Ansonsten hat sich mit „Plan C“ in England ein Bündnis gebildet, das aufgrund seiner professionalisierten Verbandsstruktur (und generell seinem „modern“ wirkenden und undogmatischen Internetauftritt) eventuell als postautonome Organisation gewertet werden könnte. Über seine konkreten Aktivitäten liessen sich allerdings nicht genügend Informationen auffinden. Es steht ebenfalls in Kontakt zu den deutschen postautonomen Gruppen und ist zusammen mit uG und Organisationen aus anderen europäischen Ländern im linksradikalen (und postautonomen?) Netzwerk „Beyond Europe“ organisiert.
Das Netzwerk will nach eigenen Angaben ein Informationsportal für „anti-authoritarianstruggleshappening in Europe“ werden und langfristig auch transnationale Aktivitäten koordinieren. Genannt werden unter anderem „collaborating with the struggles of Amazon warehouse workers and workers in logistics; establishing and maintaining social centres, anti-eviction campaigns“. [60] Insgesamt scheint das Netzwerk dem antagonistischen Ansatz von uG sehr zu ähneln. Mit dem „Allt at Alla“-Bündnis in Schweden scheint auch der transformativ-interventionistische Ansatz der IL ausserhalb Deutschlands vertreten zu sein. [61]
Mit Sicherheit existieren in und ausserhalb Europas noch weitere solcher Gruppen und transnationaler Netzwerke [62], welche den Meisten von uns nur noch nicht bekannt sein dürften. Einige dieser Organisationen mögen zwar eine Verbandsstruktur aufweisen, aber deshalb noch nicht unbedingt die Kriterien einer postautonomen Organisation erfüllen. Andere Organisationen wiederum mögen diese Kriterien erfüllen, sich selbst aber nicht als postautonom bezeichnen – vor allem, da der Begriff in Deutschland aufgekommen ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, ob postautonome Politik ein international tragfähiger Ansatz ist? Wäre postautonome Politik auch in anderen Weltregionen und politischen Kontexten umsetzbar und in den dortigen sozialen Bewegungen anschlussfähig?
Ausblick
Auf den ersten Blick scheint der Erfolg den Postautonomen Recht zu geben. Sogar der Verfassungsschutz lamentiert immer wieder die „breitere gesellschaftliche Akzeptanz“ [63], mit der Postautonome „Netzwerke bis weit in die demokratische Gesellschaft hinein“ [64] knüpften, was „für die Sicherheitsbehörden eine grosse Herausforderung“ [65] darstelle. Tatsächlich konnte insbesondere die IL in ihren Aktionen immer wieder ein grosses mediales Echo erzeugen und sich bündnispolitisch weitreichend vernetzen.Zu loben ist der praktizierte Zivile Ungehorsam auch in der Hinsicht, als dass er ein besonders niedrigschwelliges Angebot darstellt, wodurch er sich als ein explizit inklusives, horizontales Konzept erweist. Bei den von der IL mitorganisierten Ende Gelände – Protesten wurde beispielsweise penibel Wert auf die Bereitstellung von Material, ärztliche Behandlung, hygienische Verpflegung und mentale Begleitungsstrukturen gelegt. Damit beweisen postautonome Organisationen auch ihre Fähigkeit zu hochgradiger Professionalisierung.
Dieser Erfolg darf jedoch nicht über die inneren und äusseren Problemen hinwegtäuschen, denen sich auch postautonome Politik ausgesetzt sieht.
Erstens hat zumindest die IL mit inneren Differenzen und Gruppenaustritten zu kämpfen [66], was in der Veröffentlichung einer kritischen Broschüre mit dem Namen „Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein“ [67] gipfelte. Zwar blieb uG meines Wissens hiervon bisher verschont. Die Geschichte linker Bewegungen zeigt jedoch, dass es eine Frage der Zeit ist, bis solche oder andere innere Konflikte auch andere postautonome Strukturen treffen.
Zweitens haben die Krisenprozesse seit 2020 nicht nur die postautonome Linke vor neue Herausforderungen gestellt. Während die Coronapandemie die Linke gezwungen hat, ihr Verhältnis zu staatlichen Kontrollpraktiken und etatistischem Krisenmanagement neu zu justieren, bringt der derzeitige Krieg gegen die Ukraine fundamentale Gewissheiten zur Friedens- und auch Energiepolitik ins Wanken.
Die dramatischen Geschehnisse im Osten Europas drohen auch für die europäische Linke zu einer inneren Zerreissprobe zu werden. Während klassisch-autonome Gruppen den Vorteil haben, etwaige innere Differenzen notfalls noch durch individuelle Mitgliederaustritte lösen zu können, kann das für postautonome Bündnisstrukturen existenzbedrohend werden. Dabei können sie nicht hoffen, die durch den aktuellen Krisenzyklus entstehenden ideologischen Verunsicherungen durch etwaige PR-technische Enthaltungen aussitzen zu können. Wie wird sich die postautonome Linke in Zukunft zu Militäreinsätzen verhalten – wird sie in kategorischer Ablehnung zu ihnen stehen oder positioniert sie sich eher situativ bedingt? Wird sie die Forderung nach einem Grundeinkommen unterstützen oder fürchtet sie sich zu sehr vor seiner neoliberalen Realwerdung?
Wird sie die – zumindest partielle – Nutzung nuklearer Energie als einen notwendigen Rettungsanker zur Abwendung der Klimakatastrophe akzeptieren, wie es etwa der finnische Ableger von Fridays for Future fordert, oder wird sie jede Debatte darüber als Verrat an die Errungenschaften der Anti-AKW-Bewegung verstehen?
Je mehr die postautonome Linke innerhalb der sozialen Bewegungen und der Gesellschaft zu einer relevanten Kraft wird, desto mehr ist sie gezwungen, sich öffentlich zu positionieren, was bedeutet, sich mit der Komplexität der realpolitischen Verhältnisse auseinanderzusetzen. Andernfalls drohen Projekte wie etwa die Aktionstage „RheinMetall entwaffnen“ an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das bedeutet nicht, sich in Zukunft „für“ oder „gegen“ Waffenlieferungen entscheiden zu müssen. Auch das offene Eingeständnis einer inneren „Vielstimmigkeit“ kann eine ehrliche Haltung sein, die dem Vorwurf zuvorkommt, die Debatte zu scheuen – es ist legitim, Fragen zu stellen, anstatt Antworten zu liefern. Der Spagat zwischen komplexitätsgerechten Analysen und einer kompromisslosen Politik der Maximalforderungen wird eine entscheidende Herausforderung in der weiteren Entwicklung der postautonomen Linken sein.
Drittens sind die beiden grossen postautonomen Organisationen verstärkt in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten. Dies droht vor allem Bündnisse, die mit bürgerlichen Akteuren geschlossen wurden, zu belasten. Exemplarisch ist hierbei die Einstufung von Ende Gelände durch den Verfassungsschutz als „linksextremistischer Verdachtsfall“ im Juni 2024. Dazu bei trägt die Hinwendung bzw. Öffnung zum Konzept der „friedlichen Sabotage“, die expressis verbis speziell durch Ende Gelände forciert wird. Mit dem auch als „Ziviler Ungehorsam Plus“ bezeichneten Konzept ist die Verbindung aus zivilem Ungehorsam und Sachbeschädigung gemeint. [68]
Wenngleich dieser Diskurs noch vorsichtig geführt wird, ist davon auszugehen, dass diese Verschiebung der Aktionsformen langfristig eine verstärkte Repression nach sich ziehen wird. Hinter all dem schwebt stets die Gefahr einer Regierungsbeteiligung durch die extreme Rechte. Im schlimmsten Falle wird dies eines Tages zum Verbot der grossen postautonomen Organisationen führen. Auch dafür ist die Auslagerung von Kampagnen und Projekten sinnvoll, denn in einem solchen Fall können deren Akteure weiterhin als informelle, dezentrale Netzwerke agieren. Ob das Prinzip des Zivilen Ungehorsams in einem rechtsautoritären Staatswesen dann überhaupt noch handlungswirksam sein kann, wäre sicher ebenso zu diskutieren.
Zu guter Letzt darf der bisherige Erfolg postautonomer Politik nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser nicht ohne die Koexistenz zu anderen politischen Akteuren denkbar wäre. Ohne die klassenpolitische Verankerung der Gewerkschaften, dem Verhandlungskapital der NGOs, dem Eifer der militanten Aktivist:innen, der Kreativät politischer Künstler:innen oder den Analysen akademischer Theoretiker:innen stünde die postautonome Linke ziemlich alleine da. Wer glaubt, „dass die ganze Welt so werden müsse wie die eigene Szene, kann nur ein instrumentelles Verhältnis zu anderen entwickeln“, fasste Heinz Schenk damals den „Subjektivismus“ der autonomen Szene zusammen.
Die postautonome Bewegung besitzt nicht den avantgardistischen Anspruch, alle gesellschaftlichen Milieus in sich zu absorbieren. Sie sollte sich darüber im Klaren sein, dass ihr Ziel niemals sein kann, sich zur aufhebenden Bewegung zu universalisieren. Es geht darum, Bewegung zu bleiben – aber weder Staat, noch Gesellschaft zu werden.