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Was die Wissenschaft zum Ukrainekrieg noch sagen darf

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Setzen die USA auf globale Suprematie? Was die Wissenschaft zum Ukrainekrieg noch sagen darf

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Politik

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eckt mit Äusserungen zum Ukrainekrieg an.

Ukrainische Artillerie im Einsatz an der Front, Mai 2022.
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Ukrainische Artillerie im Einsatz an der Front, Mai 2022. Foto: Mil.gov.ua (CC-BY 4.0 cropped)

Datum 23. November 2022
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Die „Zeitenwende“ hat ja eine Gesinnungswende mit sich gebracht, die den Raum des Sagbaren weiter einschränkt. Blosse Meinungsäusserungen sollen aber noch erlaubt sein!

Guérot, Professorin an der Universität Bonn, hat zusammen mit dem Geisteswissenschaftler Hauke Ritz im November 2022 das Buch „Endspiel Europa“ veröffentlicht. Die beiden Autoren „fordern die Europäische Union dazu auf“, wie es jüngst in einem Statement bei Krass & Konkret hiess, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“. Dazu berufen sie sich – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schliessen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Friedensidealismus: eine No-Go-Area

Solche Forderungen, die auf Ausgleich, Versöhnung und Verhandlung setzen, können sich in eine europäische Tradition einreihen, die das Ideal vom „Ewigen Frieden“ (Kant) zur ideellen Leitschnur erhebt. So gesehen waren sie bislang auch nichts Ungewöhnliches oder Unseriöses. Doch das gilt heute nicht mehr. In Deutschland (und ähnlich in anderen NATO-Staaten) macht sich vielmehr eine neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses bemerkbar, die der vom deutschen Kanzler ausgerufenen „Zeitenwende“ folgt: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen friedlichen Problemlösung geht in Ordnung, solange sie die antirussische Leitlinie respektiert. Aber wenn die Grüne Antje Vollmer im Blick auf eine Verhandlungslösung festhält „Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens“, bewegt sich das schon am Rand des Zulässigen, und wenn eine Kritik an der NATO-Linie laut wird, führt das vollends in ein akademisches No-Go.

So sprach der Bonner Kollege Guérots, der Osteuropa-Experte Martin Aust, in einem Interview (General-Anzeiger, 12./13.11.2022) kurz nach Erscheinen des Endspiel-Essays kategorisch von der „Unwissenschaftlichkeit des Buches“ und forderte Guérot auf, von ihrer Professur zurückzutreten. Das Buch sei „eine regelwidrige Streitschrift ... vollkommen an wissenschaftlicher Kenntnis des östlichen Europa vorbeigeschrieben ... provokant, schrill und anmassend“. Das Autorenduo wolle die Ansicht „eines ausschliesslich von Russland begonnenen Kriegs gegen den Strich bürsten“ – wie es im Vorwort heisst –, aber „ohne sich dabei mit dem Forschungsstand auseinanderzusetzen. So bleibt der Versuch haltlos.“

Der Historiker Aust sieht hier besonders die Wissenschaftlergemeinde gefordert, „weil Guérot in dem Buch als Professorin figuriert, womit in der breiten Öffentlichkeit der Anschein wissenschaftlicher Autorität und Legitimität erweckt wird. Es ist deshalb wichtig, in der Öffentlichkeit auf die Unwissenschaftlichkeit des Buchs aufmerksam zu machen.“ Deshalb landet er am Schluss des Interviews auch bei der Forderung, „angesichts der unwissenschaftlichen Arbeitsweise des Buches wäre es nur folgerichtig, von der Professur zurückzutreten“. Aust hatte zuvor schon (siehe General-Anzeiger, 24.10.2022) „mit einer Kurznachricht im Netz auf die Fachexpertise“ verwiesen, die Guérot komplett „ignorieren“ und „niederreissen“ würde. Dazu teilte der Zeitungsbericht mit, dass Aust „nähere Angaben auf GA-Nachfrage für unnötig“ gehalten habe.

Sein Statement ist nämlich im Grunde ein Aufruf zur Massregelung, es ordnet sich unterstützend und bekräftigend in eine Kampagne ein, die seit einiger Zeit an der Bonner Universität läuft und die auf eine Kontrolle von Meinungsäusserungen der streitbaren Professorin oder gleich auf ihre Entfernung setzt. Die Bonner Universitätsleitung hat dazu mittlerweile eine Erklärung abgegeben (siehe General-Anzeiger, 7.11.2022), die sich gegen Guérot richtet, ohne sie beim Namen zu nennen, und die festhält, dass die Universität „den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf das Schärfste verurteilt“. Aus dem Rahmen fallende Äusserungen sind hier also schon ins Visier genommen. Das Studierendenparlament der Universität sowie die Juso-Hochschulgruppen fordern zudem, wie der Kollege Aust, weiter gehende Massnahmen. Fazit: Die Debatte über juristische Möglichkeiten, in die „Wissenschaftskommunikation“ einzugreifen, hat begonnen und die Öffentlichkeit ist alarmiert.

Man darf gespannt sein, wie sich das auf die Freiheit zur Meinungsäusserung in Bonn und bei anderen Hochschullehrern auswirken wird, die in gewisser Weise auch zur neuen deutschen Dissidenz gezählt werden können, so etwa Prof. Klaus Moegling (u.a. Mitglied bei Scientists for Future), der jetzt einen „Appell für den Frieden“ mit der Forderung nach einer „Verhandlungsinitiative zur Beendigung des eskalierenden Kriegs in der Ukraine“ verbreitet, oder Prof. Johannes Varwick, der vom ukrainischen „Zentrum für Desinformationsbekämpfung“ als russischer Propagandist geführt wird (und somit offiziell als „Informationsterrorist“ gilt), weil er sich ebenfalls für eine Verhandlungslösung einsetzt.

Wissenschaftlichkeit = NATO-Narrativ

Bemerkenswert auch, wie die Unwissenschaftlichkeit der Positionen festgestellt wird, die nicht dem NATO-Narrativ folgen. Die Bonner Universität führt es vor: Das Rektorat verabschiedet eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekennt; damit ist der wissenschaftliche Diskurs noch nicht unbedingt festgelegt, aber ein Rahmen gesetzt, in dem weitergehende juristische Möglichkeiten geprüft werden. Es ist also schlicht und ergreifend institutioneller Druck, der gegen die Infragestellung geltender Kriegslegitimationen, wie sie in „Endspiel Europa“ vorkommt, geltend gemacht wird. Darauf hat ja wohl auch der Hochschullehrer Aust in seiner erwähnten Kurznachricht gesetzt, als ihm die Zitierung von Autoritäten, mit denen er übereinstimmt, als Begründung ausreichte.

Er hat sich dann aber doch noch in dem späteren Interview bereit gefunden, am Schluss auf die Frage „Was werfen Sie dem Buch inhaltlich vor?“ mit drei Sätzen zu antworten. Er hält zunächst als Kernthese des Buchs fest: „Die USA hätten den Ukrainekrieg von langer Hand vorbereitet, um Europa von Russland zu entfremden und so die amerikanische Vorherrschaft auf dem Kontinent aufrechtzuerhalten. Statt das Nationalstaatsdenken zu überwinden, was doch wünschenswert wäre, unterstütze die EU jetzt im Gegenteil die Souveränität der Ukraine.“ Was der Geschichtsprofessor als Widerlegung dieser „unwissenschaftlichen“ Behauptung aufbietet, macht einen sprachlos: „Aber bitte, was wäre denn die Alternative: Das Land Putin und dem russischen Imperialismus zu überlassen?“

Es folgt überhaupt kein Einwand gegen die so heftig beanstandete These. Mit der Frage ans Publikum, die gleich das wissenschaftliche Feld verlässt und ins Politikfach wechselt, ist für Aust die Sache erledigt. Und selbst bei dieser Problemverschiebung geht er unsachlich vor, denn Alternativvorschläge – siehe Moegling, sieh Varwick, siehe aber auch Guérot und Ritz mit ihrem weit ausholenden kontinentalen Friedensideal – lagen und liegen ja vor. Und im Vorfeld gab es ja auch zahlreiche Vorschläge, den Konflikt zu entschärfen; selbst ein Henry Kissinger hatte davor gewarnt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und später sogar Gebietsabtretungen an Russland für möglich gehalten. Das ist das eine, wenn es um die Frage der Alternativen geht. Auf der anderen Seite müsste aber auch einem Aust klar sein, dass die ständige Eskalation – bis zum letzten Ukrainer, bis zum Atomkrieg... – keine Lösung ist.

Doch zurück zum Problem der (Un-)Wissenschaftlichkeit, das ja den Stein des Anstosses darstellte. Hier muss man eine weitere Ausflucht Austs festhalten: Bei ihm ist abschliessend vom russischen „Imperialismus“ die Rede, was ja wohl als wissenschaftliche Einlassung des Fachmanns gemeint ist und somit die Frage aufwirft, welche theoretischen Implikationen hier gegeben sind. Es soll ja nicht ums Beschimpfen gehen (so wie Varwick vom ukrainischen Botschafter Melnyk als „Arschloch“ bezeichnet wurde), sondern um wissenschaftliche Klärung, bei der Guérot und Ritz angeblich versagt haben. Dazu wird vom Fachmann auf den Imperialismus als Erscheinung der modernen Welt angespielt – mehr aber auch nicht. Dass damit, der Sache nach, auf ein Expansionsbestreben gezielt ist, das seine Grundlage – auf die eine oder andere Weise – in der kapitalistischen Produktionsweise der Staatsmacht hat, kann man sich dazudenken. Ausführungen schenkt sich der Experte Aust, das negativ besetzte Wort soll genügen.

Wenn aber die Staatenwelt durch imperialistische Konkurrenzverhältnisse bestimmt ist, müsste man sich den Mächten zuwenden, die wie die USA und ihre NATO- bzw. EU-Partner bestimmenden Einfluss auf Weltmarkt und Weltpolitik haben und die um die Reichweite imperialen Einflusses ringen. Das machen Guérot und Ritz übrigens ausgiebig, sie nehmen die „amerikanische Vorherrschaft“ ins Visier, stützen sich bei ihrer Analyse auf amerikanische Quellen und Experten (Brzeziński, Wolfowitz, Mearsheimer), belegen die Aufrüstungsmassnahmen oder die Einflussmassnahme auf Umsturzbewegungen, dokumentieren die Feindbildproduktion, die Rüstungsanstrengungen etc. Das, was Aust in Kurzform als Aussage des Buchs bringt, wird dort ausführlich thematisiert.

Aber unabhängig von solchen Nachweisen müsste man die westliche Vorherrschaft eigentlich als Trivialität bezeichnen. Dass solche imperialen Bestrebungen zu konstatieren sind, könnte man als Ergebnis der Zeitungslektüre festhalten. Dass „America first!“ weltweit gilt und alle Rivalen, unter Einschluss der EU, kleinzuhalten sind, war sogar einmal explizit ausgesprochenes Programm unter der Trump-Administration – ein Programm, das übrigens mit Bidens „Build Back Better“ nicht revidiert, sondern getoppt werden sollte. In der Forderung „Make America great again“ unterscheiden sich Republikaner und Demokraten nicht, sondern nur darin, wer es besser kann. Guérot und Ritz machen es sich übrigens nicht so einfach, die Trump-Ära gross zu betonen; diese hat bei ihnen eher den Stellenwert einer Randnotiz. Ihnen geht es darum, eine strukturelle transatlantische Rivalität – die sie eher in der kulturellen Sphäre verorten – herauszustellen.

Zu Austs Beschwerde wäre also festzuhalten, dass das Konstatieren der Sache selber, nämlich der US-Dominanz, keine wissenschaftliche Leistung ist. Sie ist der theoretischen Klärung vorausgesetzt als Sachverhalt, der nach imperialismustheoretischer Aufarbeitung verlangt; seine Bestreitung dagegen gehört ins Feld der Fake News. Und einen sachlichen Einwand hat Aust ja auch nicht zu bieten. Was dann die zweite Hälfte seines Resümees betrifft – die Rückkehr der EU zum Nationalismus –, kann er noch nicht einmal das Faktum bestreiten, sondern behilft sich mit der Ausflucht, es hätte keine Alternative gegeben, stimmt der Feststellung selber also zu.

Aust legt jedoch auf Nachfrage des Interviewers noch einmal nach, indem er zwar keine weiteren Inhalte kritisiert, aber die Äusserung des Autorenduos im Vorwort aufspiesst, dass es die Weltlage „ganz neu denken“ wolle. Das weist er entschieden zurück, z.B. mit der Feststellung, dass die „Ansicht, Amerika versuche gezielt Europa von Russland zu entfremden, eine hundertjährige Geschichte im rechtsextremistischen Denken“ habe. Das ist nun wirklich infam. Er gibt nicht den kleinsten Hinweis, wo das inkriminierte Buch solche Bezüge zum historischen Faschismus oder zum Neofaschismus aufweisen würde. Dass es solche staatlichen Rivalitäten und Bündniskalkulationen gibt, gehört zum Grundbestand einschlägiger Erkenntnisse, seit vor über hundert Jahren das Zeitalter des Imperialismus begann; das zur Kenntnis zu nehmen, hat mit Extremismus nichts zu tun. Und Neofaschisten, wie sie etwa in der neuen italienischen Regierung vertreten sind, stehen treu zu den USA und zur NATO.

Ausserdem ist die Ansage des Essays, neu zu denken, erkennbar auf die gegenwärtige Kriegslage bezogen. In der gibt es – Aust beruft sich ja gerade auf die Fachwelt als Autorität – einen breiten Konsens, der die Parteinahme für die NATO wissenschaftlich nachvollzieht. Auf den Dissens, der vom Autorenduo hierzu angemeldet wird und der somit in der Tat etwas ganz Neues bringt, bezieht sich die Schlussbemerkung im Vorwort.

Nicht träumen – bitte aufwachen!

Natürlich ist die Vorstellung einer eurasischen Vereinigung unter Einschluss Russlands nichts Neues, auch keine Erfindung extremistischer Kreise, die sich dem Einfluss der USA auf Europa widersetzen woll(t)en. Der Osteuropa-Experte Stefan Creuzberger hat etwa kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine die grosse Studie „Das deutsch-russische Jahrhundert“ vorgelegt (auf die sich Guérot/Ritz unter anderem beziehen) und auf solche alternative eurasische Möglichkeiten aufmerksam gemacht. So etwa im Fall des jetzt 100 Jahre alten Vertrags von Rapallo, mit dem die demokratischen Politiker der Weimarer Republik nach eigenen „Gestaltungsräumen“ gegen die Sieger des Ersten Weltkriegs suchten. Creuzbergers Studie geht in ähnlicher Weise wie das „Endspiel“ kontrafaktisch vor, indem sie – in historischer Perspektive – Potenziale im binationalen Verhältnis auslotet, mit denen Deutschland eigentlich seine eigene „koordinierende Rolle“ auf dem Kontinent hätte unter Beweis stellen können (und sollen).

Bei Guérot/Ritz heisst es resümierend in der Einleitung, die den – bereits im Titel des Buchs angesprochenen – politischen Traum vorstellig macht: „Der kontinentale, föderale Traum stellt eine lange, durchaus realistische Konstante deutscher oder auch französischer Nachkriegspolitik dar“. Damit liegt der Widerspruch, von dem das Buch lebt und den es nicht auflöst, auf dem Tisch: Realistisch betrachtet – das liefert die starken analytischen Passagen – ist das Gegenteil von dem der Fall, worauf es den Autoren ankommt. Das Buch ist also im Irrealis geschrieben. Dabei wird immer wieder deutlich, etwa beim Versagen des „deutsch-französischen Tandems“, bei der problembeladenen Einführung des Euro oder beim Streit über die europäische Verfassung, dass dem Aufbruchsprozess der EU von Anfang an die Widersprüchlichkeit einbeschrieben war, der Traum also gar nicht das wirkliche Programm darstellte. Die Autoren erwähnen ja konsequent und ehrlich solche retardierenden, „hausgemachten“ Momente; insofern kann man ihnen nicht den Vorwurf der Einseitigkeit, der Auslassung wichtiger Informationen oder der Weltfremdheit machen.

Die Hauptprovokation des Buchs – die These, dass Putin den Krieg nicht aus heiterem Himmel begonnen hat, sondern durch einen von langer Hand geplanten NATO-Aufmarsch provoziert wurde, dass es also eine Vorgeschichte der Militarisierung gab – ist gut belegt und wird auch differenziert, ohne Schwarzweissmalerei, die einer Seite allein die Schuld gibt, vorgetragen. Die offenkundige Schwäche des Buchs dagegen, dass es seinen Ausgangspunkt explizit bei einem „Traum“ von Europa nimmt, also gar nicht von der Sachlage, sondern von einer Wunschvorstellung herkommt (für die sich allerdings illustre Namen wie Monnet, Delors, Kohl, Gorbatschow anführen lassen), muss man festhalten: Der Essay ist noch nicht einmal in der Lage, sich von der eigenen Täuschung – nachdem der Traum (wie es im 2. Teil heisst) „geplatzt“ ist – Rechenschaft abzulegen und die Rolle, die der Idealismus in der Welt des Staatsmaterialismus spielt, zu analysieren. Diese Schwäche kann aber kein Grund für den Wissenschaftsbetrieb sein, eine solche Wortmeldung als unseriös auszugrenzen und die Autoren zu exkommunizieren.

Das Buch des Hochschullehrers Creuzberger geht, wie gesagt, ähnlich vor (siehe: Der Ukrainekrieg und seine Vorgeschichte). Auf seine Art bringt es auch eine kontinentale Vision zum Ausdruck, die bewusst als Dementi des Urteils gemeint ist, das 20. sei ein amerikanisch geprägtes Jahrhundert gewesen. Ein solcher Idealismus, der „eigentliche“ Wirkkräfte oder verschüttete, noch nicht realisierte Potenziale zur Sprache bringt und damit eine wissenschaftliche Arbeit strukturiert, erregt im akademischen Betrieb oder in der interessierten Öffentlichkeit sonst keinen Anstoss.

Der heftige Widerspruch, auf den Guérot und Ritz stossen, resultiert also nicht aus dem essayistisch vorgetragenen Spannungsverhältnis von hoch gesteckten Zielvorstellungen und der dahinter zurückbleibenden Wirklichkeit des politischen Geschehens. Hier macht sich vielmehr die neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ bemerkbar: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen Problemlösung geht in Ordnung, aber bei Kritik an der NATO-Linie hört die Freiheit der Wissenschaft auf.

Johannes Schillo