Graffiti in Homs, Syrien
Ich schreibe auf Grundlage einer einzigen Prämisse: dass nämlich die Opfer einer möglichen militärischen Eskalation in der Ukraine überwiegend ethnische Minderheiten sein werden: die muslimischen Krimtataren, marginalisierte Gruppen wie die Sinti und Roma, sowie die Arbeiterklasse; während die Bürokraten in Brüssel und der Zar und sein Clan in Moskau ihre jeweiligen Interessen weiterverfolgen werden. Um die Wahrscheinlichkeit dieser Vorhersage zu unterstreichen, werde ich einen Vergleich zwischen den Ereignissen in Tschetschenien und denen auf der Krim anstellen.
Vorwort – Mission Impossible
Ich werde versuchen, eine differenzierte Beurteilung von Ereignissen auf der Basis historischer und aktueller Tatsachen vorzunehmen – und keine ausgewogene Darstellung kann den Umfang der russischen Selbsttäuschung verleugnen. Man muss sich nicht besonders rückversichern, um zu sagen: Russland ist ein Polizeistaat,¹ mit keinen oder sehr wenigen bürgerlichen Freiheiten, weit entfernt von einer Demokratie, und noch weiter entfernt davon, eine antifaschistische Entität zu sein. Das grösste Risiko besteht für die Marginalisierten – unsere natürlichen Verbündeten – und genau an ihrer Seite sind unsere Anstrengungen erforderlich. Ich werde versuchen zu zeigen, dass wir, wenn wir uns wegen ideologischer (Gleich)gültigkeiten nicht bei sozialen Protesten engagieren (oder uns dem Engagement verweigern) nicht nur unsere moralische Position verlieren, sondern auch die unzufriedenen Massen an die reaktionären Kräfte.Bereits mit dem Aufkommen des Maidan-Aufstands war es offensichtlich, dass uns eine antifaschistische Konfrontation in der Ukraine und in Russland bevorsteht.² Russlands Aggression in der Ukraine hat die Angelegenheit kompliziert; ohne sie könnten wir unsere Anstrengungen auf die Beseitigung der Oligarchie und der neoliberalen Politik wie auch aller braunen Elemente in der Ukraine konzentrieren. Egal: Jetzt ist ein entscheidender Moment, um unsere Stimme gegen den Faschismus, Neoliberalismus und Imperialismus zu erheben.
Ich bin nicht daran interessiert, die vorformulierten Botschaften, die wir schon zu gut kennen, zu wiederholen; dieser Artikel wurde mit dem Verständnis geschrieben, dass Sie als Leser*in – genau wie ich – es verdient haben, als ein reifer, unabhängiger Geist behandelt zu werden, der fähig ist, kritisch zu hinterfragen… und nicht als Propaganda-schluckender Zombie.
Eine Sache ist klar: Es gibt keinen Weihnachtsmann, und es gibt keine Engel in der Politik… nur eigennützige Arschlöcher. Irgendwann jedoch, und ich bin davon überzeugt, werden die Tatsachen lauter sprechen als jede Propagandamaschine.
I. Ein Taschenatlas der post-sowjetischen Staaten
“Ich möchte noch einmal an Russlands jüngste Geschichte erinnern: Wir sollten uns klar werden, dass es sich beim Zusammenbruch der UdSSR um die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts handelt. Zig Millionen unserer Mitbürger und Landsleute lebten auf einmal ausserhalb der Grenzen Russlands und mussten sich eine neue Heimat suchen. Darüber hinaus hat die Epidemie des Zerfall Russland selbst infiziert.” – Wladimir PutinRussland und die Sowjetunion waren schon immer ein Flickenteppich ethnischer und nationaler Gruppen. Im Laufe der modernen Geschichte befürchtete jeder russische Staatschef den Zerfall und die Unabhängigkeitsbewegungen im “Mutterland.” Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sahen viele, wie sich diese Befürchtungen in Realität verwandelten. Russland verlor wesentliche Teile seiner ehemaligen Gebiete und mit ihm viel von seinem Nationalstolz.
Diese Demütigung wurde in den frühen Tagen des Zusammenbruchs durch die heftige Deregulierung und Liberalisierung verschärft; der Internationale Währungsfonds forderte einen massiven Ausverkauf des Nationalvermögens (und half dabei). Ausländische Investoren konnten für einen Bruchteil des Wertes alles kaufen. Das ehemalige Sowjetreich wurde gedemütigt, während der Westen und seine Marktideologen ihre Botschaft an den Mann brachten: die liberale Demokratie und der Kapitalismus seien der einzige Weg³.
Ich möchte Sie fragen: Ist es ein Zufall, dass Russland nach der Demütigung und dem Ausverkauf der Sowjetunion – einem in den Augen vieler Russen von einem inkompetenten und beschämenden Präsidenten⁴ geführten Zeitraum – einmal mehr den Ruf nach Einsetzung eines “starken Mannes” erlebt? Ich bezweifle es. Dies scheint den imperialistischen Charakter des russischen Nationalismus wiederzuspiegeln und bietet Platz für Putins eigene politische Bestrebungen, eine verlorene “Herrlichkeit” der Vergangenheit wieder einzufangen – und das schliesst die Wiedererlangung der Kontrolle über verlorene Gebiete ein.
Eine gründliche historische Hintergrundbeschreibung Russlands, der Ukraine, Tschetscheniens und der Krim sowie deren ausführliche, miteinander verbundenen Beziehungen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Genauso wäre das der Fall mit einer Erläuterung der politischen Landschaft im post-sowjetischen Raum und der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, und einer Erklärung, wie sich diese in wichtigen Punkten von der des “Westens” wegen der dortigen Erfahrungen mit dem “realexistierenden Sozialismus” unterscheidet. Lassen Sie uns einfach daran denken, dass Begriffe wie “links” oder “rechts” bei der Diskussion von internationalen Fragen eher schillernd und stark abhängig vom Kontext sind.
II. Über den Imperialismus
“Wer ein wirklicher Sucher nach der Wahrheit werden will, muss mindestens einmal im Leben möglichst alles angezweifelt haben.” – René DescartesEs gibt eine interessante Spaltung in der Wahrnehmung bei der “Linken”, wenn es um Imperialismus geht. Man kann mit gutem Recht sagen, dass wir uns alle über die Notwendigkeit einig sind, sich dem US-amerikanischen Imperialismus zu widersetzen. Doch sobald das Bild um einen zweiten Staat mit imperialistischenen Bestrebungen ergänzt wird, werden anscheinend viele – vor allem westliche – “Linke” zweideutig, und sind bereit, das vermeintlich geringere von zwei Übeln zu wählen. Dieser dualistische Ansatz hat seine Wurzeln im Kalten Krieg; er ist ein nutzloses Überbleibsel einer Zeit, als pro-sowjetisch zu sein stillschweigend implizierte, anti-kapitalistisch zu sein.
Dieser Ansatz war damals falsch, und ist es auch jetzt, und es ist Zeit, sich von ihm zu lösen.
Das jüngste Beispiel dafür, wie schwierig es ist, auf diese falsche Wahl zwischen zwei Übeln zu verzichten, ist die Krise in der Ukraine. Kommentatoren auf der ganzen Welt trommeln die Beweise für den Hype zusammen, ein neuer Kalter Krieg stünde bevor. In der Öffentlichkeit scheinen sich die Spannungen zwischen den USA und Russland zu verstärken; aber hinter dem Vorhang ist das alles nichts Neues. Die USA, die EU und die NATO haben permanent versucht, ihren Einflussbereich in den Osten zu erweitern; Russland war noch nie bereit, auf seinen politischen Einfluss, die Kontrolle über die Pipelines oder den Zugang zu Ressourcen in den ehemaligen sowjetischen Gebieten zu verzichten.
Noch wichtiger ist jedoch die Tatsache – welche auch der Vision eines neuen Kalten Krieges vor unserer Haustür widerspricht – dass die USA seit 1992 Russland “Entwicklungshilfe” leisten, mit der Bedingung eine Deregulierung durchzuführen, wie sie durch den Siegeszug der Bretton-Woods-Institutionen (und später der Troikas) erzwungen wurde.
Wir sind die scheinheilige US-Aussenpolitik gewohnt – ihre Haltung gegenüber Russland dient nur als ein weiteres Beispiel. Wir hören immer wieder Aufrufe aus dem Weissen Haus, Russland solle Dissidenten und Opposition respektieren. Angesichts der in den USA existierenden drakonischen Haltung gegenüber Dissens und Opposition reduziert diese kontinuierliche Unterstützung von Putins Regime durch die Hintertür solche Aufrufe auf das Ausmass “heisser Luft”.⁵ Dennoch betreiben Obama und seine westlichen Kollegen weiter Selbstbeweihräucherung mit lächerlichen Sanktionen, die keinerlei Auswirkungen auf die Gier Putins oder die seiner Haus-Oligarchen haben.⁶
Auf jeden Fall füllt die bereits erwähnte USA-gegen-Russland-Mär weiterhin den Äther, und natürlich sind die USA nicht die einzigen, die Lärm machen. Aus anti-autoritärer Sicht ist es sowohl frustrierend wie auch traurig zu sehen, wie die Kreml-Propaganda im World Wide Web munter die Runde macht. Tatsächlich haben die russischen Mainstream-Medien viel gemeinsam mit denen der USA und der EU – jeder zeigt jeweils mit dem Finger auf die “andere Seite”. “Linke” und Anarchisten sollten jedoch in der Lage sein, dieses Spiel zu durchschauen und beide Ansprüche abzulehnen. Der “Westen” hat kein Monopol auf den Imperialismus, und wir zeigen unsere Solidarität mit ethnischen Minderheiten, Randgruppen, der radikalen Opposition der Linken oder der Arbeiterklasse nicht nur dadurch, dass wir uns ausschliesslich dem westlichen Imperialismus entgegenstellen – denn alle von ihnen werden die Hauptopfer weiterer Aggression sein.
In der Tat hat ein solches Verhalten furchtbare menschliche und politische Folgen; es ermöglicht die fortgesetzte Unterdrückung und Tötung von Angehörigen ethnischer Minderheiten und es schwächt die wenigen Stimmen aus den Oppositionsbewegungen in Russland und der Ukraine, die es schaffen, gehört zu werden. Darüber hinaus führt diese rücksichtslose Haltung in einen direkten Konflikt zwischen den “Linken”. Viele sind nicht bereit, die russische Aggression als das, was sie ist, zu verurteilen – aus Angst, dies würde eine Unterstützung für ihre eigenen Imperialisten implizieren, ähnlich den “Linken”, die zuerst versucht haben, Gaddafi zu verteidigen, später Assad, und jetzt Putin.⁷ ⁸ Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig.
AnarchistInnen und “Linke” sollten jedoch meiner Meinung nach weder Diktatoren noch autoritäre Regime unterstützen – es sei denn, sie verstehen sich als Stalinisten, in welchem Fall ich sie in unseren Reihen nicht mehr als willkommen bezeichnen möchte. Sie können sich statt dessen in eine Reihe stellen mit der griechischen “Morgenröte”, der französischen Front National unter Marine Le Pen, der Forza Nuova in Italien und anderen erklärten Nationalsozialisten, die derzeit die treuesten und glühendsten Anhänger Putins und des Kremls sind. Anders Brevik nannte Putin einen “fairen und entschlossenen Führer, der Respekt verdient”, und die Forza Nuova erklärte Putins Russland zum “neuen Fanal der Zivilisation, Identität und Mut für andere europäische Völker.” ⁹
Ein Blick auf die jüngsten Mai-Feierlichkeiten in Moskau, bei denen Nazis ungehindert marschierten und Stalinisten Bilder Lavrentiy Berias mitführten, sowie Plakate, auf denen sie Obama als Affen bezeichneten, der die Welt beherrschen will – oder auch ein Blick auf die rassistisch aufgeheizten Unruhen vom Oktober 2013 in Moskau liefern genügend Hinweise auf die aktuelle fremdenfeindliche Atmosphäre in Russland.
III. Über die ukrainische Revolution
“Die Opposition in Kyiw versprach, einen Pflasterstein, wie sie bei Angriffen gegen die Polizei benutzt wurden, auf den Tisch eines jeden Abgeordneten zu legen, damit sie immer daran denken, dass die Macht in der Ukraine bei seinem Volk liegt“- Unbekannter Maidan-AktivistUnd jetzt zur Ukraine: Der weit verbreiteten Korruption überdrüssig, mit ineffizienten Institutionen, ausgenutzt und in einer Notsituation lebend, während eine Regierung der Wenigen ihre Reichtümer ins Ausland schaffte, versammelten sich die Menschen auf dem grossen Platz und forderten einen Wandel. Man bildete Allianzen, auch unheilige, um die Berkut Janukowytschs und die russischen Agenten auf dem Maidan zu bekämpfen.
Die Revolution hat es nicht geschafft, die Oligarchen zu stürzen, und wir können auch unsere Probleme mit der politischen Konstellation der Proteste haben. Der Nazi-Symbolismus auf dem Maidan war beängstigend für viele von uns, und das zu Recht. Und natürlich, wenn Sie danach fragen, wer von der Eskalation in der Ukraine profitiert, dann ist die Antwort in geopolitischer Hinsicht einfach: die imperialistischen Kräfte. Das bedeutet aber nicht, dass der Volksaufstand nicht echt war oder “instrumentalisiert” wurde, denn das würde eine völlige Diskreditierung der materiellen Wirklichkeit bedeuten, die die Menschen dazu veranlasste, ihr Leben auf dem Maidan zu riskieren, und die Folgen der Realität, in der sie lebten, nicht zu akzeptieren.
Erlebte Not für sich genommen ist nicht ideologisch. Sie ist ein Zustand, eine bedrückende Realität, in der sich unzählige Familien befinden. Es versteht sich von selbst, dass Menschen, die heftigen Sparmassnahmen unterworfen sind, Lügen und grosse, schicke Ideen nicht mehr hören können – unabhängig davon, aus welcher Ecke sie kommen. Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es legitim, dass Menschen “Macher” suchen.
Es ist frustrierend, das Folgende schreiben zu müssen: Der “Rechte Sektor” (Pravij Sektor) hat getan, wozu wir selbst nicht in der Lage waren. Ich habe nicht die Absicht, einen Streit über den “Rechten Sektor” als solchen zu beginnen; jedoch würde ich gerne sehen, dass wir gewissenhaft darüber nachdenken, warum die radikale Linke und die Anarchisten nicht in ähnlichem Masse in der Lage sind, unseren kritischen Blick auf das System zu kommunizieren und dies in eine Aktion für die Menschen umzusetzen – wir verbringen unsere Zeit anscheinend wohl lieber damit, uns in Grabenkämpfen untereinander zu entzweien oder als Zuschauer an der Seitenlinie zu bleiben.
Auch wenn es schon gesagt wurde, so muss es nochmal wiederholt werden: Nicht nur in der Ukraine und Russland steht uns eine harte antifaschistische Konfrontation bevor, sondern auf dem gesamten europäischen Kontinent. Wenn wir uns von den Menschen abwenden, die unter Sparmassnahmen leiden, egal wer oder wo sie sind, dann wird das unsere Chancen nicht verbessern, siegreich aus diesem Konflikt hervorzugehen.
Die arabische Queer-Transfeministin und Anarchistin Leil Zahra Mortada schrieb über die (fehlende) Solidarität mit der syrischen Revolution: “Solidarität und Unterstützung im Angesicht der Ungerechtigkeit sollte nie daran gemessen werden, inwieweit Sie mit den einzelnen Opfern übereinstimmen, die Ungerechtigkeit erleiden müssen. Sie können mit ihnen absolut nicht einverstanden sein, gegen ihre Politik sein, und dennoch sich für sie einsetzen und die Ungerechtigkeit bekämpfen, die sie erleiden. Sie können jemanden bekämpfen, und gleichzeitig gegen die Diskriminierung kämpfen, der er ausgesetzt ist.”
Wir können nicht auf den “perfekten” revolutionären Moment warten, und uns erst dann engagieren, wenn der “revolutionäre Rahmen” uns ideologisch genehm ist. Auf welcher moralischen Basis können wir behaupten, für die Unterstützung der “Völker” zu sein, wenn wir ihre Kämpfe ignorieren? Wir müssen von unserem hohen Ross heruntersteigen und ernsthaft über den ideologischen Dogmatismus und Puritanismus nachdenken, wenn es um die grundlegendsten Akte der Solidarität geht: einen Kampf anzuerkennen, moralische Unterstützung zu zeigen, einen zusätzlichen Schritt zu gehen, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, und den Lügen und der Propaganda mit konkreten Massnahmen entgegenzutreten.
So wenig wie wir das politische Ergebnis und den Aufstieg der Ultranationalisten in einige Regierungspositionen in der Ukraine gutheissen, so wahr bleibt auch die Tatsache, dass der sogenannteEuromaidan trotz allem ein Aufstand war. Wir müssen es als unserenFehler begreifen, als unsere Unfähigkeit, unsere eigene Vision zu kommunizieren, wenn es – aus Frustration über Vetternwirtschaft und Korruption – der extremen Rechten gelang (wie auch in anderen Ländern), grosse Teile der Arbeiterklasse in ihren Reihen aufzunehmen.
Dabei ist es wichtig zu beachten, dass der Aufstieg von Swoboda vor den Ereignissen auf dem Maidan stattfand. Bei den Parlamentswahlen 2012 erhielt sie mehr als 10% der Stimmen und hat 38 Mandate im Parlament.
Wie dem auch sei: wenn uns der Charakter eines Aufstands nicht gefällt, kann man dem nur mit unserem eigenen Engagement begegnen – aus der Ferne können wir ihm als Verbündete derjenigen Kräfte begegnen, die wir unterstützen können; vor Ort können wir ihm als Mitstreiter derjenigen Kräften begegnen, mit denen wir bestimmte kritische Werte teilen. Die antifaschistische Bewegung, die linke und demokratische Opposition in Russland und in der Ukraine, sowie die ethnischen Minderheiten und Randgruppen scheinen uns gute Ansatzpunkte zu sein, um dem bisher noch hohlen Spruch der “internationalen Solidarität” einen Sinn zu geben. Jeder soziale Kampf hat Elemente, den radikale Linke und Anarchisten unterstützen können. Zu einem grossen Teil ist es einfach eine Frage der Bereitschaft, danach zu forschen, uns selbst zu informieren und vor allem, auf diese Elemente zu hören.
IV. Das fehlende Glied: Tschetschenien und die Krim
“Durch die Felsen, durch die Landeströmt des Tereks Flut.
Der Tschetschene schleicht am Strande,
wetzt sein Messer gut.
Doch Dein Vater ist ein Reiter,
greift ihn auf im Nu.
Schlaf mein Bub,
schlaf ruhig weiter,
Bajuschki baju.“
Beliebtes Kosakenwiegenlied des russischen Dichters Lermontow
Wenn man jemanden in Bezug auf seine Hautfarbe schwarz nennt, könnte das ein politisch korrekter Begriff in den USA sein. In Russland jedoch wird “schwarzhäutig” (russisch чурок, churock, churka) in einer sehr abfälligen und rassistischen Weise verwendet und wurde im Laufe der sowjetischen Geschichte benutzt, um zwischen “loyalen ethnischen Slawen” und “rebellischen, unzivilisierten Nichtslawen” zu unterscheiden. Die sowjetische Propaganda-Maschine erklärte, “die Tschetschenen sind wilde Tiere, die eines Tages in Dreck und Armut sterben, wenn die Rote Armee sie nicht zivilisiert”, und um sie für die sowjetische Kultur zu assimilieren, müssten sie “vom Islam und ihren barbarischen Traditionen emanzipiert”… und gewaltsam deportiert werden.
Bei Morgengrauen des 23. Februar 1944 erhielt Stalins Rote Armee den Befehl aus Moskau, alle Wainachen (Tschetschenen und Inguschen) zu sammeln und sie nach Zentralasien zu deportieren – die sogenannte “Operation Linsensuppe.” Die Zwangsvertreibung wurde von NKWD-Chef Lawrentij Berija befohlen und von Stalin genehmigt. Der Auftrag umfasste die Deportation von mehr als 500.000 Menschen und die vollständige Auflösung der Tschetscheno-Ingischischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Hunderttausende Tschetschenen und Inguschen wurden während der Razzien und dem Transport getötet oder sind in den frühen Jahren des Exils verhungert. Überlebenden wurde bis 1957 nicht erlaubt, in ihr Land zurückkehren. Das Europäische Parlament hat dies zu einem von der Sowjetunion begangenen Akt des Völkermords erklärt.
Die Argumente für die Vertreibung der tschetschenischen Bevölkerung im Jahr 1944 waren die gleichen, wie sie für die ethnische Säuberung der Krimtataren als Rechtfertigung benutzt wurden. Darunter war auch das Argument, dass sowohl die Tschetschenen als auch die Krimtataren angeblich mit Nazi-Deutschland kollaboriert hätten. Dieser Vorwurf ist seitdem widerlegt worden: Es ist dokumentiert, dass 40.000 Tschetschenen und 25.000 Krimtataren in der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gekämpft haben.
So ist es nicht verwunderlich, dass das von den Sowjets für die Tschetschenen vorgesehene Schicksal, nämlich Deportation und ethnische Säuberung, bald auch die Krimtataren erwartete. Und tatsächlich traf es die Krimtataren an einem einzigen Tag: am 18. Mai 1944 wurden sie zusammengetrieben und deportiert, in 67 Zügen, nach Zentralasien. Man schätzt, dass rund die Hälfte der Krimtataren während des Transports, oder an Unterernährung und Hunger kurz danach starben.
Die russische Vergangenheit beinhaltet unzählige andere Gräueltaten im Kaukasus; man kann getrost sagen, dass sie ihren Höhepunkt unter Stalins Herrschaft erreichten. In der jüngeren Geschichte dienen die beiden Tschetschenienkriege nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Beispiele dafür, wie tief die russischen Ressentiments gegen “Schwarze” wirklich sind. Sie sind daher eine wertvolle Lektion – für uns alle, aber besonders für politische Aktivistinnen auf der “Linken” und für Anarchisten – insbesondere für den Blick auf die Krim durch die Linse der tschetschenischen Geschichte. Was geschah also in Tschetschenien zwischen dem Fall der Sowjetunion und jetzt? Und was hat das mit der Krim zu tun?
Die Ähnlichkeiten zwischen den Schicksalen dieser beiden Völker – der Tschetschenen und der Krimtataren – wie auch die Taktik, Rhetorik und Haltung des Kremls ihnen gegenüber, sind erschreckend. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Die Krim wurde nicht vom einem so schrecklichen Krieg heimgesucht, wie ihn die Tschetschenen durchstehen mussten. Lasst uns hoffen, dass das so bleibt. Jedes durch Nationalismus verlorene Leben ist ein Leben zu viel.
Fallbeispiel: In einer Pressemitteilung vom März 2014 des Menschenrechtszentrums “Memorial” in Russland stellten die Autoren fest, “die russischen Truppen auf der Krim werden von einem General kommandiert, dessen Truppen in den Jahren 1999 bis 2000 für das erzwungene Verschwinden von mindestens sieben Menschen während des zweiten Krieges in Tschetschenien verantwortlich waren,” und dass es von der Krim auch Berichte gebe “über die Inhaftierung und das anschliessende Verschwinden von Personen: Journalisten, Bürgeraktivisten und ukrainische Soldaten”.
Der Mann, um den es hier geht, ist Generalleutnant Igor Nikolajewitsch Turtschenjuk, welcher den Befehl über die russischen Besatzungstruppen auf der Krim erhielt. Nicht nur, dass der Bericht von Memorial eine weitere Analogie zwischen Tschetschenien und der Krim hervorhebt, er offenbarte auch die Anwesenheit russischer Truppen vor Ort schon vor der “Volksabstimmung”, während der Kreml log und noch bestritt, es gebe eine militärische Kampagne der Einschüchterung.¹°
Diese Gemeinsamkeiten sind noch nicht alles, nehmen wir doch Volksabstimmungen: Im Jahr 2003, nach zwei fast zehn Jahre dauernden Kriegen, bei denen über 200.000 Zivilisten getötet wurden, stimmte die Tschetschenische Republik in einem Referendum für die Integration Tschetscheniens in Russland. Nach Angaben der tschetschenischen Regierung waren bei der Volksabstimmung 95,5% der Stimmen dafür. Dass die Volksabstimmung unter Bedingungen abgehalten wurde, die alles andere als fair waren, liegt nahe: die militärische Bedrohung überall vor der Haustür, Einschüchterungskampagnen, keine unabhängigen Beobachter und falsche Stimmenauszählungen, all dies diente dazu, das Ergebnis der Volksabstimmung zugunsten der Interessen des Kreml und seiner Marionette, Achmad Kadyrow zu garantieren.
Auf der Krim, will man uns weismachen, haben noch mehr Menschen für die Annexion durch Russland gestimmt. Unglaubliche 96,7% “erklärten ihre Bereitschaft”, sich an Russland anzuschliessen. Mustafa Dschemiljew, der geistige Führer der Krimtataren, prangerte das Referendum schnell als gefälscht an, und ein ehemaliger Berater der russischen Regierung, Andrej Illarionow, bestätigt diese Angabe und sagt, das Ergebnis sei die Folge “grober Fälschungen” und einer “zynisch manipulierten Bevölkerung.” Laut einem Bericht des russischen Rates für Menschenrechte im Präsidentenamt war die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als behauptet, gibt aber zu, dass die Zustimmung etwa 50% insgesamt betrage. Dies beantwortet die Zweifel über Fehlverhalten bei den Wahlen nicht, sondern wirft nur noch mehr Fragen auf.¹¹
Desweiteren lag gemäss der Umfragen des Kyiwer Internationalen Instituts für Soziologie die Unterstützung für den Beitritt zu Russland seit 2011 immer irgendwo zwischen 34% und 41%.¹² Dies bestätigt wiederum Mustafa Dschemiljews unmittelbare Reaktion auf die Volksabstimmung. Die Bewohner der Krim, die abstimmen sollten, sahen sich auf den Strassen der Städte auf der Krim einer Einschüchterungskampagne maskierter Militärs gegenübergestellt, (die russisch sprachen, aber keine militärischen Abzeichen trugen). Nach Angaben des Historikers Timothy Snyder von der Yale-Universität waren die einzigen internationalen Beobachter vor Ort von der russischen Regierung aus den europäischen rechtsextremen Parteien eingeladen.¹³
Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen – dass das Referendum nach der ukrainischen Verfassung illegal war, dass es Gegenstand einer massiven Einschüchterungskampagne war und dass es keine unabhängige Beobachter vor Ort gab – ist es fraglich, ob man ein solches Ereignis anders bezeichnen kann als eine Farce.
In einem Gespräch zwischen Putin und dem ehemaligen Vorsitzenden des Medschlis der Krimtataren, Mustafa Dschemiljew, argumentierte Putin, dass die Abtrennung der Ukraine von der Sowjetunion ebenfalls unter illegitimen Bedingungen geschehen sei, und wollte so sein eigenes Verfahren legitimieren.¹⁴
Der Kreml schickte kurzerhand die eigene Bevölkerung auf die Halbinsel. Wir sollten nicht vergessen, dass er – wie alle anderen kolonialen und imperialen Mächte – ein paar Tricks auf Lager hat. Eine ganze Zeitlang haben die westlichen Medien ziemlich konfus wiederholt, dass die militanten Separatisten russischsprachige ukrainische Bürger seien. Aber Putin besitzt ein Libretto für die Verwirrung und das Auseinanderdividieren der Gebiete, die er sich unterwerfen will. Zur Taktik gehören auch bestellte Provokationen durch nicht identifizierte Soldaten, sogenannte “besorgte Bürger”, Bemühungen, die Medschlis bzw. die tschetschenischen Führung zu teilen und Feindseligkeit und Misstrauen durch die Begünstigung bestimmter ethnischer Gruppen gegenüber anderen zu schaffen.¹⁵
Auf was können sich die Menschen auf der Krim freuen? Nun, das heutige Tschetschenien ist ein sehr autoritärer Ort zum Leben. Es gibt keine Meinungsfreiheit, und erst recht keine Freiheit zum Dissens. Am Tag der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi, dem 23. Februar 2014, verhängte Kadyrow (der derzeitige Marionettenregierungschef in Tschetschenien) auf Veranlassung von Putin ein Verbot, den 70. Jahrestag der ethnischen Säuberungen der Tschetschenen aus ihrer Heimat als Gedenktag zu begehen. Zwei Tage zuvor wurde Ruslan Kutajew, der Präsident der internationalen Organisation der Versammlung der Völker des Kaukasus, in Tschetschenien festgenommen, weil er im Dorf Gechi eine Konferenz über die Deportation der Tschetschenen von 1944 abgehalten hatte.¹⁶
Die Spannungen sind derzeit hoch auf der Krim, da der 18. Mai näher rückt und die einheimischen Krimtataren den Gedenktag an ihre Abschiebung vorbereiten. Putin lässt über die Staatsanwältin Natalia Pokolonskaja keinen Zweifel daran, dass jegliche Abweichung wie das Hissen der Krim-Tataren-Flagge als Vorwand dienen wird, um die Situation eskalieren zu lassen. Mustafa Dschemiljew wurde schon zurpersona non grata erklärt und ihm die Einreise in sein Heimatland verweigert. Darüberhinaus gibt es Befürchtungen, dass der Kreml Provokateure einsetzt, um eine Eskalation zu garantieren. “Die Krimtataren werden mit ihren nationalen [Krimer] und ukrainischen Fahnen marschieren,” sagte Dschemiljew auf einer Pressekonferenz am 5. Mai. “Wie Sie wissen, greifen die russischen Behörden diese Flaggen an, sie sind für sie wie ein rotes Tuch für einen Stier. Es kann zur Gewaltanwendung kommen [gegen die Krimtataren].”¹⁷
Und schliesslich, um auch die skeptischsten (oder am wenigsten skeptischen) Leser zu beschwichtigen, die immer noch glauben, Putin setzte sich für Antifaschismus ein: es gibt sehr beunruhigende Informationen, dass Tschetniks von der russischen Seite als Kämpfer eingeladen wurden, um zusammen mit den Russen und den Kosaken-”Wölfen” (die “Wölfe” sind eine paramilitärische Organisation, die für ihre Skrupellosigkeit bekannt ist und sowohl in Tschetschenien, als auch in Georgien im Kampfeinsatz waren) zu kämpfen.¹⁸
Zur Erinnerung: viele der schlimmsten Verbrechen im Bosnien-Krieg wurden von Tschetniks begangen, wie beispielsweise das Massaker in Srebrenica – Gräueltaten, die wir nie vergessen werden. Es ist daher mehr als nur besorgniserregend, dass seit Mitte März 2014 Tschetniks auf der Krim sind.
Ein serbischer Freiwilliger namens Malisić wird auf einem serbischen Nachrichtenportal zitiert: “Während der Kriege in Jugoslawien kämpften viele [russische] Freiwillige auf der serbischen Seite, so dass wir, ihre Brüder, beschlossen haben, ihnen zu helfen. Deswegen sind wir hier.” ¹⁹Und in einem YouTube-Video (siehe unten) ist ein serbischer Kämpfer mit einer traditionellen Pelzmütze und Bart zu sehen. Er spricht mit Hilfe eines russischen Übersetzers mit einer Schar von Anhängern auf der Krim, er erzählt von ihrem gemeinsamen slawischen Blut und vom orthodoxen Glauben. Die Tschetniks werden sowohl von ihrer anti-westlichen Motivation als auch von einem nahezu beispiellosen Hass gegen Muslime angetrieben.
V. Auswirkungen für AnarchistInnen und die “Linken”
“Ihr könnt die Revolution nicht kaufen. Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein. Sie ist in euch, oder sie ist nirgends.“ – Ursula Le GuinEs gibt eine anhaltende Debatte in der internationalen radikalen Linken, was unter Solidarität und Internationalismus zu verstehen sei; wen man unterstützen solle und wie, und wen man verurteilen müsse. Ich höre zum Beispiel, dass viele behaupten, die syrische Revolution sei eine zionistische-amerikanische Verschwörung. Allzu häufig sind das dieselben Leute, die die Ukraine nur als Schlachtfeld (oder “Spielwiese”, ein noch weniger geschmackvolles Wort) der imperialistischen Kräfte sehen und den Euromaidan einen “instrumentalisierten” Protest nennen, und damit den Forderungen und materiellen Gründen für den Aufstand die Legitimation nehmen.
Ignorieren wir erstmal, wie frustrierend es ist, zu sehen, dass “Linke” Verschwörungstheorien oder stumpfen geopolitischen Analysen auf dem Leim gehen – ich muss anmerken, dass ich eine hartnäckige Weigerung beobachtet habe, alle lokalen Quellen anzuerkennen, die dieser “Kuscheltier-Weltanschauung” widersprechen könnten. Der Beweis dafür ist besonders klar im Falle von Syrien, aber zunehmend auch in der Ukraine zu beobachten. Viele scheinen nicht bereit, auf die Mitglieder der russischen Opposition zu hören, die keinen Zweifel an den Risiken und Gefahren der Bestrebungen Putins lassen.
Wenn wir nicht bereit sind, auf die Revolutionäre vor Ort zu hören, sollten wir vielleicht den Mund halten. Um es ganz deutlich zu machen: Linke und Anarchisten unterstützen weder Diktatoren noch Vertreter imperialistischer Staaten. Stattdessen arbeiten sie sich durch das Netz der Lügen, indem sie forschen, Netzwerke bilden und nach Verbündeten vor Ort suchen. Diese Verbündeten sind von der Natur vorgegeben: Randgruppen, ethnische Minderheiten, demokratische und linke Oppositionelle und die Arbeiterklasse.
Unsere Aufgabe in der Ukraine ist es, die Stimmen zu verstärken, die von mächtigen Propagandamaschinen unterdrückt werden. Und weiter: die Verbindung zwischen den Kämpfen der radikalen Linken in die Ukraine mit den Kämpfen der radikalen linken Opposition in Russland herzustellen; Randgruppen und ethnische Minderheiten zu unterstützen; und die bedauerliche Tatsache hervorzuheben, dass genau diese Gruppen – zusammen mit der Arbeiterklasse – Hauptopfer der militärischen Konfrontation werden.
VI. Auf dem Heimweg
Im Vorwort zu Franz Fanon “Die Verdammten dieser Erde” schrieb Jean-Paul Sartre: “Habe den Mut, dieses Buch zu lesen, denn in erster Linie wird es Sie beschämen, und Scham ist, wie Marx es sagte, eine revolutionäre Stimmung.”Haben wir die Fähigkeit, die wir brauchen, um uns zu schämen?
Befreiung geschieht immer innerhalb eines Kontexts: Man kämpft, um sich von dem zu befreien, was einen unterdrückt. Die Sprache spiegelt das wider. Wenn Sie von einer militärischen Besatzung oder Diktatur, durch die Religion oder durch den Nationalstaat unterdrückt werden, durch sexuelle Moral oder durch Geschlechterrollen, dann spiegelt sich all das in der Sprache wieder, die Sie verwenden.
Die Linken und Anarchisten im Westen scheinen über die wirtschaftliche Unterdrückung hinaus nicht viel zu haben, von dem sie sich befreien könnten. Ihre liberalen Demokratien garantieren mehr oder weniger ihre körperliche Sicherheit; ihre Essays und Sprache reflektieren diese bequeme Position, was bei ihnen oft zu einer gewissen Arroganz führt.
Aber wann hat die Linke aufgehört, Empathie für die Kämpfe echter Menschen zu zeigen? Wann haben wir aufgehört, zu forschen und zu lesen und unsere Kämpfe mit den Kämpfen in anderen Ländern zu verbinden? Wann sind wir so arrogant geworden, dass wir einfach annehmen die Antworten zu kennen, bevor die Fragen überhaupt gestellt worden sind?
Ich will es nicht mehr hören. Ich kann ihnen nicht mehr zuhören: Menschen, die sich InternationalistInnen, Anarchisten, MarxistInnen oder politische Aktivisten nennen. Menschen, die vielleicht materielle Notlagen erlitten haben, aber noch nie echte physische Unsicherheit; solchen, die sie alle gelesen haben: Bakunin, Marx, Rousseau, die aber noch nie um ihr Leben rennen mussten; die es sich schamlos herausnehmen – und das aus einer privilegierten Position heraus – Frauen und Männer in der Mitte eines Befreiungskampfes aus der Ferne zu beurteilen und zu beraten, und sogar so weit gehen, ihnen höhnisch die Legitimation abzusprechen. Diesen Menschen, deren Proteste im schlimmsten Fall einem Katz- und Maus-Spiel ähneln!
Inzwischen sind die Maifeiern im Westen immer mehr zu einem traurigen Gedenktag geworden; einem Tag der Erinnerung an unsere Bewegungen und Forderungen, die sich seit dem “Haymarket Riot” jedes Jahr zurückgebildet haben; markante Symbole unseres Versagens, erwähnenswerte soziale Veränderungen zu erreichen.
Aber das sehen sie lieber nicht. Sie mögen auch nicht sehen, wie sie auf dem hohen Ross sitzen, mit all den Antworten ohne dass sie sich in einem ernsthaften Kampf engagieren mussten. Leil schrieb ironisch in einem Artikel, den ich hoch schätze:
“Žižek [und die Europäer] haben den Menschen in Syrien und Ägypten eine Menge beizubringen. Die Europäische Linke als Ganze hat viel mitzuteilen. Ich meine, Europa hat sich seit Jahrzehnten erhoben und die Siege der europäischen Linken sind eine Quelle globalen Neids. Žižek selbst hat die Barrikaden angeführt und einen Speer ins Herz des Neoliberalismus seines eigenen Landes gebohrt.”
Können sie es nicht sehen? Seit 1848 singen sie von welcher Revolution auf ihren Strassen? Nun endlich ist die Welt erschüttert, aber die Erschütterung entspricht nicht den Dogmen, sie folgt nicht den “Regeln” dieser weissen, alten, bärtigen Männer, die dicke Handbücher und Manifeste für diese Dogmatiker schrieben, um sich dahinter verstecken zu können, und sich von der Wirklichkeit abzuschirmen.
Eine neue Dämmerung steht uns bevor. Eine neue Dämmerung, die Empathie über die Ideologie setzt, die die Erfahrung über die Meinung stellt. Ich höre diese Rufe nach Einheit. Nach welcher Einheit? Das Recht der Privilegierten, diejenigen zu verunglimpfen, die ihr Leben einsetzen?
Ich setze mich sicher nicht für eine Vertiefung der Kluft zwischen unseren Bewegungen ein. Ich rufe zu einer vertieften Reflexion über unsere privilegierten Positionen auf. Aber wenn wir nicht in der Lage oder nicht willens sind, über die aktuelle Situation zu reflektieren, und wenn das bedeutet, dass einige von uns unfähig sind, unseren ideologischen Puritanismus zu überwinden, dann soll es eben so sein; dann kann sich herausstellen, dass der Rest von euch nicht mehr im Namen unserer aktuellen Generation revolutionärer Schwestern und Brüder spricht.
Diese Kluft wird zwischen ideologischem Puritanismus und echter Solidarität auftreten, zwischen Dogmatismus und Empathie. Und es wird eine Kluft zu einer westzentrierten Weltsicht geben, die unsere Bewegungen infiltriert und vergiftet hat, die dominiert und die ihre Werte einer neu entstehenden horizontalen Sphäre aufzwingt. Aus diesem Grund ist es eine Kluft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang.