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Was ist Krisenideologie?

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Über die Unmöglichkeit, öffentlich über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus zu debattieren Was ist Krisenideologie?

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Politik

Ein kurzer Blick auf die Mechanismen spätkapitalistischer Krisenverarbeitung.

Datum 10. April 2024
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„tried to save myself but myself keeps slipping away“ nine inch nails, into the void1

Ideologie ist Rechtfertigung. Sie ist das verzerrte, von den Gesellschaftsmitgliedern alltäglich neu reproduzierte Abbild einer irrationalen gesellschaftlichen Realität, die letztendlich nicht gerechtfertigt werden kann. Ideologie vermag es, die Gesellschaftsmitglieder mit den grössten Widersprüchen und Absurditäten zu versöhnen, die der Kapitalismus alltäglich produziert. Schreiende soziale Gegensätze, massenhafte Verarmungsschübe, die munter voranschreitende kapitalistische Klimakrise und die sich beschleunigende gesellschaftliche Zerrüttung können so mit einem systemimmanenten Sinn, mit einer Binnenlogik aufgeladen werden.

Im Rahmen der ideologieverzerrten, auf Markt, Konkurrenz und Leistung geeichten Optik mutieren diese Krisenverwerfungen zu Folgen persönlichen oder kollektiven Fehlverhaltens, das gegen die heiligen marktwirtschaftlichen Gebote verstiess. Ideologie stellt somit nicht einfach nur ein Fantasiegebilde oder eine Lügenansammlung dar; in den ideologischen Gebilden finden sich Elemente der gesellschaftlichen Realität wieder, doch sind diese deformiert und in einen apologetischen Gesamtkontext eingebaut, der die himmelschreienden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsformation zuverlässig externalisiert.

Ideologie wohnt somit den gesellschaftlichen Verhältnissen inne, sie ist keine „ablösbare Schicht“, hinter der sich etwas ganz anderes verbergen würde, die Widersprüche spätkapitalistischer Vergesellschaftung bringen Ideologie gewissermassen zwangsläufig hervor. Ideologiekritik ist somit zugleich Gesellschaftskritik, da hierdurch auf die „falsche Gesellschaft“ verwiesen wird, die das „falsche“, ideologisch verzerrte Bewusstsein hervorbringt.

Ideologie wird – wie es sich für den Kapitalismus nun mal gehört – in einem eigens hierfür zuständigen Wirtschaftszweig, der Kulturindustrie, massenhaft produziert, deren wichtigste Exponenten auch eine unerhörte politische Machtfülle akkumuliert haben. Dennoch greift die übliche Frage nach dem Cui bono, nach dem „wem nützt es“ der Ideologieproduktion zu kurz. Ideologie ist ein „notwendig falsches Bewusstsein“ (Marx), sie ist ein Gedankengefängnis, das einer Gesellschaftsformation eigen ist, in der die Menschen zu ohnmächtigen Objekten einer krisenhaften, marktvermittelten Kapitaldynamik degradiert wurden.

Obwohl alle Gesellschaftsmitglieder das Kapital mit ihrer eigenen Hände Arbeit alltäglich reproduzieren, sind sie zugleich – aufgrund der marktvermittelten Reproduktionsform des Kapitalverhältnisses – der Dynamik des Kapitals als einer Art gesellschaftlicher Naturgewalt schutzlos ausgesetzt. Die „Märkte“ herrschen vermittels ihrer unerbittlichen „Sachzwänge“ über die Menschen, obwohl die Märkte nichts anderes als Menschenwerk sind – die Summe der Aktionen der Marktsubjekte. Ideologie bemüht sich im Kapitalismus letztendlich darum, die Menschen mit diesem bizarren Zustand ihrer Gesellschaft zu versöhnen, in der eine fetischistische, sich „hinter dem Rücken“ (Marx) der Marktsubjekte konstituierende Kapitaldynamik ihnen als eine fremde, als eine naturwüchsige und destruktive Kraft entgegentritt – obwohl, wie erwähnt, die Marktteilnehmer sie alltäglich selber unbewusst in der Warenproduktion erarbeiten.

Ideologie im Kapitalismus ist somit kein Ausdruck personeller und direkter Herrschaftsverhältnisse, sondern einer vermittelten, systemischen Herrschaft, der Herrschaft eines Gesellschaftsverhältnisses, des Kapitalverhältnisses, das den einzelnen – selbst den mächtigsten – Gesellschaftsmitgliedern als eine feindliche, zerstörerische Macht entgegentreten kann. Diese Erfahrung der zunehmenden Heteronomie, der alltäglichen Fremdbestimmtheit, wird durch die spätkapitalistische Ideologie verarbeitet und inzwischen in einen mehr oder minder geschlossenen Kanon von pseudoreligiös anmutenden Geboten und Sollenssätzen gegossen: Leistung, Flexibilität, Härte gegen sich und andere, lebenslanges Lernen, Kreativität bei gleichzeitiger Konformität, Aufopferungswille, etc. pp.

Dabei muss man sich Ideologie erstmal leisten können, sie wird vornehmlich für diejenigen Gesellschaftsschichten produziert, die noch nicht abgestürzt sind. Adorno bemerkte schon in der Nachkriegszeit angesichts der Ideologieproduktion in den Wirtschaftswunderdemokratien: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinne bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.“ Dort, wo unmittelbare Machtverhältnisse herrschten, gebe es keine Ideologie, so Adorno. Krisenideologie ist somit eine Verfallsform von Ideologie, die oftmals in den faschistischen Extremismus der Mitte führt.

In Krisenzeiten gerät somit die Ideologieproduktion vermehrt unter Druck. Während die materiellen Gratifikationen wegfallen, gehen die vermittelten „gemilderten Machtverhältnisse“ in direkten und offensichtlichen Zwang über, wie ihn etwa die Gesellschaften Südeuropas während der Eurokrise erfahren haben. Auf diese Verhärtungen der Machtverhältnisse reagiert die Ideologie mit einer ideellen Verhärtung, mit einer extremistischen Zuspitzung ihrer zentralen Postulate. Es greift eine offene Bejahung des gegebenen Systems und seiner eskalierenden Widersprüche uns sich, die keinerlei ideologischen „Weichzeichners“ bedarf und sich auf folgende Formel bringen liesse: „Es ist, wie es ist.“

Die Variationen dieses Kultes des Gegebenen, der die gegenwärtigen Krisenverwerfungen zu einer anthropologischen Konstante des Menschen schlechthin erklärt, sind weit verbreitet: Das Leben ist hart, die Welt ungerecht, Kriege wird es immer geben. Es findet eine Bejahung der Barbarei, der Härte und der täglichen Massenmorde statt, die dieses in Agonie befindliche System in anschwellendem Ausmass produziert. Die ideologische Schminke blättert ab: Ja, das System sei hart und ungerecht – und wir müssen damit umgehen lernen, uns anpassen, härter, brutaler werden.

Die Grundvoraussetzung dieser ideologischen Verfallsform – bei der etwa Massaker westlicher Interventionstruppen in den Zusammenbruchgebieten der Dritten Welt damit legitimiert werden, dass Kriege nun mal mit Massakern einhergingen – bildet die Unmöglichkeit, öffentlich über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus zu debattieren. Mit dieser Barbarisierung betreibt Ideologie somit ihre Selbstauflösung. Es ist keine Rechtfertigung einer barbarischen Krisenrealität mehr notwendig, wenn die Akzeptanz und Bejahung dieser Barbarei insbesondere in den Mittelschichten immer weiter um sich greift.

Die reale gesellschaftliche Bewegung, die diesen ideologischen Verfallsprozessen zugrunde liegt, besteht aus einer ungeheuren krisenbedingten Konkurrenzverschärfung. Auch wenn oftmals immer noch die Existenz einer Systemkrise rundweg negiert wird, haben vor allem grosse Teile der Mittelklasse längst auf die Erosionsprozesse in ihrer Schicht reagiert: Die Mittelklasse reagiert mit einer Art Zeitlupen-Panik, mit einem „Rette sich, wer kann“, bei dem die Verschärfung des Konkurrenzverhaltens den eigenen sozialen Status sichern soll – auf Kosten der anderen, die aus der kriselnden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Die Verfallsformen der kapitalistischen Krisenideologie sind gerade darum bemüht, diese Krisenkonkurrenz zu legitimieren.

Diese brutale Krisenkonkurrenz, der Versuch, sich angesichts der eskalierenden Verwerfungen selbst zu retten, ist angesichts der systemischen Ursachen der gegenwärtigen Krise letztendlich zum Scheitern verurteilt. Die Grundlage des Kapitals, die Verwertung von Lohnarbeit, stösst in der gegenwärtigen Krise aufgrund ungeheurer Produktivitätssprünge an ihre innere Schranke. Und es sind dieselben Produktivitätsschübe der globalen Verwertungsmaschine, die auch die Klimakrise ursächlich befeuern. Somit verliert nicht nur die kapitalistische Ideologie, sondern auch die spezifische kapitalistische Identität, die des bürgerlichen Konkurrenzsubjekts, ihre gesellschaftliche Grundlage. Alle versuchen, sich selbst zu retten, während das Selbst in Auflösung begriffen ist.

Eigentlich stellt diese Krisenkonkurrenz nur die Zuspitzung der dem Kapitalismus innewohnenden Konkurrenzverhältnisse dar. Während jeder Bürger in seiner Eigenschaft als Marktsubjekt sich selbst zu retten versucht, befindet sich die Identität des Bürgers aufgrund zerfallender Märkte in einem Stadium des Zerfalls.

Was bleibt, ist die Leere der vom kollabierenden Kapitalverhältnis ausgebrannten Subjekthülsen, die mit dem Krieg aller gegen alle weitermachen werden, auch wenn der kapitalistische Bezugsrahmen, in dem dieser ausgefochten und intensiviert wurde, zerfallen sollte. Dies ist keine Prognose, sondern in Ländern wie Libyen, Syrien, Mexiko, Kongo oder Irak längst barbarische Realität. Gerade dieser „panische“ Reflex der meisten Menschen, angesichts der Krise nur sich selbst retten zu wollen, forciert somit die weitere Barbarisierung, in der letztendlich niemand Rettung finden wird.

Tomasz Konicz

Fussnoten:

1 https://www.youtube.com/watch?v=G4lTMOmH8Dw


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