Die autonome Bewegung – ein Überblick
Die Autonomen. Von den einen als Chaoten und Randalierer verschrien, sehen sie sich selbst als hochpolitisierte Bewegung, die sich mit missionarischer Leidenschaft in den Kampf stürzt gegen alle grossen und kleinen Übel dieser Welt. Eine autonome Autorengruppe schrieb einst, „es gibt kein Programm oder Manifest“ [3], manche seien „Autonome, ohne sich selbst so zu bezeichnen, andere nennen sich so, sind's aber vielleicht gar nicht.“ [4] Hervorgegangen sind sie aus den Relikten der 68er-Bewegung, genauer gesagt aus den sogenannten ‚Spontis'. Die politisch linksradikalen Sponti-Gruppen grenzten sich damals vom hierarchischen und parteizentrierten Charakter der K-Gruppen ab, indem sie auf die ‚Spontaneität der Massen' setzten, welche sie durch oftmals kreative und phantasievolle Aktionsformen (wie etwa verstecktem Theater, Hausbesetzungen usw.) anreicherten und damit die klassischen Aktionsfelder und -formen (Partei, Fabrik, Gewerkschaft, Demonstration) ablösten. [5] DieserAktionsstil besteht teilweise bis heute fort. Sichtbar in Erscheinung trat die autonome Bewegung vor allem in den Auseinandersetzungen der Anti-AKW- und Hausbesetzungsbewegung der 1980er-Jahre, welche zugleich ihre Hochphase bildeten. Dementsprechend kristallisierte sich das partikulare Themenprofil der Autonomen schnell heraus: vom Feminismus bis zur Antikriegsbewegung waren es diese Teilbereichskämpfe, die Neuen Sozialen Bewegungen, die Autonome versuchten zu besetzen. [6] Robert Foltin etwa verleitete das dazu, vom „'sozialrevolutionären Flügel' der Multitude“ [7] zu reden. „Ansonsten war eher die Negation Politik-bestimmend: keine WortführerInnen, keine Organisation, keine StellvertreterInnenpolitik, keine Einbindung in politische Verantwortung.
Anonym, subversiv und unberechenbar war das Auftreten.“ [8] Dieses ausserparlamentarisch-antibürokratische Selbstverständnis führte zu einem ausgesprochenen Aktionismus, der von selbstverwalteten Jugendzentren über selbstgedruckte Zeitschriften bis zu offen militanten Strassenkrawallen reichte und reicht. Theoretisch bewegen sie sich dabei zwischen insurrektionalistischem Anarchismus und undogmatischem Marxismus, wobei in den letzten Jahren ein partieller Trend zu abstrakterer Theoriearbeit festzustellen war. Dabei haben die Autonomen stets eine eigene Subkultur herausgebildet, die lange Zeit stark im Punk verwurzelt war, inzwischen aber eine Entsubkulturalisierung vollzogen und auch Einflüsse der Populärkultur mit aufgenommen hat.
Zur Entstehungsgeschichte postautonomer Politik
2005 gründete sich in der Bundesrepublik die Interventionistische Linke, wo auch ein Jahr später das Ums Ganze Bündnis in Erscheinung trat. Beide Organisationen bilden jeweils mehrere Einzelgruppen umfassende Netzwerke innerhalb der deutschsprachigen radikalen Linken (die IL ist laut Internetpräsenz aktuell in 24 Städten vertreten, das uG in 10 Städten), die sich durch ein gemeinsames Auftreten nach Aussen, sowie eine interne Diskussion und Organisierung nach innen kennzeichnen.Sie entstanden aus Organisierungsdebatten der 1990er-Jahre heraus, unter welchen die in der Interim-Zeitschrift geführte Heinz-Schenk-Debatte von besonderer Bedeutung war: Die Geschichte der Autonomen wurde nun als eine Geschichte der Kampagnen begriffen, als eine Politik des Reagierens, die auf den Beginn eines Politiker-Treffens ebenso eifrig hinfieberte wie auf den Bau von Flughafenstartbahnen oder Hausräumungen: „ …wie langweilig ist das
Leben in manchen besetzten Häusern ohne den Überfall der Bullen.“ [9] Um jedoch proaktiv in gesellschaftliche Prozesse eingreifen zu können, bedürfe es einer Einbettung in bestehende Auseinandersetzungen, welche jedoch „durch das Ablehnen konkreter Forderungen und aller Bündnisse mit ReformistInnen“ [10] verhindert werde. Die Konsequenz sei eine Einnischung in der gelegentlich als „Szenesumpf“ bezeichneten Subkultur. Des Weiteren wurde in der Heinz-Schenk-Debatte eine diskontinuierliche Theoriebildung kritisiert, einen von ihr so bezeichneten „Militanzfetisch“ [11], sowie vor allem eine zersplitterte Landschaft gering bis gar nicht organisierter Gruppen und Einzelpersonen.
Die daraus hervorgegangenen Berliner Gruppen Avanti und Für eine linke Strömung (FelS) befürworteten deshalb eine „strategische Bündnisorientierung“ [12] und die Auseinandersetzung mit reformistischen Forderungen, welche sie aber nicht mit reformistischer Politik gleichgesetzt sahen. Dementsprechend beschäftigten sie sich etwa mit der Frage nach einem Grundeinkommen, der Forderung nach kostenfreiem ÖPNV oder unterstützten kämpferische Hartz-IV-Initiativen. [13] Vor allem aber erwünschten sie sich einen „kollektiven Prozess“ [14], der die postautonomen Netzwerke IL und uG bis heute prägt: das Auftreten unter einem einheitlichen Namen, die erkennbare Sichtbarkeit nach aussen, sowie die koordinierte Organisation über gemeinsame Mailverteiler, Materialressourcen, Spendenaufteilung usw, d.h. eine professionalisierte Verbandsstruktur.
Es waren die Gruppen Avanti undFelS, aus denen schliesslich die Interventionistische Linke hervorgegangen ist. Wie später noch beschrieben wird, bezieht sich die IL nicht mehr auf das ursprünglich anarchistisch-libertäre Selbstverständnis der Autonomen, sondern orientiert sich theoretisch eher am breiten Spektrum undogmatisch-neomarxistischer Ansätze. Der IL wird heute ironischerweise wieder eine reine Kampagnenpolitik zugeschrieben, wobei der G8-Gipfel in Heiligendamm, Castor Schottern, sowie Blockupy und Ende Gelände die meiste Bekanntheit erlangten. Die IL setzt dabei bewusst auf das Konzept des „Zivilen Ungehorsams“, allem voran auf organisierte Massenblockaden, welche sie gezielt medial inszenieren, wobei sie stets auf die „Vermittelbarkeit“ ihrer Aktionen achten. [15]
Das uG-Bündnis hat wiederum einen anderen historischen Hintergrund. Es bildete sich aus Antifa-Netzwerken heraus als Reaktion auf bestimmte Tendenzen im Rahmen der G8-Proteste, denen sie Opportunismus, Reformismus und verkürzte Kapitalismuskritik vorwarfen, wobei hier eine gewisse Handschrift der sogenannten Antideutschen [16] zu erkennen
ist, wenngleich uG keineswegs als antideutsches Phänomen zu werten ist. In jedem Falle entwickelten sie ein eher strukturell orientiertes Kapitalismusverständnis, in dem Kritik an einzelnen Repräsentanten, sowie Reformen eine untergeordnete Rolle spielen. [17] Von dieser Position ausgehend entwarfen sie ein tendenziell passiveres Verständnis von Politik, bei der „auch die theoretische Auseinandersetzung […] im Fokus [steht].“ [18] Die Gesellschaft könne eben nur als Ganzes verändert werden. Insgesamt lassen sie sich im undogmatischen Spektrum des Marxismus verorten. Auch uG beteiligte sich, wenn auch in geringerem Umfang, an der Organisation von Aktionen zivilen Ungehorsams.
Dementsprechend sind uG und IL vor allem zwei Sachen gemeinsam: Einerseits die professionalisierte Verbandsstruktur, andererseits ihr ausserparlamentarisches Selbstverständnis, mit dem sie immer wieder ihre Distanz zu Parteigründungen und Parteipolitik betonen (eines der wenigen autonomen Relikte). Ansonsten differieren die Ansätze von uG und IL theoretisch wie praktisch untereinander sehr.
Eine Eigenschaft, die auf beide Gruppen, vor allem aber auf die IL zutrifft und die m.E. ganz wesentlich für ihren derzeitigen Erfolg ist, ist der Versuch, eine anschlussfähige und an den Realitäten bürgerlicher Lebenswelten orientierte Sprache, Auftreten, Inhalte und Aktionsformen zu entwickeln. Das heisst, der Verzicht auf sprachliche Vulgärradikalismen (das Fabulieren von „Bullenschweinen“ oder der „proletarischen Revolution“); der Entwicklung von „Gegenkultur“ [19] statt Subkultur; das Einbeziehen reformistischer Forderungen; und ein Militanzkonzept, das sich in einem „Zivilen Ungehorsam“ äussert, das die Inszenierung militanter Strassenschlachten jedoch weitgehend ablehnt. Diesen Wunsch, sich von der Gesellschaft nicht abzuwenden, sondern in sie hineinzuwirken, habe ich in einem eher polemischen Aufsatz über das Verhältnis von Autonomie und Postautonomie einmal mit dem Rahmenbegriff der „Empathie“ beschrieben. [20]
Obwohl uG und IL innerhalb der deutschen Linken zwei sehr einflussreiche Akteure darstellen, ist von Postautonomie nur am Rande die Rede. Robert Foltin hat 2016 unter dem Titel „Postautonomie? Von der Organisationskritik zu neuen Organisationsformen“ [21] ein sehr empfehlenswertes Buch verfasst. Ansonsten wird der postautonome Ansatz von manchen Zeitungsautoren inzwischen auch der Antifa-Bewegung als Ganzes zugeschrieben, wahrscheinlich weil sie ihr einen hohen Organisierungsgrad unterstellen. Im engeren Sinne jedoch bezieht sich Postautonomie auf die beiden Organisationen IL und uG. Damit blieb er
bislang ein spezifisch deutscher Begriff. Im Folgenden wird der Fokus vor allem auf die IL gelegt werden, was sowohl auf meinen persönlichen Kenntnisstand, als auch auf die höhere Aktivität und grössere Präsenz der IL zurückzuführen ist.