Anthropomorphisierung, also die Vermenschlichung nichtmenschlichen Lebens in der textlichen Darstellung, war freilich (auch) in der wissenschaftlichen Literatur zu Zeiten Reclus und Kropotkins keineswegs unüblich - man denke nur an Brehms Tierleben. Aber wie sehr Kropotkin und Reclus auch auf konservative Anmassungen der Sozialdarwinisten reagierten, es gibt doch keinen Zweifel, dass die von ihnen erträumte anarchistische Gesellschaft weit mehr ein Phänomen der Natur als der Kultur war: Sie würde eine Rückkehr zu natürlich(er)en Lebensweisen ermöglichen.
Auch die grosse Begeisterung der anarchistischen Basis für die Entdeckungen der angewandten Natur- und Humanwissenschaften hatte hier ihre Ursache: Um die Natur des Menschen befreien zu können, wollte man zuerst einmal wissen, wie sie wirklich funktionierte. "Der Idee", schreibt die Anarchismusforscherin Ruth Kinna, "dass der Anarchismus sein Fundament in den empirischen Wissenschaften hatte, konnte man kaum widerstehen."
Schritt für Schritt löste sich die anarchistische Theorie in den folgenden Jahrzehnten von dieser allzu hoffnungsvollen Deutung der Natur des Menschen. Die bereits seit Jahrhunderten existierenden, grundsätzlichen philosophischen Zweifel an der Tragfähigkeit der Kategorie kamen unter den schwarzen und schwarz-roten Fahnen allerdings nur mit Verspätung an. Erst als im sogenannten Postanarchismus Ideen und Konzepte des poststrukturalistischen Denkens und der philosophischen Postmoderne aufgegriffen wurden, gemischt mit wichtigen Erkenntnissen der Gender-Theorie, war es um die Natur des Menschen geschehen. Autoren wie Kropotkin und Reclus sind seither unter Postanarchistinnen und Postanarchisten nur noch sehr bedingt hoffähig. Sie verschwinden meist auf den obersten Borden der Bücherregale.
Wer sich nicht als theoretisch-philosophisches Fossil offenbaren will, ist in solchen Kreisen gut beraten, die Natur des Menschen nicht männiglich im Munde führen. Aber ist solch ein theoretischer Rigorismus nachzuvollziehen? Und ist er politisch sinnvoll? Die Natur des Menschen von einer nachweislich gegebenen, nämlich physischen Natur her zu erfassen, und nicht, wie bisher meist geschehen, von der Religion und Philosophie her, könnte sich heutzutage als nützlicher erweisen, als viele es vielleicht annehmen. Die alte totalitäre Idiotie vom "neuen Menschen", vom "Idealbild des Menschen" usw. müsste ersetzt werden durch ein Bild des Menschen tout court, soweit wir es erfassen können. Statt einer metaphysischen bräuchte es sozusagen eine physische politische Philosophie. Leugnen ist die falsche Strategie oder: Die politische Bedeutung der physischen Natur des Menschen
Dass es eine biologische, sprich: physische Natur des Menschen gibt, hat die Philosophie (zumal die politische Philosophie) im Übrigen nur selten ausdrücklich bestritten. Sie hat sie bloss, schlicht und ergreifend, für belanglos erklärt und daher meist übergangen. In der glänzenden Arena des Hochgeistigen erschien ihr die physische Wirklichkeit des zweibeinigen Säugetiers Mensch vermutlich als zu profan. Ein Philosoph auf der Toilette konnte jahrhundertelang in den Akademien der Welt nur wenig Eindruck schinden.
Gelegentliche Spöttereien gegen diese Vergeistigung des Lebens, wie etwa Milan Kunderas Bemerkung: "'Ich denke also bin ich' ist der Satz eines Intellektuellen, der Zahnschmerzen unterschätzt", vermochten dagegen nur wenig. Dass trotzdem mit solch stoischer Hartnäckigkeit in philosophischen und sozialtheoretischen Werken auf die Natur des Menschen Bezug genommen wurde und zum Teil, wie etwa bei dem lesenswerten spanischen Philosophen Mariana, immer noch wird, hat einen einfachen Grund: Denn möglicherweise war die in gut 200 Jahren philosophischer Auseinandersetzung diskutierte und mehr und mehr verworfene Natur des Menschen...nun ja...eben gar nicht die Natur des Menschen. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden:
Alle, die der Überzeugung sind, jegliche Bezugnahme auf eine wie auch immer geartete Natur des Menschen verbiete sich in linkspolitischem Kontext von selbst, seien hiermit zu einem kleinen Gedankenexperiment eingeladen. Nehmen wir an, die Natur des Menschen habe in linkspolitischem Kontext wirklich keine Bedeutung. Alle Menschen müssen essen, trinken, schlafen, atmen, altern, sterben und aufs Klo gehen. Alles weitere ist Spekulation. Einverstanden? Gut.
Wenn dem aber so ist, ergeben sich aus diesen natürlichen Eigenschaften nicht eine Reihe von Bedürfnissen? Ist es dann nicht so, dass Menschen ein Recht haben (sollten) auf gesunde und ausreichende Nahrung? Oder auf sauberes Trinkwasser? Einen Platz, an dem sie ruhig, warm und ungestört schlafen können? Auf nicht verpestete Atemluft? Auf einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und in Frieden sterben können? Und schliesslich, warum nicht, auf einen anderen Ort, an dem sie ungestört und friedlich ihr Geschäft verrichten können? Ein Blick auf die soziale Wirklichkeit der Erde zeigt, dass für Millionen Menschen diese natürlichen Bedürfnisse revolutionäre, ja fast schon utopische Forderungen darstellen. Würden sie überall erfüllt, hätte die Welt ein anderes Gesicht. Kann man da wirklich noch behaupten, die Natur des Menschen sei politisch bedeutungslos?
Es lässt sich ohne Mühe in dieser Richtung weiterketzern: Wie kann man eigentlich an der Existenz und Bedeutung einer Natur des Menschen zweifeln, wo es eine Medizin gibt? Noch pikanter wird es, wenn man sich das Vergnügen macht, einen überzeugten Postanarchisten und einen Genetiker zur Diskussion einzuladen. Man möchte meinen, beide stammten von verschiedenen Planeten! Der Absolutheitsanspruch, mit dem jede Bezugnahme auf die Natur des Menschen im Postanarchismus verworfen wird, wird in nicht eben einflusslosen Bereichen menschlichen Denkens und Handelns keineswegs geteilt - und damit ist nicht Mario Barth gemeint. Er wirkt wie eine kauzige Marotte; wie etwas, das seinerseits aus der Zeit gefallen ist.
Die Natur des Menschen ist keine Büchse der Pandora
In den Augen so manch überzeugten Poststrukturalisten oder Postanarchisten mag es nun so aussehen, als würde eine (wie hier) vorgeschlagene Rückkehr zur physischen Natur des Menschen als Kategorie des linkspolitischen Denkens die von der Postmoderne mühsam zugedrückte Büchse der Pandora wieder aufreissen. Denn man kann sich ja des Eindrucks nicht erwehren, als sei die Natur des Menschen als politische Denkkategorie in den vergangenen Jahrzehnten von politischer Philosophie und kritischer Sozialtheorie nicht immer mit ganz lauteren Motiven vom Hof gejagt worden. Es ging oft weit eher darum, dem politischen Gegner eine mächtige Waffe aus der Hand zu schlagen. Nur mit Grausen erinnert man sich zum Beispiel an Rechtfertigungen patriarchaler Gewalt und Männerherrschaft mit der angeblichen "Natur der Frauen".Und mancher denkt vielleicht an das berüchtigte "Kriminalitätsgen", dass ein (weisser) US-Amerikanischer Genforscher Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckt zu haben meinte und das, welche Überraschung, vor allem bei Schwarzen zu finden sei. In politischem Kontext hatte die Bezugnahme auf die Natur des Menschen häufig den Geschmack des Ewigen, Unabänderlichen und damit der Verweigerung jeglicher Diskussion, geschweige denn gesellschaftlicher Veränderungen.
Ob solche versteinerten Gesellen wohl bedacht haben, dass sich kaum etwas in einem derart steten und ununterbrochenen Wandel befindet wie die Natur?
Gleichviel, die radikale linkspolitische Theorie reagierte auf herrschaftslegitimierende Anmassungen, die fortgesetzt die Natur des Menschen im Munde führten, mit einem paradoxen Schritt: Sie leugnete ganz einfach deren Existenz und beendete damit ihrerseits die Diskussion. Statt im oben angedeuteten Sinne soziale und kulturelle Konsequenzen aus nachweislichen Gegebenheiten des natürlichen Lebens (soweit wir sie zweifelsfrei erfassen können) zum Thema zu machen und zu kritisieren, schüttelte sie sich einfach wütend allen lästigen natürlichen Ballast aus dem Pelz. Ihre Welt wurde zur keimfreien Studierstube einer kulturellen Elite, in der es nicht regnete, in der man nicht fror, nie hungern musste und wohl für gewöhnlich auch keine Kinder bekam. Als hätte man sich nicht auch auf andere Weise mit machtversessenen Dummschwätzern und pseudowissenschaftlichen Scharlatanen auseinandersetzen können!
Die philosophische Dekonstruktion, die der armen alten Natur des Menschen reclusscher und kropotkinscher Prägung so bös zu Leibe rückte, war (und ist) im Grunde nichts weiter als eine neuerliche Verzauberung der Welt. Heraus kam ein vorgeblich kulturell beliebig veränderbares soziales Lebewesen. Selbstverständlich ist jedes philosophische Subjekt eine zeitgebundene, abstrahierende Konstruktion. Aber genau deswegen könnte es sich als nützlich erweisen, in unseren Tagen einen kleinen Umbau vorzunehmen. Die Wiederkehr der Natur des Menschen wäre dann nicht als ahistorische Universalie zu begreifen, sondern als zeitgebundene, zweckdienliche Notwendigkeit, um zu einem anderen Politikverständnis zu gelangen; einem Verständnis, das es ermöglichen würde, Menschen (wieder) als Teile natürlicher Zyklen zu begreifen und so der ökologischen Katastrophe besser entgegenzuwirken, die das gesamte Leben auf diesem Planeten bedroht. Sie wäre, schlicht und ergreifend, brauchbarer als ihr postmoderner Konterpart.
Die Distanz, die vor allem zwischen den Menschen des reichen Nordens und Westens und der natürlichen Welt besteht, könnte verringert werden. Praktischer Nutzen ginge hier, ganz pragmatisch, vor Wahrheitsanspruch. Der kanadische Wissenschaftsjournalist David Suzuki, Träger des alternativen Nobelpreises, hat mit seiner "Declaration of Interdependence" (2010), einer (erstgemeinten) Parodie der US-amerikanischen "Declaration of Independence", einen solchen Versuch unternommen. Der schöne Satz Ludwig Wittgensteins, die Naturwissenschaften hätten nur erklärt, wie die Welt sei, aber nicht, warum, ist für eine solche Neudeutung der Natur des Menschen im linkspolitischen Kontext kein Hindernis. Denn es bräuchte gar kein "Warum?".
Es genügte ein simples: "Dass". Anders ausgedrückt: All die hoffnungsvollen, sinnstiftenden Zuschreibungen der Vergangenheit, etwa, dass "Der Mensch von Natur aus zu Höherem strebe" oder ein "natürliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit" habe, wären zu ersetzen durch etwas weit Schmuckloseres. Durch das Ziel nämlich, das Leben auf dem Planeten Erde - alles Leben wohlgemerkt - zu erhalten, zu schützen und in einem ungefährdeten Gleichgewicht zu halten. Eine überzeugt poststrukturalistische Freundin von mir pflegte gerne mit etwas schuldbewusstem Lächeln zu sagen: "Immer wenn ich Menstruationsschmerzen habe, zweifle ich an Judith Butler."
Vielleicht wäre es gut, sich dieses Zweifels zumindest nicht länger zu schämen.