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Ukraine: Notizen am Rande

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Feindbildpflege - Authentizität-Falle und andere Fallen Ukraine: Notizen am Rande

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Politik

Wer seit der Beginn der Ukraine-Krise die deutschen Medien verfolgt, dürfte es kennen: wenn die „Putin-Versteher“ mal wieder über „das Sicherheitsbedürfnis Russlands“ referieren, wird diesen ganz authentisch contra gegeben.

Julija Timoschenko am EPP Kongress in Bonn.
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Julija Timoschenko am EPP Kongress in Bonn. Foto: European People's Party (CC BY 2.0 cropped)

Datum 3. Juli 2014
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KorrekturKorrektur
In Talkshows, Reportagen und der Zeitung tauchen dann meist junge Ukrainer (häufig Ukrainerinnen) auf und empören sich im pathetischen Ton darüber, dass der Westen die ukrainische Demokratie im Stich lässt. Sie reden über ihre Ängste vor Putin, versichern, dass die Extremisten vom „Rechten Sektor“ nichts bewirken können oder dass die „Swoboda“-Partei inzwischen demokratisch geläutert sei. Ihre Argumentation lässt sich so zusammenfassen: In der Ukraine ist eine Revolution für Demokratie und Menschenrechte im Gange, wenn der Westen jetzt nicht handelt, wird die junge Generation in der Ukraine von seinen Idealen enttäuscht. Alle Verweise auf die Interessen Russlands seien ein Anschlag auf die ukrainische Souveränität.

Die Ukraine als unabhängiges Land hätte ihre Wahl getroffen und wer es nicht akzeptiere, der unterschreibe russische Ansprüche auf die Wiedergründung des Zarenreichs respektive der Sowjetunion mit. Wer verhandeln möchte, der sein nur naiv und unterschätze die Gefahr des russischen Einmarsches. Wer von Faschisten auf Majdan redet, falle auf russische Propaganda rein. Die Ukraine braucht die Hilfe des Westens, Ukraine gehört historisch zum Westen, Ukraine will in die EU und die Erwartungen der mutigen Revolutionäre dürfen nicht abgewiesen werden. Sofortige und unbedingte Parteinahme tut Not.

Diese Auftritte sind inzwischen fester Teil der Vorkriegs-Propaganda geworden. Einige Fragen wirft es schon auf: Warum hat sich „die Ukraine“ für „den Westen“ entscheiden, wenn in einem Teil des Landes die neue Regierung auf so viele Proteste stösst? Wie kann in einer faktischer Bürgerkriegsituation gesagt werden, was „das Volk“ entscheiden hat – schliesslich wird die Entscheidung zwischen verschiedenen Fraktionen der Bevölkerung gerade bewaffnet ausgetragen? Was bedeutet das ganze Gerede von der Unabhängigkeit, wenn die Ukraine ökonomisch offensichtlich auf ausländische Mächte angewiesen ist und der Stoff des Konfliktes darin besteht, von welcher Weltmacht das Land in der Zukunft abhängen wird? Warum sollen die Ängste der Menschen in der Ostukraine vor IWF und NATO weniger gelten, als die Ängste vor Putin in anderen Teilen des Landes? Der Umstand, dass Demokratie, wie sie die neue Regierung versteht nur bei gewaltsamer Unterdrückung der Anhänger der gestürzten durchsetzbar sei, wird verdeckt durch das Modell „Ukraine vs. Russischer Einmarsch“. Die Härten, welche die Hilfe des IWF mit sich bringt, sind gar nicht erst Thema – Freiheit hat nun mal ihren Preis.

In Deutschland ist vor allem die Partei der Grünen auf die herzzerreissende Propaganda im Namen der Solidarität mit den idealistischen Revolutionären von Maidan spezialisiert. Böser Macho Putin muss gestoppt werden, sonst reitet er bald überall mit nacktem Oberkörper hin und zwingt ganz Europa bei „Gazprom“ teure Preise zu bezahlen. Für die Exzesse von der Maidan-Seite haben in Betroffenheit geübte Gutmenschen viel Verständnis aufzubringen. Nazi-Symbolik in der Westukraine? Nur verständliche Reaktion auf Stalin! Holocaust-Relativierungen? Die Ukrainer hatten mit „Holodomor“ auch ein Genozid erlebt. Nur besonders Aufmerksame könnten über dieses oder jenes im Geschichtsbild der neuen Freunde des Westens stolpern. Erinnerungen an die Hungersnot in der 30er Jahren werden am stärksten in den Teilen der Ukraine gepflegt, die damals gar nicht Teil der Sowjetunion war, sondern zu Polen gehörte. Die „Vereinigung“ der Ukraine, was die nationale Bewegung immer vergeblich anstrebte, wurde erst durch Aufteilung Polens zwischen der Sowjetunion und Deutschland möglich – es war ja gerade Stalin, der das territoriale Programm der ukrainischen Nationalisten erfüllte. In der Sowjetunion wurde die ukrainische nationale Identität zeitweilig stark gepflegt – das Narrativ von ständiger Russifizierung blendet lange historische Abschnitte aus.

Wer sich näher mit aktuellen Identitätsdebatten in den verschiedenen Teilen der Ukraine beschäftigt, wird feststellen, dass die Anhänger der „demokratischen Revolution“ nicht selten die Bevölkerung der ostukrainischen Bergbaugebiete als stumpf, ungebildet und autoritätshörig abwerten. Die Wähler Janukowitschs aus den Arbeitersiedlungen von Donbass werden von den Maidan-Demokraten als „watniki“ (nach Watnik -- Jacke mit Wattefütterung, Arbeitskleidung) und „Bydlo“ (Abschaum) bezeichnet. Im Prinzip wird der russophone Osten des Landes für ein einziges Produkt der Unterdrückung von allem Ukrainischen erachtet, ein Teil der Bevölkerung wird zu einer Gefahr für Unabhängigkeit und Demokratie erklärt. Währenddessen wird von der russischen Seite vor allem mit dem Appell an das Feindbild Westen mobilisiert.

Schaut man sich die Nachrichten im russischen Fernsehen an, so wird das Bild vermittelt, die Ukraine sei schon jetzt ein faschistischer Staat und der Westen stellt sich ohne wenn und aber dahinter. Unterbrochen wird diese Ukraine-Berichterstattung von den Berichten aus dem Sündenbabel Europa, wo der Christopher-Street-Day scheinbar an 365 Tagen im Jahr begangen wird, islamistische Einwanderer und sexuelle Minderheiten allmächtig seien und niemand auf die Warnrufe weitsichtiger Politiker wie Le Pen höre. Am 9. Mai, dem „Siegestag“ kommt auf Kanal „Rossija24“ eine Autorensendung von Fernsehmoderator Konstantin Semin, in der man erfährt, das schon hinterm Hitler amerikanische Banken standen – der direkt antisemitische Code von allmächtiger Wall Street wird gerade noch umschifft [1]. Der deklarierte „Antifaschismus“ findet seinen Niederschlag in Reden über die „verweichlichte moderne Gesellschaft“, die durch Erinnerung an die Zeit des Krieges wieder für Opfer und Anstrengung für die nationale Sache mobilisiert werden soll.

„Gute Russen“ und ihr böses Land

Natürlich erfährt man auch im Westen, dass längst nicht alle Putins Kurs unterstützen. Es wird auch über Demonstrationen der Regimegegner berichtet. Dort geben vor allem Liberale den Ton an, die sich weigern im Westen den Feind zu sehen. Ganz im Gegenteil – sie sehen Russlands Platz in der Welt vor allem auf die Seite des Westens, als Teil des westlichen Blocks. Putins Aussenpolitik erklärt man sich in diesen Kreisen nur aus seinen angeblich antiquierten Ansichten, seinem Machtstreben und der Notwendigkeit von den inneren Problemen abzulenken. Dazu kommt, dass man gegenüber früheren Republiken der Sowjetunion und Ländern des Ostblocks noch eine Art postkolonialen Schuldkomplex pflegt (was allerdings eher abnimmt). Putins Propaganda zeichnet sie oft als ferngesteuerte Vaterlandsverräter, der Westen tituliert diese Kreise gern als „Zivilgesellschaft“ (Zivilgesellschaft sind nach dieser Definition Leute in anderen Ländern, die gegen Regierungen, die „uns“ nicht passen antreten).

Dieses Phänomen bedarf grundsätzlicher Erläuterung. Als die russische Führung unter Jelzin beschloss die Wirtschaft auf Kapitalismus umzustellen, Sowjetunion zu begraben und von nun an einen Staat nach westlichem Vorbild aufzubauen, wurde das von den ehemaligen Feinden aus dem Kalten Krieg begrüsst. Russland stand also nicht mehr in Systemkonkurrenz zu den westlichen Mächten, sondern wollte mit ihnen ökonomisch konkurrieren. Da stellte sich heraus, dass der Westen zwar diese Entscheidung Russlands begrüsst, aber überhaupt nicht interessiert ist an starker wirtschaftlicher und politischen Konkurrenz. Russland durfte zwar bei der G8 mitmachen, aber Rücksicht auf die aussenpolitischen Interessen wurde nicht genommen. Jetzt war ein Beitritt zu EU und NATO die Entscheidung unabhängige Länder. Versuche, seitens Moskau darauf Einfluss im eigenen Sinne zu nehmen wurden als Rückfall in „imperiales Denken“ gewertet.

Interessen des Westens werden von Westen gleich als Rechte deklariert: wir haben das Recht, Bündnisse zu schliessen mit wem wir wollen und schützen dieses Recht der jungen Demokratien im Osten. Wenn Russland, das als frischgebackene kapitalistische Macht im harten Wettbewerb bestehen muss, dasselbe für sich in Anspruch nehmen möchte, kriegt es zu hören, dass die NATO-Raketen in Nachbarländern überhaupt nicht Feindliches an sich haben und im Übrigen in der modernen Welt Einflusszonen-Ansprüche keinen Platz haben. Dass hört Russland ausgerechnet von der EU, welche eine riesiges Einflusszone der Führungsmächte ist. Putins Politik ist keine persönliche Marotte, es ist Reflexion darauf, dass Russland nach und nach entmachtet wurde und sich nun in der Konkurrenz behaupten muss.

Die liberale Opposition beschwört immer, dass Russlands wahrer Platz an der Seite der echten Demokratien im Kampf gegen die verbliebenen Schurkenstaaten wie Iran sei, aber ob der Westen es auch so sieht, haben sie nicht in der Hand. Nicht gerade mehrheitsfähig im eigenen Land, werden sie von den westlichen Medien als „gutes Gewissen Russlands“ präsentiert. Manche Linke demonstrieren mit ihnen zusammen, wenn es um Menschenrechte (vor allem bei Antirepressionsthemen) geht. Beim Thema Ukraine steht bei solchen Bündnissen ganz klar die Hoffnung im Vordergrund, wenn Janukowitsch entmachtet wurde, dann lässt sich eines Tages Putins ewiges regieren beenden.

Kampf der Korruption – für eine faire kapitalistische Konkurrenz

Welche Differenzen auch immer die Akteure der Krise trennen mögen – eine Sache wollen sie alle bekämpfen: die Korruption. Korruption verurteilen alle; Putin sagte bereits am 4. März, dass in der Ukraine ein Grad an Korruption herrscht „von dem wir in Russland nur träumen“ [2]. Korruption war der häufigste Vorwurf der Majdan-Proteste gegen den gestürzten Präsidenten Janukowitsch. Die Korruption soll der Grund sein, warum seine Widersacherin Timoschenko im Gefängnis landete. Seit 2004 wirft Timoschenko den Oligarchen ständig Korruption vor. Korruption, private Bereicherungen im Amt – alle sind dagegen, bloss weniger wird es nicht.

Auch Linke sind schnell mitempört, wenn sie von Korruption lesen oder hören. Dabei stellt niemand die Frage, um welche Verletzung welchen Ideals es eigentlich geht. „Korruption“ bedeutet Abweichung von den gesetzlichen Normen, nach denen der Staatsapparat nicht zur Befriedigung persönlicher Interessen dienen soll: Polizei und Steuerbehörden, Ministerien und Parlamente sollen nicht dafür da sein, sich zu bereichern. Was sie in der Gesellschaft gewährleisten sollen, ist das Funktionieren der rechtsmässigen Bereicherung: dass die Konkurrenz für alle nach den gleichen Regeln läuft, dass der Staat die Bedingungen für das Geldverdienen bereit stellt, aber nicht für einen der konkurrierenden Geschäftsleute Partei ergreift. Kurz gesagt: der Staat soll Schiedsrichter, nicht Spieler auf dem ewiggrünen Fussballfeld der freien Marktwirtschaft sein; neutraler Staat, faire Konkurrenz.

Die Definition und Verfolgung von Tatbeständen der "Korruption" gehört zu dem Grundsatz, den die Regierungen in kapitalistischen Staaten sich verschreiben: der alleinigen Herrschaft des Rechts. Das Recht, das herrscht, dient diesem Grundsatz zufolge der richtig gebrauchten Freiheit und dem wohlverstandenen Eigeninteresse der Bürger. Deswegen und insofern sind sie eigentlich niemandem Untertan als eben der gewaltsamen gesetzlichen Anleitung zu ihrem eigenen Wohl. Offenbar sind die Freiheiten und Interessen, die das Rechtssystem des Staates so „hilfreich“ normiert, so, dass sie ohne gleichmässige Unterwerfung unter die Regeln einer hoheitlichen Gewalt gar nicht koexistieren, geschweige denn kooperieren könnten, sondern einander ausschliessen und zugrunde richten würden.

Nun funktioniert das alles in der Ukraine seit der Unabhängigkeit und Einführung des Marktes nicht so richtig. Weil die einzelnen Kapitalisten sehr schnell feststellten, dass der schnellste Weg zum Reichtum über den Staat führt, weil, anderes als im Westen, an dem man sich ein Beispiel nehmen soll, gar keine funktionierende kapitalistische Ökonomie bereitsteht. Die Betriebe der Sowjetzeit waren nicht für die Konkurrenz auf dem freien Markt tauglich. Die Eigentumsverhältnisse waren nicht geklärt. Die allseits verteufelten „Oligarchen von Donezk“ haben, als der Unternehmergeist in ihnen wach wurde, sich erstmals etwas Startkapital mit nicht ganz gesetzeskonformen Mitteln gesammelt (sowjetische Gesetze sahen Anhäufung von Startkapital für Unternehmer nicht vor), und sich dann im Kampf um die Privatisierung von Immobilien, Kohlengruben und Betriebe aus der Sowjetzeit durchgesetzt. Wenn man die Medien des Maidan-Lagers verfolgt, kann man einiges über die blutigen Anfängerjahren von Janukowitschs Mitstreitern erfahren.

Die Erkenntnis, dass erst die staatlichen Subventionen die marode Kohlengruben-Region lukrativ macht, liess nicht auf sich warten. Damit war auch der Gang in die Politik unvermeidlich. Die Ergebnisse von Marsch durch die Institutionen, den die tüchtigen Geschäftsleute von Donezk noch in den 90er angetreten sind (und unter Janukowitsch triumphal durch den Zugriff auf so gut wie alle Schaltstellen der staatlichen Macht beendeten), können sich sehen lassen.

Ihre Konkurrenten greifen zu radikalen Mitteln, um sie aus dem Geschäftsleben zu entfernen. Im Grunde wissen aber auch die besorgten westlichen Journalisten, dass man in der Ukraine keinen Trennungsstrich zwischen Korruption und normalem Geschäftsleben ziehen kann. Korruption soll eine Abweichung darstellen. Aber wenn es die Norm geworden ist, fragt sich, was der Appell an härteres Durchgreifen meint: wer soll eigentlich gegen wen durchgreifen? Und womit: woher soll der nichtkorrumpierte Gewaltapparat auf einmal kommen?

Aber Hilfe naht: wenn Milliardär Petro Poroschenko Präsident wird, wird es wohl weniger Bestechungen geben. Wen soll er als Präsident eigentlich noch bestechen? Die Übergangsregierung? Diese neuen Amtsinhaber haben sich Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben, aber auch ihren Crashkurs in „Pragmatismus“ hinter sich: um den Osten zu befrieden, werden die Oligarchen Sergei Taruta und Ihor Kolomojskyj zu Gouverneuren von jeweils Donezk und Dnipropetrowsk (östliche Regionalzentren) ernannt. Taruta hat den Ruf, aus dem Osten kommend, aber schon immer „pro-orange“ gewesen zu sein. Kolomojskyj, einst Verbündeter von Timoschenko, gilt als Spezialist für „Raidertum“: faktisch gewaltsam erzwungene Unternehmensübernahmen. Ein besonders skurriler Verbündeter der Übergangsregierung ist bzw. war Gennadi Kernes, der Bürgermeister von Charkow, der am 28. April bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt wurde.

Einst Unterstützer der „orangenen“ Proteste von 2004/2005, wechselte er zu Janukowitschs Lager und verfolgte jegliche Opposition in seiner Region. Doch ab Ende Februar wandte er sich scharf gegen alle Abspaltungspläne und betonte das Charkow zu Ukraine gehört. Als er den aufgebrachten „Föderalisten“ auf einer Demonstration sagte, dass in der Stadt nur ukrainische Gesetze gelten, wurde er von der Menschenmenge als „Verräter“ ausgepfiffen und verjagt. Für viele Anti-Majdan-Linken ist das der Beweis für den antioligarchischen Charakter der Rebellion im Osten.

Alexander Amethystow