Zu Beginn der Krise im letzten Herbst schien alles klar zu sein: Friedliche «proeuropäische» Demonstranten kämpften gegen den korrupten «russlandtreuen» Präsidenten Viktor Janukowitsch. Viele westliche Journalisten logierten im Hotel «Ukraina», wo sich ein «Pressezentrum der Opposition» etablierte. Kaum ein Journalist entfernte sich vom «revolutionären» Maidan, um sich ein Bild von der Lage im Land zu machen.
Alte Feindbilder
Der Konflikt in der Ukraine fand medial im traditionellen Ost-West-Schema statt: «Hier der gute Westen, dort der finstere Herrscher und das dunkle Russland. Fortschritt gegen Korruption», meint der Osteuropa-Historiker Simon Weiss (Universität Heidelberg).Die Berichterstattung fiel entsprechend einseitig aus. In den Nachrichtensendungen der ARD waren in der Zeit von November bis Februar fast 80 Prozent der Interviewpartner Regierungsgegner (Medienmagazin «Zapp» NDR). Ein beliebter Gesprächspartner war der deutsch sprechende Boxer Vitali Klitschko, der zu einer Art Galionsfigur stilisiert wurde, obwohl er nur einer von mehreren Oppositionsführern ist.
Personalisierte Krise
Erst nach dem Sturz von Janukowitsch gab es kritischere Töne. Jetzt tauchte der Name «Swoboda» in den Medien auf, weil die nationalistische Partei mit diesem Namen prominent in der Übergangsregierung vertreten ist. Und spätestens seit Putin die Halbinsel Krim annektiert hat, erhält der Ukraine-Konflikt eine neue Dimension: Jetzt stossen die «Russland-Versteher» und «Russland-Kritiker» aufeinander. Und die Krise wird personalisiert: Der deutsche «Spiegel» titelt: «Der Brandstifter – Wer stoppt Putin?» (Spiegel, 10. März 2014). Vor wenigen Monaten war der gleiche «Brandstifter» noch ein Feuerwehrmann, als Putin nämlich Verhandlungen über die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen ermöglichte und so den USA eine militärische Intervention in Syrien ersparte.Stegreif-Journalismus statt Recherchen
Zur Berichterstattung über die Ukraine-Krise wurden die Journalisten eingeflogen. Viele von ihnen waren zum ersten Mal in der Ukraine und mussten aus dem Stegreif über dieses komplexe Land informieren.Der «Parachute-Journalismus» ist eine Folge der drastischen Einschränkung der Auslandberichterstattung. Zu beobachten war das in Moskau, wo in den 90er-Jahren die Anzahl der westlichen Korrespondenten mit jedem Jahr schrumpfte. Anstatt die Berichterstattung über die 15 neuen unabhängigen Staaten der Ex-Sowjetunion auszubauen, begannen viele westliche Medien, ihre Korrespondentenbüros zu schliessen.
Amerikanische Fernsehstationen reduzierten ihre gesamte Auslandberichterstattung mit der Begründung: Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen. Die Welt ist weniger gefährlich und deshalb weniger «newsy» geworden. Der bekannte US-Politologe Samuel Huntington unterstützte diese Rückzugsbewegung: Nach dem Verschwinden der Sowjetunion brauche die alleinige Supermacht USA zwar eine «neue Mission». Doch Aussenpolitik könne die Öffentlichkeit jetzt mit ruhigem Gewissen den Profis in der Regierung und einer gut informierten Elite überlassen.
Unter dem Spardruck der Verleger begannen auch europäische Medien viele Aussenposten zu schliessen. In Moskau verzichteten Zeitungen wie die deutsche «Die Zeit», das «Handelsblatt» oder der Zürcher «Tages Anzeiger» auf eigene, ständige Korrespondenten, obwohl diese Blätter von weiterhin profitablen Verlagen herausgegeben werden. Auf den Redaktionen selber machte sich angesichts der Stagnation unter Putin auch eine gewisse «Russland-Müdigkeit» breit.
Konfliktparteien im Informationskrieg
Der Abbau der Auslandberichterstattung ist ein schleichender, für die Leserschaft nicht sofort erkennbarer Prozess. Seine Auswirkungen werden aber in Krisensituationen wie der jetzigen spürbar. Je weniger Reporter vor Ort recherchieren, desto leichteres Spiel haben die Konfliktparteien, die sich im Kampf um die Deutungshoheit einen harten Informationskrieg liefern (siehe Artikel auf Infosperber «Es tobt ein Informationskrieg».Ein Beispiel: Die ukrainische Übergangsregierung macht Ex-Präsident Janukowitsch und den russischen Geheimdienst für das Massaker vom 20. Februar verantwortlich, dem über hundert Menschen zum Opfer gefallen sind. Das russische Staatsfernsehen berichtete sofort nach dem Blutbad, dass auch Scharfschützen aus dem Hotel «Ukraina» geschossen hätten, das an jenem Tag fest in der Hand der Opposition war. Die Informationen aus russischer Quelle galten als unglaubwürdig. Erst Wochen später weckten Recherchen des ARD-Magazins «Monitor» Zweifel an der offiziellen Version der neuen Regierung und stützten die These, dass auch die Opposition am Blutbad beteiligt gewesen sein könnte. Die «Monitor» Recherchen wurden aber in den grossen europäischen und amerikanischen Medien kaum zur Kenntnis genommen (Infosperber berichtete: «Maidan-Tote: Zweifel an der offiziellen Version»).
Oder: Seit dem Beginn der «antiterroristischen Operation» gegen die Separatisten sind die Scheinwerfer der westlichen Medien auf die Ostukraine gerichtet. Den prorussischen Kräften wird vorgeworfen, sie hielten sich nicht an das Genfer-Abkommen, das die Freigabe der besetzten Gebäude und das Niederlegen der Waffen verlangt. Aus dem Blickfeld verschwunden sind «Swoboda» oder der «Rechte Sektor», die ebenfalls bewaffnet sind und Gebäude sowie Strassen in Kiew besetzt halten.
Auch Osteuropa-Forschung reduziert
Weil sie weniger Auslandskorrespondenten beschäftigen, sind die ausgedünnten Redaktionen immer mehr auf Experten angewiesen. Osteuropa-Historiker sind zur Zeit gesuchte Interviewpartner. Aber auch sie haben die «Zeitenwende» zu spüren bekommen. Zahlreiche Lehrstühle wurden als überflüssig bezeichnet, nicht mehr besetzt und ganze Institute sind geschlossen worden.Die Begründung lautete ähnlich wie beim Abbau der Auslandberichterstattung nach dem Ende des Kalten Krieges: «Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ost- und Ostmitteleuropa und die überraschend leichte deutsche Einigung hatten zu der weit verbreiteten Annahme verleitet, dass sich Politik und Wirtschaft des gesamten postkommunistischen Raums von der Oder bis zur Beringstrasse der euro-atlantischen Norm angleichen würden.» (Manfred Sapper. Die Krise der deutschen Russlandexpertise. Osteuropa 6–8 2012).
Wenn es in den 90er-Jahren noch eine Beschäftigung mit dem Raum des ehemaligen «Ostblocks» gab, dann unter der Prämisse «Transition to Democracy». Doch diese Grundannahme hat sich als falsch erwiesen. Die Wirklichkeit in Russland und im postsowjetischen Raum hat sich nicht an diese Erwartungen gehalten.
Gosse Wissenslücken
Transformationsprozesse erfolgen eben nicht geradlinig und über Nacht. Es kann auch autoritäre Rückwärtsentwicklungen geben, wie das unter Putin zu beobachten ist. Verständnis dafür haben, heisst aber nicht Korruption oder Wahlbetrug zu billigen, wie den «Russland-Verstehern» vorgeworfen wird, sondern eben die Entwicklung kritisch zu beobachten.Aber dazu fehlt immer mehr das Wissen, wie Hans-Henning Schröder vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin klagt. Weder Universitäten noch Institute seien fähig, aktuelle Entwicklungen in der Innen- und Aussenpolitik, der Wirtschaft und Gesellschaft Russlands einzuordnen, zu erklären und Handlungsoptionen zu entwickeln, meint der bald pensionierte Osteuropa-Experte. (Russland-Analysen. Nr. 250. 2013).
In den Medien wird das «Phantom Putin» dämonisiert. Wichtiger wäre es, mehr Fakten zu kennen. Zum Beispiel, wie der ehemalige KGB-Offizier, protegiert von Russlands Demokraten der ersten Stunde, Anatoly Sobtschak und Boris Jelzin, seine politische Karriere beginnen und Präsident werden konnte. Oder, wie sich die russische Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat und warum der Kreml-Chef in der Bevölkerung so populär ist. Dazu fehlen auf Feldforschung beruhende Studien.
Bedeutung der Ukraine unterschätzt
Noch grösser sind die Wissenslücken über die Ukraine. Der deutsche Ukraine-Experte Andreas Umland konstatierte vor zwei Jahren: «Die Ukraine ist das grösste Land Europas. Doch in den Medien und in der politischen Debatte ist die Ukraine ein Randthema.» (Andreas Umland. Weisser Fleck. Die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit. Osteuropa 6–8. 2012 ). Der damals in Kiew lehrende Umland warnte: Kiew habe im postkommunistischen Osteuropa eine geopolitische Schlüsselfunktion inne, die geringe Aufmerksamkeit für die Ukraine könnte Folgen für die (deutsche) Aussenpolitik haben. Denn: «Ob die politische Nationsbildung der Ukrainer erfolgreich sein oder scheitern wird, beeinflusst die nach dem Ost-West-Konflikt entstandene Sicherheitsstruktur in Europa.»Warum tauchten solche Warnungen nicht rechtzeitig auf den Radarschirmen in Brüssel, Berlin oder Washington auf? Viele Fehleinschätzungen, die zur aktuellen Krise führten, hätten vermieden werden können.