Professionalisierter Verband oder Kaderstruktur?
Insbesondere der IL wird, von antiautoritärer Seite, gelegentlich eine Kaderstruktur unterstellt, die mit basisdemokratischer Politik nicht vereinbar wäre. Auch in den Debatten der IL selbst wird diese oft konstatiert („Die IL im engeren Sinne ist faktisch eine ‚Kader'-Organisation und wird dies auf absehbare Zeit auch bleiben“). [29] Hier kommt es jedoch darauf an, wie man ‚Kader' definiert: als professionalisierte Koordinationsgremien? Diese existieren in der IL tatsächlich (zur Verteilung von Spendengeldern, Betreiben der Bundes-Website, für Presseanfragen usw.). Ob diese Gremien basisdemokratisch legitimiert sind oder zumindest transparent agieren, ist eine weitere Frage. Dazu gesellen sich einheitliche Logos und Aufnahmekriterien für Mitglieder – was auf einige Autonome durchaus befremdlich wirken mag.Oder meint ‚Kader' die Entwicklung qualifizierter Profi-AktivistInnen? Schaut man sich den Bildungsgrad, die Altersstruktur und auch die exklusiven Beitrittsmöglichkeiten an (in Ortsgruppen der IL kommt man oft nur über Kontakte hinein), so erscheint die IL tatsächlich als eine Profiorganisation. Mit einer inklusiven Mobilisierung subalterner Bevölkerungsteile hat das nichts zu tun. Als Konsequenz wurde in IL-internen Debatten in der Vergangenheit immer wieder eine „interventionistische[r] Basisarbeit“ [30] oder gar eine „Armee von OrganizerInnen“ [31] gefordert, die es schaffen, auch Menschen ausserhalb der linksradikalen Szene auf der Strasse, im Betrieb oder in der Schule anzusprechen.
Die gewünschte Anschlussfähigkeit ans bürgerliche Spektrum mag ein gewichtiger Grund sein, warum die IL in der Vergangenheit einen Grossteil ihrer Kampagnen und Projekte ausgelagert hat. So steht beispielsweise die Organisation „Ende Gelände“ unter massgeblichem Einfluss von der IL. Wenngleich Ende Gelände auch eine eigenständige Organisation aus verschiedenen Akteuren bildet, brachte sich die IL erheblich in ihre Organisationsstruktur ein, war im Gründungsprozess involviert und mobilisierte gezielt und öffentlich zu ihren Aktivitäten. Der Verfassungsschutz stufte Ende Gelände sogar als „linksextremistisch beeinflusst“ ein, weil es unter weitreichendem Einfluss der IL stehen würde. Des Weiteren könnte die Vermutung aufgestellt werden, dass andere Projekte vollständig eigens von der IL initiiert und durchgeführt wurden. [32]
Die IL legt ihre Externalisierungspolitik allerdings nicht offen, was vermutlich bewusst geschieht – einerseits, um die Anschlussfähigkeit zu bewahren, andererseits, um einer möglichen staatlichen Repression vorzubeugen. Vielleicht könnte diese Externalisierungspolitik der Ausgangspunkt dessen sein, was in einem Beitrag in der IL-internen Zeitschrift „arranca!“ einst als „ausgefranste Enden“ bezeichnet wurde: ausgefranste Enden, „die in der Lage wären, eine Verbindung herzustellen zwischen (konjunkturellen) Bewegungsstrukturen und kontinuierlicher Politarbeit, ohne dabei die Eingliederung und Entleerung in die eine oder andere Richtung zu betreiben“ [33]. Das Engagement von IL-Ortsgruppen in den lokalen Seebrücke-Bündnissen ist bereits ein Schritt in diese Richtung.
Bündnispolitik und Reformismus?
Insbesonders die IL ist für ihre intensive Bündnispolitik mit Vertretern des bürgerlichen Spektrums bekannt, was ihr immer wieder den Vorwurf des opportunistischen Reformismus einbrachte. Schon beim G8-Gipfel in Heiligendamm organisierte sie zusammen mit derGrünen Jugend, Attac und Pax Christi gemeinsame Massenblockaden. [34] Beim Blockupyprotest 2012 fanden sich IL und uG in einem Bündnis mit der Linkspartei, verdi und sogar der griechischen Partei Syriza zusammen. [35] Einige spotteten deshalb, „was sie denn eigentlich von attac, NGOs oder der Linkspartei ausser mehr Kampagnen-Aktivismus unterscheidet.“ [36] Beispielsweise forderten sie in ihrer Strategiebroschüre für ein „Rotes Berlin“ eine „Reihe von Reformen, die Wohnraum Schritt für Schritt aus privater in öffentliche Hand bringen und demokratisieren sollen.“ [37] So diskutierten sie einen „Volksentscheid für eine höhere Grunderwerbssteuer“ [38] und über Mietobergrenzen, aber auch die Enteignung von Immobilienunternehmen.
Ums Ganze konnte bislang diesem (wenn auch radikalen) Reformismus wenig abgewinnen und setzte an deren Stelle lieber die radikale Kritik. Zwar gehen auch sie regelmässig Bündnisse ein, diese bestehen überwiegend jedoch aus anderen linksradikalen Gruppen. Das Verhältnis zum bürgerlichen Spektrum schlägt sich auch im Sprachgebrauch der beiden Gruppen nieder. Beide Gruppen haben sich vom oft aggressiven Vulgärvokabular der damaligen autonomen Szene gelöst. Doch während die IL im öffentlichen Auftreten häufig eine eher bildungsbürgerliche Sprache bedient, sind die Ausführungen und Aufrufe von uG eher theorie-lastig und an das linksradikale Spektrum gerichtet. Dass uG schon mal öffentlich Deutschland als „mieses Stück Scheisse“ [39] bezeichnet oder ganz modern „just communism“ [40] und „100% happiness“ [41] fordert, sind mehr als deutliche Indizien für ihre tendenzielle Distanziertheit.
Das Verhältnis zum Staat
Ums Ganze sieht sich darüber hinaus in einer explizit antistaatlichen Position, aus der sie fordert, sich „bewusst antipolitisch“ [42] zu organisieren, um „die Umklammerung der Institutionen und der Politik aufzubrechen.“ [43] Die IL hingegen bezieht sich in ihren theoretischen Ausführungen, die auf ihrem Debattenblog oder ihrer Zeitschrift arranca! zum Hervorschein treten, auf ein eher neomarxistisches Staatsverständnis, indem sie in Rekurs auf Theoretiker wie Gramsci und Poulantzas beispielsweise die "strategische[…] Verbindung einer ,regierenden' und einer ,kämpfenden' Linken“ [44] fordern.Zwar glauben sie „nicht, dass parlamentarische Mehrheiten bedeutungslos wären und es falsch ist, wenn es in den Parlamenten starke linke Parteien gibt.“ [45] Dennoch stehen sie
„ausserparlamentarisch und grundsätzlich antagonistisch zum Staat“ [46] und bezeichnen sich selbst als „staatsfern bis antistaatlich.“ [47] Sie „glauben nicht daran, dass parlamentarische Mehrheiten in der Lage sind, die Gesellschaft grundsätzlich und in einem emanzipatorischen Sinn zu verändern“[48] und betonen: „unser Widerstand ist ausserparlamentarisch.“ [49] Während UG also auf einen absoluten Antietatismus setzt, zeichnet sich die IL durch einen relativen Antietatismus aus – wobei auch hier die Vorstellungen innerhalb der Ortsgruppen und der einzelnen Mitglieder womöglich differieren.
Praxis oder Theorie?
Das Verhältnis von Praxis und Theorie kann für die beiden Organisationen recht eindeutig beantwortet werden. Die IL fordert bereits in ihrem Namen eine „interventionistische“ Politik und eine „Linke, die dazwischen geht“ [50], „die Brüche vertieft und Chancen ergreift.“ [51] Sie schreibt, man wolle „lieber Fehler machen und aus ihnen lernen, anstatt sich im Zynismus der reinen Kritik zu verlieren“ [52], womit sie auf die Theorie-zentrierten Tendenzen einiger antideutscher Publizisten anspielen, auch wenn dies nicht über die antideutsche Bewegung als Ganzes gesagt werden kann. Die antideutsche Strömung begann sich in etwa parallel zur Entstehungszeit der IL in den 2000er-Jahren zu etablieren, was wohl den Anlass für dieses Statement der IL begründete. Und so erwies die IL einen unermüdlichen Eifer, präsent zu sein, die gesellschaftliche Debatte mitzubestimmen und scheute dabei auch nicht die militante Auseinandersetzung.Sie legten mehrfach das Bankenviertel in der Frankfurter Innenstadt lahm, unterhöhlten die niedersächsischen Zugschienen und machten sich in den Gruben von Garzweiler die Hände schmutzig. UG übte an dieser Interventions-Freudigkeit zwar keine explizite Kritik. Meines Wissens waren Blockupy 2012, der G20-Gipfel in Hamburg und die Internationale Automobilausstellung 2021 jedoch die einzigen Ereignisse, wo uG selbst Blockadeaktionen organisierte. Insgesamt tritt uG seltener öffentlich in Erscheinung und mobilisiert weniger aktiv zu öffentlichen Protesten, versucht aber in diese kritisch zu intervenieren. Denn, so schreibt beispielsweise die Basisgruppe Frankfurt: „Während den ‚InterventionistInnen' schnell das Mitmachen, die Reproduktion der abzuschaffenden Verhältnisse und das potentiell falsche Verständnis derselben zum Vorwurf gemacht werden kann, endet die Praxis der ‚IdeologiekritikerInnen' allzu oft in identitärer Abgrenzung.“ [53]
Theorie als Pluralismus
Was das Verständnis von Theorie betrifft, so lässt sich unter den Postautonomen allerdings eine Gemeinsamkeit ausmachen. Sie alle kritisieren unablässig den orthodoxen Marxismus, weisen die Lehre vom Hauptwiderspruch zurück, wollen das proletarisch-revolutionäre Subjekt teilweise durch die ‚Multitude' ersetzen oder fordern die holistische ‚Verbindung von Identitäts- und Klassenpolitik'. Sowohl IL als auch uG setzen dabei auf ein gemeinsames Prinzip: den Pluralismus. In der IL sind „Autonome, FeministInnen, AnarchistInnen, KommunistInnen“ [54] organisiert, die unterschiedlichen geschichtlichen „Erfahrungen und Hintergründe fliessen in der IL zusammen“ [55], sie „wählen aus der Vielfalt linker und revolutionärer Geschichte keine Traditionslinie aus und erklären sie für richtig oder verbindlich. Die IL hat keine Säulenheiligen und folgt keiner eindeutig abgrenzbaren theoretischen Lehre“ [56]. Dementsprechen lässt sich in den Publikationen eine Vielzahl an theoretischen Bezügen wiederfinden, von Postoperaismus und Queerfeminismus über Gramsci und Poulantzas bis zu Neuer Klassenpolitik und der Organizing-Theorie. Auch das Ums Ganze – Bündnis diskutierte die „notwendige Offenheit für unterschiedliche theoretische Ansätze“ [57] und die „Vielfalt theoretischer Paradigmen“ [58], denn die „Komplexität, mit der sich eine heutige Herrschaftsanalyse konfrontiert sieht, lässt sich nicht mit einem theoretischen Ansatz, und sei er auch noch so elaboriert, einfangen.“ [59]Auf ihrem Nowayout?-Kongress erörterten sie deshalb intensiv die aktuellen Theorien des Postoperaismus und der Wertkritik. Die aktuellen Debatten unter den postautonomen Gruppen zeichnen sich durch eine ausgesprochene Vielfalt aus und beziehen sich oft auf aktuelle Themen. Sie lassen sich auf ihren Web- und Facebookseiten, auf dem „Debattenblog“ der IL und den Verbandsinternen Zeitschriften „arranca!“ (IL) und „mole“ (uG) nachverfolgen.
Postautonomie: Versuch einer Definition
Es wurde deutlich, dass sich postautonome Politik bisher auf die beiden Organisationen IL und uG bezieht und damit bislang im spezifisch deutschen Kontext angewandt wird, wobei der Begriff keiner festen Definition unterliegt. Bisher lassen sich jedoch folgende zentrale Elemente herausarbeiten. Postautonome bilden eine linksradikale Bewegung, die 1) vielfältige neo- und postmarxistische oder ferner auch anarchistische Positionen widerspiegelt, 2) sich in einer professionalisierten Verbandsstruktur organisiert, 3) eine gezielte Bündnispolitik pflegt, 4) regelmässig Aktionen zivilen Ungehorsams organisiert, 5) eine absolute oder relative Staatsferne einnimmt und 6) sich eher in gegen- als in subkulturellen Lebensweisen ausdrückt.Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Stossrichtungen unterscheiden: Eine antagonistisch-isolationistische, mit uG auf der einen, und eine transformativ-interventionistische, mit der IL auf der anderen, Seite. Der letztgenannte Ansatz zeigt sich offen für eine Bündnispolitik mit bürgerlichen Gruppen, weist eine praxisorientierte Grundhaltung auf, unterzieht sich einem dialektischen Verständnis von Reform und Revolution und achtet auf eine gewisse Vermittelbarkeit der Kommunikation. Der antagonistisch-isolationistische Ansatz verfolgt hingegen eine eher Szene-orientierte Bündnispolitik und vertritt und kommuniziert eine antagonistische und theorielastigere Grundhaltung. Nach über 20 Jahren postautonomer Politik kann schliesslich auch diskutiert werden, ob der Begriff selbst überhaupt noch für die Beschreibung der von ihm gemeinten Phänomene geeignet ist.