gerutscht, wobei sie sich oft in unterschiedlichen Formen der Identitätspolitik manifestiert. Somit wurden die Graswurzel-Politik und Massenorganisationen als reaktionär bzw. gefährlich betrachtet und abgelehnt. Folglich hat sich die linke ausserparlamentarische Politik in zerstreute Aktivitäten (also Aktiveismus) kleiner Kreise gespalten. All das hat im Zeitalter der neoliberalen Neuausrichtung der Gesellschaften und unter deren Folgen stattgefunden.

Am Ende des Tages lief/läuft die linksradikale Politik immer mehr getrennt von der Masse der Unterdrückten. Es ist seit Jahrzehnten zur Normalität geworden, dass die radikalen Linken von der Gesellschaft politisch isoliert sind. Selbst viele der radikalen Linken haben diese Trennung als normal oder unüberwindbar verinnerlicht, was ein Problem darstellt. Im Vakuum einer revolutionären Politik und entsprechender Organisationen ist die Gesellschaft deutlich mehr nach rechts gerutscht. Diese objektive Tendenz nach rechts, wurde bzw. wird von viele radikalen Linken in Deutschland – als Funken des Neofaschismus - mit der geschichtlichen Tragödie der NS-Zeit assoziiert. Daher betrachtet ein Teil der radikalen Linken die Trennung von der (kranken) Gesellschaft nicht nur als normal, sondern als erstrebenswert & notwendig23 und trägt somit zur Verschärfung dieser Trennung bei. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass eine Organisierung von unten (als Hauptbestandteil der revolutionären Basisarbeit) von Linksradikalen nicht als relevant angesehen wird.

C) Ablehnung der Potentiale der Subjektivität der Unterdrückten: Die vorherrschenden rechten politischen Tendenzen in der Gesellschaft stärkt nicht nur die Wut der Linksradikalen auf die Massen sondern versetzt sie auch in Angst vor ihr. Daher wird oft das Potential der Unterdrückten zur eigenen Subjektivität, unterschätzt oder gar völlig abgelehnt. Eine emanzipatorische Politik Basiert jedoch auf der Überzeugung, dass die Gesellschaft veränderbar ist. Damit ist auch impliziert, dass die Unterdrückten sich und dadurch die Gesellschaft verändern können. Nun, da sich viele der radikalen Linke bewusst (sogar nur gewohnheitsmässig) von der Gesellschaft trennen, und infolgedessen die Notwendigkeit oder Möglichkeit der Organisierung der Unterdrückten ablehnen, taucht ein grosser Widerspruch auf: Wer soll die Gesellschaft verändern? Wer sind überhaupt die potenziellen Subjekte für einen revolutionären Prozess? Dieser Widerspruch stellt das Verständnis von „Linksseins“ sowie die gesellschaftliche Funktion linker Kräfte in unserem Zeitalter in Frage. In der Konsequenz haben sich verschiedene Verständnisse von "Linkssein" herauskristallisiert, von denen wir zwei für nennenswert halten:

1) Beim ersten Verständnis ist das "Linkssein" nicht mehr unbedingt mit der Vision einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung verbunden24. Für diese Denkrichtung bleibt so eine Vision wie ein unerfüllbarer Wunsch im Hinterkopf und funktioniert nur noch als ein Identitätsstiftender Moment.

2) Das zweite Verständnis pflegt einen fast teleologischen Umgang mit der genannten Problematik. Für sie wird die Revolution zu einer Glaubensfrage, wobei sich die Revolution in einer unbestimmten Zukunft realisieren muss. Diese Denkrichtung Übertreibt des Potential der Massenspontaneität (also der künftigen Massen!) und stellt sich die Revolution als einen Bruch vor und viel weniger als einen Prozess.

2.4. Wie lässt sich die Vorstellung der „Revolution ohne Massen“ aufheben?

Trotz des benannten Punkte ist die Revolution gegen das herrschendes System immer noch für viele in der radikalen Linke eine Vision. Diese Vision ist jedoch oft mit keinen strategischen Ansätzen verbunden. Da die Revolution nur durch die revolutionären Massen durchgeführt werden kann, wird die Frage nach der Organiserung dieser Massen die Voraussetzung jeglicher Revolution! Diese Organisierungsfrage ist vor allem in Deutschland, die Achillesfärse der radikalen Linken. Was die radikalen Linken am Organisieren hindert, lässt sich auf zwei Aspekte zurückführen: Erstens, die Art und Weise wie Linksradikale die Rolle der Unterdrückten betrachten und zweitens, ihre Vorstellung über ihre eigene Rolle (als Linke) in der gewünschten Gesellschaftsveränderung.

Der erste Aspekt zeigt sich durch die Skepsis gegenüber dem Potential der Unterdrückten zur eigenen Subjektivität. Dazu gehört auch jene Skepsis gegenüber Organisierungsprozessen von unten, die sich auf die Seite der Unterdrückten stellen, um zum Aufbau kollektiver Subjekte beizutragen. Diesbezüglich wurde schon in diesem Text (Teil I, 1.5.) einige Kritikpunkte geäussert. Der zweite Aspekt, also die Vorstellung der radikalen Linken über ihre eigene Rolle, zeigt sich vor allem in ihrer Trennung und Isolation von der Gesellschaft. Auch dort wo es den Wunsch nach der Überwinden dieser Trennung gibt, wirkt sich oft die übliche Vorstellung über die eigene Rolle (als radikale Linke) wie ein Hindernis aus. Viele der Linksradikalen wollen die eigene Rolle weit weg von jeglicher Vorstellung von „Avantgarde“ sehen und auch darstellen. Sie verkennen damit jedoch dass sich die bestehende Trennung ohne revolutionäre Basisarbeit nicht überwinden lässt.

Eine revolutionäre Vision setzt die Organisiertheit der Unterdrückten voraus; dazu müssen auch die revolutionären anti-kapitalistischen Kräfte als „Initiativkräfte“ beitragen. Das bedeutet, dass eine Revolution nur durch den Organisierungsprozess der Massen vorstellbar ist. Das heutige Dilemma der revolutionären Politik ist jedoch, dass die vorherrschenden Diskursen innerhalb der radikalen Linke die Notwendigkeit solcher Aufgabe ignorieren oder ablehnen. Viele der Linksradikalen verstehen/betrachten die eigenen Aufgaben anders. Der nächste Teil dieses Artikels fokussiert sich auf dieses Thema, bzw. auf die notwendige Rolle der radikalen Linken im revolutionären Prozess zur Gesellschaftsveränderung. Im nächsten Schritt wird sich dem Begriff „Initiativkräfte“ angenähert und die Rolle der Initiativkräfte als „organisierende Subjekte“ genauer betrachtet. Dabei soll es auch eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Kritiken und Vorwürfen gegenüber diesem Begriff geben.

Nima Sabouri

Fussnoten:

1. 11 Thesen über Organisation und revolutionären Praxis für eine grundlegende Neuorientierung linksradikaler Politik, Kollektiv aus Bremen, Mai 2016. (Die Broschüre als PDF)

2. Jetzt, nach etwa 5 Jahren, nachdem einige linke Gruppen Stadtteilarbeit begonnen haben, hat sich die diskursive Akzeptanz der „revolutionären Basisarbeit“ etwas erhöht. Aber es gibt immer noch viel Skepsis.

3. Der Text wurde als Grundlage für Gruppendiskussion erst im Sommer 2017 auf Englisch verfasst. Seitdem gab es aber keine Gelegenheit mehr, gemeinsam darauf zurückzukommen.

4. Die strukturellen Differenzen zwischen den beiden genannten Arten von Politik werden im Laufe des Textes dargestellt.

5 Einleitung über Subjektivität in Wikipedia (Englisch)

6. Da der Ursprung der Subjektivitätsbildung nicht ausserhalb des gegenwärtigen Systems liegt, werden ihre Inhalte und Richtungen auch von den historisch vorhandenen Einsichten, Ideologien und politischen Tendenzen beeinflusst. Deshalb kann man z.B. im heutigen Zeitalter von der Verbreitung der „neoliberalen Subjekte“ sprechen. 7. Hier gemeint ist der historische Stand der Emanzipationskämpfe in einer bestimmten Gesellschaft. Solche Kämpfe können u. a. die Gelegenheiten schaffen, wodurch eine Person die kollektiven politischen Räume und/oder die emanzipatorischen Sichtweisen erleben kann.

8. Ein Beispiel davon ist die Darstellung des Proletariat bei Georg Lukacs als die geschichtlich unvermeidbare Selbstverwirklichung einer bestimmten Art von Subjekten.

9. Die Anwendung des Begriffs Intersektionalität hier basiert auf dem Verständnis, dass die intersektionalen Unterdrückungsmechanismen nicht nur Trennungen zwischen Menschen in der Gesellschaft verursachen, sondern auch Überschnaeiderungen.

10. Von ihrem eigenen Arbeitsprozess; von ihrem eigenen Arbeitsprodukt; von anderen; und von sich selbst als Mensch. 11Weil diese Bedingungen den Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit erwecken.

12. Diese verhindernden Mechanismen umfassen ein breites Spektrum, einschliesslich: verformte Erscheinungen sozialer Verhältnisse durch die strukturellen Merkmale der Warengesellschaft (wie Fetischismus); autoritäre Unterdrückung durch die herrschende Ideologie und die staatlichen Institutionen; akute und zunehmende Instabilität/Prekarität in den Arbeits- und Lebensbedingungen, die den meisten Menschen die Möglichkeiten der Selbstentfaltung und des konstruktiven Umgangs mit anderen nehmen; und die Zunahme der reaktionären und identitären Ideologien, sei es religiös, nationalistisch oder rassistisch, die die Unterdrückten trennen und gegeneinander setzen. 13. Dazu gehört auch die Befreiung von verformten Subjektivitäten.

14. Im Gegensatz zur „Politik von unten“ dient die herrschende Politik (Politik von oben) dazu, dass die Unterdrückten die herrschenden Verhältnisse und Normen verinnerlichen, um sich an ihr Elend anzupassen. Da diese Politik auch die bestehenden Widersprüche und Benachteiligungen auf falsche Ursachen und Faktoren/Akteur*innen projiziert, täuscht sie die Unterdrückten und zerspaltet sie dadurch u. a. in mehrere feindliche Teile, mit reaktionären Ansichten/Orientierungen. Kurz gesagt, die Politik von oben verfolgt das Ziel, die Unterdrückten in getrennte, passive und machtlose Individuen sowie feindliche Gruppen umzuwandeln, indem ihnen die Entfaltung ihrer kollektiven Subjektivität zur Gestaltung eigener Politik genommen wird.

15. Im Gegensatz zur „Politik von unten“ dient die herrschende Politik (Politik von oben) dazu, dass die Unterdrückten die herrschenden Verhältnisse und Normen verinnerlichen, um sich an ihr Elend anzupassen. Da diese Politik auch die bestehenden Widersprüche und Benachteiligungen auf falsche Ursachen und Faktoren/Akteur*innen projiziert, täuscht sie die Unterdrückten und zerspaltet sie dadurch u. a. in mehrere feindliche Teile, mit reaktionären Ansichten/Orientierungen. Kurz gesagt, die Politik von oben verfolgt das Ziel, die Unterdrückten in getrennte, passive und machtlose Individuen sowie feindliche Gruppen umzuwandeln, indem ihnen die Entfaltung ihrer kollektiven Subjektivität zur Gestaltung eigener Politik genommen wird.

16. Es geht darum, ob die Logik des Kapitals ihre Tendenz zur Verdinglichung der menschlichen Verhältnisse vollständig durchsetzen kann. Dafür müssen alle anderen nicht-ökonomischen Mechanismen dieser Logik vollständig unterworfen werden, während sie unterschiedliche Funktionsweisen als Kapital haben. Daher können die Kapitalverhältnisse nicht-ökonomische Mechanismen nur bedingt nach den eigenen Bedürfnissen verformen und müssen sie sich gleichzeitig an deren Funktionsweisen und Wechselwirkungen anpassen. Infolgedessen ist die Gesellschaft auf der konkreten Ebene viel komplexer als nur durch die Logik des Kapitals bestimmt. Daher wirkt die Dominanz der Warenform in der kapitalistischer Gesellschaft nur als starke reale Tendenz (also eine „gesetzesbasierte Tendenz“). Das heisst: Die Logik des Kapitals kann nicht die historische Realität vollständig bestimmen; ebenso kann sie die menschlichen Subjektivitäten nicht vollständig (und gleichmässig) beherrschen oder eliminieren.

17. Hier sollten zwei Aspekte berücksichtigt werden: die Wechselwirkungen von Unterdrückungsmechanismen und ihre Folgen; und die indirekten Auswirkungen jedes Mechanismus auf die Menschen, die davon nicht unmittelbar betroffen sind.

18. Viele Linksradikale vernachlässigen oft diesen Punkt (manche leugnen ihn sogar). Dadurch wird die „unvollkommene“ Tendenz des Kapitalismus zur Unterwerfung der Subjektivitäten der Unterdrückten gestärkt. Wir werden auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen.

19. Diese sind Teil der Erfahrungen, die die herrschende Politik den Unterdrückten systematisch entzieht.

20. Die Einflüsse weiterer Faktoren wie „Gewohnheitspolitik“, „Life-style-Politik“ usw. lassen wir erstmal aussen vor.

21. Das erklärt teilweise, warum sich viele der radikalen Linken in kleinen Polit-Kreisen wohlfühlen.

22. Eine Kritik am Ansatz der „Politik der ersten Person“ folgt im nächsten Teil dieses Textes.

23. Vor diesem Hintergrund sind viele aktivistische Kämpfe der Linksradikalen eigentlich Abwehrkämpfe gegen die kranke Gesellschaft, nicht strategische Kämpfe für eine Gesellschaftsveränderung. In ähnlicher Weise sind meistens der linken Orte und subkulturellen Aktivitäten im Endeffekt die „safe spaces“ gegenüber Angriffen der reaktionären Massen.

24. Das kann teilweise erklären, warum heutzutage das Wort „revolutionär“ im Diskurs und in der Literatur der radikalen Linken nicht so oft benutzt wird.