Phänomene wie Wagenknechts BSW bezeugen schliesslich auch, wie schnell sich eine angeblich linke Abspaltung von einer reformistischen Partei nach rechts bewegen kann und bewegt.
In jedem Fall verlangt allein die Brandbreite politischer Kräfte und Bewegungen, die allesamt als populistisch charakterisiert werden können, nach einer Erklärung für dieses Phänomen. Dies ist umso dringlicher, als in der bürgerlichen Öffentlichkeit „Populismus“ auch zu einem Kampfbegriff geworden ist, zu einem Vorwurf, dem man vorzugsweise dem politischen Gegner macht, während man sich selbst als „vernünftige“ Alternative anpreist.
Thesen zum Klassencharakter des Populismus
1. Populistische Kräfte und Bewegungen entstehen in gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituationen. Sie sind selbst Ausdruck ungelöster, grosser gesellschaftliche Probleme, diedie Lebensbedingungen aller Klassen ergreifen. Auch das Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, die unter Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität zu den wichtigsten Träger:innen bürgerlich-demokratischer, repräsentativer Herrschaftsformen gehören, finden keinen Platz (mehr) in der bürgerlichen Gesellschaft und befürchten den Ruin.
2. Der Parlamentarismus erfüllt seine Funktion als Herrschaftsform immer weniger oder gar nicht mehr, vermag es immer weniger, die mehr oder weniger unhinterfragte Legitimität staatlichen Handelns sicherzustellen. Diese „Krise der Politik“ reflektiert letztlich nur eine tiefere, gesellschafliche und vor allem auch innere Konflikte und Spaltungen in der herrschenden Klasse. Für die herrschende Klasse selbst erweisen sich die parlamentarische Demokratie und tradierte Formen des Klassenausgleichs als immer weniger tauglich, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
3. Die tradierte politische und gewerkschaftliche Führung der Arbeiter:innenklasse versagt darin, eine progressive Antwort auf die Krise zu geben, weil sie selbst aufgrund ihrer reformistischen Politik und Strategie den Rahmen der bürgerlichen Verhältnisse nicht überschreiten kann und will. Das bedeutet, dass die reformistischen Massenparteien und bürokratische geführten Gewerkschaften zu Mitverwalter:innen der Krise werden, die ihr Heil in der Zusammenarbeit mit den „vernünftigen“ („nicht-populistischen“) Teilen der herrschenden Klasse suchen.
4. Unter diesen Bedingungen werden jene Klassen bzw. Klassenschichten, die in relativ stabilen Phasen die Basis für die bürgerliche Demokratie bilden, (teilweise) zur sozialen Basis des Populismus.
Dieser kann dabei sehr verschiedene Formen annehmen. In den Halbkolonien erhält er zusätzlichen Nährboden, weil der bürgerlichen Klasse und dem Kleinbürger:innentum innerhalb der imperialistisch dominierten Weltarbeitsteilung selbst eine schwache gesellschaftliche Position zugewiesen wird. Hier kann er – anders als in den imperialistischen Ländern – noch Ausdruck progressiver Bewegungen sein, wenn auch unter einer bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führung. Beispiele wie Bolsonaro oder Milei verdeutlichen dabei, dass es auch in den Halbkolonien rechte, populistische Massenbewegungen geben kann. Oder ehemals linkspopulistische Bewegungen mutieren zur Basis bonapartistischer, arbeiter:innenfeindlicher Regime, die sich als „antiimperialistisch“ maskieren wie Maduros Venezuela.
Der Populismus selbst kann jedenfalls alle Schattierungen im Parteienspektrum, von extrem rechten bis zu „linken“ kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Parteien, durchlaufen.
5. In jedem Fall müssen aber eine „Volksparteien“, populistische oder kleinbürgerliche, vorgeben, einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben, und sich zum Anwalt der „kleinen Leute“, des „Volkes“, der „Massen“ machen – einschliesslich einer Dosis „antikapitalistischer“ Ideologie (und sei es in einer reaktionären Spielart). Dies ist notwendig, um eine soziale Basis nicht nur in der Elite, sondern auch unter kleinbürgerlichen Massen, den Mittelschichten und politisch rückständigen Teilen der Lohnabhängigen zu erlangen. Nur so können sie auch zu Mitteln der Dominanz über die Arbeiter:innenklasse werden. Nur so sind sie auch in der Lage, ausserparlamentarisch, in Bewegungsform zu mobilisieren.
6. Das Programm des Populismus selbst gleicht dabei einem Gemischtwarenladen. Dass es in sich widersprüchlich und inkonsistent ist, folgt aus dem Charakter der populistischen Partei selbst, die unversöhnliche gesellschaftliche Interessen zu vereinen vorgibt. Daher muss das Programm immer einen reaktionären, illusorischen und demagogischen Charakter tragen, verspricht es doch die Wiederherstellung besserer Zustände für eine zum Untergang verurteilte Klasse (das Kleinbürger:innentum, die Opfer der Konkurrenz …) und die Wiederherstellung einer angeblich zerstörten gesellschaftlichen Harmonie, wo alle Klassen gleich gewesen wären. Im Linkspopulismus vermischen sich dabei kleinbürgerlich-demokratische, reformistische und nationalistische Elemente. Beim Rechtspopulismus stehen extremer Nationalismus, Patriotismus, Rassismus immer an vorderster Front, weil nur so die Einheit des „Volkes“ hergestellt werden kann und es erlaubt wie im Falle der AfD, extreme Formen von Neoliberalismus mit „deutscher Sozialpolitik“ zu kombinieren, die vorzugsweise in Ausweisung der Migrant:innen und kompletten Verelendung der „Taugenichtse“, der Arbeitslosen besteht.
7. Die „Elite“ entpuppt sich beim Populismus letztlich immer als eine imaginierte, eigentlich ausserhalb der „eigenen“ Nation, des eigentlichen Volkes stehende Kraft. Diese besteht entweder aus dämonisierten Angehörigen einer anderen Nation oder Glaubensgemeinschaft (z. B. „Weltjuden-/jüdinnentum“, „die Muslime“, der „internationale Bolschewismus“) oder aus „Volksverräter:innen“ (Linke, Kosmopolit:innen, Gutbürger:innen, Klimaterrorist:innen, vom „Genderwahn“ Befallene). Der Linksreformismus versucht zwar, diese reaktionären Setzungen zu vermeiden, aber bezieht sich auch positiv auf die eigene Nation und damit imaginäre Einheit – folglich auf die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse unter dieses gemeinsame nationale Interesse. Auch er tendiert dazu, den Klassenkampf und die grundlegenden Widersprüche im eigenen Land zu externalisieren, so dass z. B. nur noch die USA oder China als imperialistisch erscheinen, während z. B. Deutschland als Land betrachtet wird, das seine Unabhängigkeit verloren hätte.
8. So sehr der Populismus gegen die (vermeintliche oder wirkliche) Elite hetzen mag, so laufen alle seine politischen Bewegungen letztlich darauf hinaus, den bürgerlichen Staat, den Staat der Elite, selbst in die Hände zu bekommen und als Instrument zur Umsetzung seiner Versprechen zu nutzen. Daher findet sich bei allen populistischen Parteien ein merkwürdiger Widerspruch. Einerseits wird der aktuelle Staat der „falschen Eliten“ verdammt, als undemokratisch und entmündigend gebrandmarkt. Zugleich fordern sie einen weitaus stärkeren Staat, der allen „Volksfeind:innen“ und „Fremdkörpern“, aktuell in Deutschland allen Migrant:innen, ihre demokratischen und sozialen Rechte entzieht. Das heisst, ihre Politik zielt auf einen „starken“ bürgerlichen Staatsapparat, auf die Stärkung der repressiven, unterdrückerischen Formationen des bürgerlichen Regimes.
9. Es ist kein Zufall, dass der Populismus seinem Wesen nach eng verwandt mit der Volksfront ist, einem Bündnis von Parteien, die sich auf verschiedene Klassen stützen. So sind viele populistische Parteien oder Bewegungen v. a. in den Halbkolonien (z. B. Peronismus in Argentinien) gewissermassen Volksfronten in Parteiform. In jedem Fall ergibt sich aus der Natur des Populismus die Tendenz zum Autoritarismus und zur Personifizierung der Politik im Inneren. Die widerstreitenden Klassengegensätze, die er zu vertuschen und kaschieren versucht, sollen zusätzlich durch eine scheinbar über allen Klassen stehende charismatische Führungsfigur symbolisch versöhnt (und ggf. auch repressiv und autoritär unterdrückt) werden.
10. Was für das Innere der populistischen Formation gilt, gilt erst recht, wenn sie die Staatsmacht ergreift: Ihr ist die Tendenz zu Autoritarismus und Bonapartismus eigen, dazu, an der Staatsspitze eine scheinbar über allen stehende Führungsfigur zu stellen und deren Machtbefugnisse zu stärken. Dies ist umso wichtiger, als eine solche Partei an der Regierung zu einem Herrschaftsinstrument des Kapitals werden muss – auch wenn die Wirtschaftspolitik sehr unterschiedlich ausfallen mag, von einer staatkapitalistischen bis hin zu einer neoliberalen Ausrichtung.
Kritik des Volksbegriffs
Unsere Betrachtung ergab also: Jede Spielart des Populismus ist reaktionär und muss entschieden bekämpft werden. Seine Grundlage, und das gilt auch für die Volksfront als seine linke Spielart, bildet, den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital (und damit die Frage des Verhältnisses von Arbeiter:innenklasse zu Kapitalist:innen und Kleinbürger:innentum) durch einen einfacheren Gegensatz zu ersetzen, der quasi quer zu dem zwischen den Klassen liegt: zum Beispiel das Volk gegen die Elite, die Demokratie gegen den Faschismus oder sogar die Demokrat:innen gegen den Populismus.Für die Ideologie des Populismus ist der Volksbegriff immer zentral, entweder ausgesprochen oder implizit. Gleichzeitig ist es dieser Begriff, den zu kritisieren für Revolutionär:innen unerlässlich ist.
Der Nationalismus stellte in der bürgerlichen Revolution ein Mittel der Bourgeoisie dar, die Massen hinter sich zu sammeln, indem sie sich als Vertreterin der Nation oder des Volkes proklamierte und das eigene Klassen- als allgemeines Interesse zu verkaufen versuchte. Ein solches Allgemeininteresse, in dem der Klassengegensatz verschwindet, gibt es aber nicht – und kann nicht geben!
In den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wie in antiimperialistischen Kämpfen fungierte der Nationalismus, der Appell an das gemeinsame Interesse „des Volkes“ zumindest als Mittel zur Mobilisierung für ein fortschrittliches gesellschaftliches Ziel. Das heisst, Revolutionär:innen unterstützen z. B. nationale Befreiungskämpfe, weil sie sich gegen eine wirkliche Unterdrückung wenden. Aber sie kritisieren zugleich auch den linken Nationalismus als bürgerliche Ideologie, treten für ein internationalistisches Programm der Arbeiter:innenklasse ein. Das gilt erst recht in imperialistischen Ländern, wo der Bezug auf Nation und Volk nur reaktionär sein kann.
Mit der Kritik des Volksbegriffes geht auch eine Kritik der „Volksrevolution“ einher, wie sie nicht nur von Populist:innen, sondern auch von Stalinismus und Maoismus verwendet wird. Natürlich bringt auch die proletarische Revolution das ganze Volk, alle Schichten und Klassen in Bewegung. In dem Sinne sprechen auch Marx und Engels, Lenin und Trotzki von einer „Volksrevolution“. Sie verstehen aber die Aufgabe der Revolutionär:innen darin, ihr einen bewusst proletarischen, sozialistischen Charakter zu verleihen. Nur so ist es möglich, die Kleinbäuer:innen und Teile des städtischen Kleinbürger:innentums und der Armut zu führen. Wer das leugnet, vernebelt das Bewusstsein der Klasse, spielt Bourgeoisie und Populist:innen in die Hände.
Daher lehnen Marxist:innen die Schaffung einer klassenübergreifenden Partei ab. Unser Ziel besteht vielmehr darin, die falsche Einheit der Massen auch in linken, populistischen Parteien zu zerbrechen und die Arbeiter:innenklasse aus der ideologischen und organisatorischen Unterordnung unter andere Klassen zu lösen. Das erfordert zwar Taktiken oder auch die Intervention in eine solche populistische Partei in Formierung (gerade wenn die revolutionäre Organisation selbst nur in Keimform vorhanden ist). Aber das Ziel der Kommunist:innen kann immer nur in der Schaffung einer Klassenpartei, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei liegen.