Kluge Fragen, törichte Fragen, keine Chance auf Antwort Ein Novemberabend in Deutschland
Prosa
Er lebt nun bereits seit zehn Jahren in einem kleinen südfranzösischen Dorf an der Grenze zur Camargue.
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4. November 2021
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Korrektur
Und das Ergebnis dieser „Genesung“?
Ein jeder Deutsche weiss es, ja, müsste es eigentlich wissen und auch begriffen haben, was dabei „heraus gekommen“ ist. Und dennoch wimmelt es in Deutschland seit einigen Jahren („der Schoss ist fruchtbar noch aus dem das kroch“) nur so von eifrigen „Fliegenpilz-Sammlern“, die ihre giftigen Waldfrüchte ungeniert und ungehindert auf dem freien Markt der Demokratie feil bieten und viele Abnehmer (Gesinnungsgenossen) finden, auch im liberalen Hamburg, das seit Jahrzehnten (abgesehen von kurzen Gastspielen der CDU) von Sozialdemokraten regiert wird. Redliches sozialdemokratisches Regieren bietet keinen Schutz gegen rechtsradikales und Denken und gegen das Aufblühen von abstrusen Verschwörungstheorien.
Ja, das alles hatte sich in seinem Bewusstsein schmerzhaft fest gesetzt. Doch kürzlich dachte er, für sich selbst überraschend einen Augenblick so intensiv an die Stadt, in der er fast ein Drittel seines Lebens zuhause gewesen war, dass er spontan beschloss, nun doch wieder einmal für ein paar Tage nach Hamburg zu fliegen, also in jene Stadt, die in seinen Augen (vor allem bei Sonnenschein) die schönste Stadt der Welt ist, trotz des ständig so launischen Wetters, das ihm damals an vielen Tagen im Herbst und Winter oft die gute Laune gründlich verdorben und seine Lebensfreude immens beeinträchtigt hat.
Als er in Marseille seinen Platz im Flieger eingenommen hatte, da war er doch sehr aufgeregt, er fragte sich, was er wohl empfinden mag, wenn er das Flugzeug verlässt und nach zehn Jahren erstmals wieder den Boden seiner einstigen Heimatstadt betreten wird, in deren Gesellschaft und Kulturszene er als Kreativer einst eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte.
Das Flugzeug landete pünktlich und der Himmel über Hamburg zeigte sich in seinem schönsten hanseatischen Blau, fast so blau wie der glühende Himmel über seinem Dorf in Südfrankreich. Das wertete er als ein gutes Vorzeichen, sein Entschluss, diese Reise anzutreten, das konnte also keine Fehlentscheidung gewesen sein. Er liess sich mit dem Taxi direkt in das kleine alte Familienhotel in Pöseldorf bringen, mit dessen Besitzer er seit vielen Jahren befreundet ist und in dem er früher seine Freunde unterbrachte, wenn sie ihn besuchten und die architektonische Schönheit Hamburgs nicht nur am Tage bei Sonnenschein zwischen Elbe, Alster und Hafen erleben, sondern einmal auch eintauchen wollten in das berüchtigte Nachtleben von St. Pauli bei Nacht. Wer hat dieses „Sünden-Babel“ auf der Reeperbahn emotional je schöner besungen als einst Hans Albers?
Nachdem er sich in seinem Hotelzimmer ein wenig frisch gemacht, mit dem Hausherrn an der gemütlichen Bar einen Whisky pur genüsslich zu sich genommen hatte, da glaubte er stark, neugierig und auch motiviert genug zu sein, um sich nun wieder einmal entspannt einzureihen in das ihm einst so vertraute und von ihm geliebte hanseatische Stadtgewimmel.
Es hatte gerade sechs Uhr abends geschlagen, die rechte Zeit also, um auszugehen. Er trat auf die Strasse hinaus, ging die wenigen Schritte bis zur Hallerstrasse und fuhr mit der U-Bahn bis zum Jungfernstieg, um nach ein paar Schritten als Erstes „seinen Fluss“ zu begrüssen, die Alster, in der sich auch an diesem Abend Millionen tanzende Lichter spiegeln, was für ihn immer wieder etwas Märchenhaftes, fast schon Mystisches an sich hat. Warum das so war, das vermag er sich auch dieses Mal nicht so recht zu erklären. Es war für ihn so und so wird es für ihn bleiben. Es ereignen sich im Leben eines jeden Menschen immer wieder mal merkwürdige „Dinge“, bei deren Erscheinen und Wahrnehmung man sich nicht die Frage stellen sollte, warum es sie gibt, nein, man sollte sich darüber freuen, dass es sie gibt. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, benötigte er fast siebzig Jahre.
Der von Minute zu Minute ein wenig kälter werdende, feuchte Novemberabend lässt ihn frösteln und unerwartet schöne, aber auch weniger schöne Erinnerungen an vergangene Zeiten in ihm aufkommen. Und überall tönt und riecht es dabei so heftig nach Weihnachten, gerade so, als wäre es tatsächlich der allerletzte Vorabend zum Heiligen Fest. Es dauert jedoch noch exakt dreissig Tage, bis vom „Michel“ und von den vier anderen Hauptkirchen Hamburgs abermals die Weihnachtsglocken mehrere Minuten lang läuten werden, um die heiss ersehnte Stunde anzukündigen, in der nicht nur in Hamburg Kinder sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann warten, auf viele Gaben und noch mehr teure Geschenke hoffen, waren doch ihre Wunschzettel von oben bis unten vollgeschrieben mit der präzisen Benennung ihrer kleinen und grossen Begehrlichkeiten. Wie viele Millionen Wünsche aber werden auch in diesem Jahr nicht in Erfüllung gehen, in einer Zeit, in der die Kluft zwischen diabolischem Reichtum und bedrückender Armut von Tag zu Tag immer noch grösser wird?
Törichte Fragen?
Leichter Regen fällt nun plötzlich auf die glitzernde Stadt, es nieselt hanseatisch, wie immer, eben norddeutsches Schmuddelwetter, ungemütlich, die Stimmung belastend, zarte Gefühle tötend, kleine Hoffnungen und Heiterkeit und grosse Lebensfreude nicht so recht zulassend. Es fröstelt ihn (und nicht nur ihn allein), nun rieselt plötzlich auch noch ein wenig Schnee behutsam auf ihn und auf die Stadt und alles um ihn herum nimmt nach wenigen Minuten eine zarte weisse Patina an. Weihnachten steht polternd vor den Toren Hamburgs und klopft an die Türen der Häuser und an die Herzen aller Menschen. Es soll doch ein märchenhaftes Weihnachtsfest werden: Stille Nacht, heilige Nacht. Ein Märchen.
Ist das wiedervereinte Deutschland, so grübelt er, ja, ist das neue Deutschland ebenfalls ein Märchen, gar ein böses Märchen, ein zu spät erzähltes oder ein zu früh beendetes Märchen vom herzigen deutschen Christuskind, das Liebe und Freude, Hoffnung und Frieden in die Welt und in das Leben aller Menschen auf Erden bringen soll?
Ein wunderschönes Märchen, angefüllt mit Wünschen, mit rosigen Träumen und auch mit vielen Ängsten bei jenen, die brutal heraus gefallen sind aus der neuen deutschen Wirklichkeit und längst vergessen haben, dass es auch für sie einst einen Heiligen Abend gegeben hat, damals, einst vor langer Zeit...
Achtundzwanzig Jahre nun schon ohne Todes-Mauer, deren Einsturz 1989 eine neue deutsche Zeitrechnung eingeläutet und eine neue politische Wirklichkeit geschaffen hat. Und das nicht nur in dem nun wieder vereinten Deutschland, sondern auch in dem sich verzweifelt nach seiner brandneuen Identität suchenden Europa und darüber hinaus.
Der Preis für das „Wunder an der Mauer“ war hoch: Millionen Träume von einer besseren Welt auf beiden Seiten des seit vierzig Jahren geteilten Deutschlands, sie wurden begraben unter den Trümmern, aus denen nach dem Untergang des 1000jährigen Reiches einst im Osten doch eine neue, eine bessere, menschenwürdigere Gesellschaft aus Ruinen auferstehen sollte und wo die Menschen im Westen mit dem gigantischen Wirtschaftswunder unverhofft zu blühendem Wohlstand gelangt waren, was (wie sich rasch heraus stellen sollte) beide Deutschlands und deren politischen Systeme recht bald schon immer weiter und rascher auseinander dividierte. Der Mauerbau 1961 war die konsequente Antwort der SED auf den unerwarteten Wohlstand und auf das Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik. Tragisches Schicksal eines Volkes nur oder das Resultat einer „schief gelaufenen Geschichte“?
Dafür stehen, darüber war er sich längst im Klaren, heute mal gerade achtundzwanzig Jahresringe im zarten Bäumchen, das bis heute den so hoffnungsvollen Namen Wiedervereinigung trägt.
Auch das ist ein Märchen, ein deutsches Märchen aus dem 20. Jahrhundert, das noch nicht zu Ende erzählt ist.
Hosianna.
So viele Jahre grausam und willkürlich getrennte Schwestern und Brüder, allesamt sind sie Opfer über fast zwei Generationen in zwei sich gnadenlos bekämpfenden politischen und ideologischen Systemen, die sich nun gemeinsam auf das achtundzwanzigste Weihnachtsfest seit der Stunde Null vorbereiten. Und er ist nur dabei, weil er beschlossen hatte, plötzlich nach Hamburg zu fliegen und dort zumindest einen Abend lang durch die ihm bekannten Viertel und durch deren Strassen an einem grauen Novemberabend zu gehen, um deren neue Wirklichkeiten zu entdecken und zu verstehen.
Ob das wirklich der Fall ist und sogar einen tieferen Sinn ergibt?
Fest steht: Er geht nun am ersten Abend nach langer Abwesenheit durch eine ihm über dreissig Jahre lang vertraute Welt, durch eine der berühmtesten Hafenstädte dieses Planeten, die sich besonders profiliert und sich immer wieder selbstbewusst und weltoffen darstellt durch ihren ständigen Wandel im so dramatischen Spiel zwischen gewachsenen Traditionen, zwischen gelebter und bewältigender Gegenwart und dem Mut, selbstbewusst auch noch jederzeit in eine noch grössere Zukunft zu gehen. Die Hanseaten waren stets ebenso bescheiden wie grenzenlos mutig und bisweilen auch etwas arrogant, wenn es darum ging, sich im Zirkus der Weltwirtschaft mit Bravour-Stücken zu präsentieren und auf allen See-Märkten zu behaupten.
Ja, an all das dachte auch er und genau das erhofft er sich nach wie vor von „seiner Stadt“, fühlt er sich doch immer noch als Fast-Hanseat, selbst noch in der Fremde, die den Blick in die eigene Vergangenheit bisweilen etwas vernebelt, mitunter aber auch etwas klarer erscheinen lässt.
Doch an diesem Abend sieht und fühlt sich für ihn plötzlich alles so völlig anders und fremd an: Weihnachtsmänner, angemietet für zehn Euro die Stunde, sie werfen eifrig bunte Gummibärchen, Fruchtbonbons und kleine Schokoladen-Weihnachtsmänner in den angestrahlten Himmel, die sofort auf die nasse Erde zurück fallen und die niemand aufhebt. Heilig ist dennoch alles, Erlösung naht füt jedermann.
Süsse Weihnachtslieder überall, tiefste Gefühle aus erkalteten Regionen der Liebe feiern spontan Auferstehung, Emotionen blühen wie Schneeglöckchen auf eisigem Boden.
Ob ein mit elektrischen Kerzen und bunten Plastikkugeln bestückter falscher Tannenbaum („O Tannenbaum, O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“) die aus dem Leben Gefallenen noch einmal retten könnte?
Grün ist doch die Hoffnung und bunt sind die Träume stets auf's Neue. Diese Träume fragen nicht, ob sie sich jemals erfüllen werden. Träume haben eben ihre eigenen Gesetze, die der Mensch in keinen Rahmen pressen kann.
Die prächtige, mittlerweile zu laute und dissonante Ouvertüre zum achtundzwanzigsten Weihnachtsfest hat begonnen. Schon jetzt, Mitte November. Viel zu früh, zu spät bereits. Ist die Zeit verrückt geworden?
Wirtschaftlich und finanziell profitlich klug genutzte Zeit ist Geld und viel Geld bringt noch mehr Reichtum den bereits Reichen, der grosse Traum vom kleinen Reichtum hat sich längst aus den Köpfen jener vom Schicksal ausgesetzten Menschen entfernt, die täglich eine karge Mahlzeit aus ihrem Blechnapf löffeln müssen und auf die Nächstenliebe der Christenheit angewiesen sind.
Fragen und noch mehr Fragen, nichts als Fakten und noch mehr Fragen, die kaum zu beantworten sind.
Oder stimmt dieses düstere Bild schon längst nicht mehr?
Er zweifelt, Illusion ist also alles, doch zugleich ist Illusion nichts, ihrem Namen und ihrem metaphysischen Geheimnis und Gehabe nicht gerecht werdend.
Es nieselt immer noch, dazu fallen mittlerweile und vereinzelt kräftiger werdende Schneeflocken aus dem grauen Himmel, der sich wie eine gewaltige Käseglocke fast bedrohlich über die Stadt gelegt hat.
Er setzt seinen Rundgang fort und fühlt sich nun plötzlich wirklich wie ein Fremder in seiner Stadt von einst. Wie aber kann das sein, können zehn Jahre Abwesenheit bereits so etwas sein wie die totale emotionale Ablösung und ein nicht geplanter Abschied von seiner Heimat für immer?
Er bleibt stehen und erstarrt: Im scheinbaren Schutz eines gläsernen, mit obszönen Worten beschmierten Wartehäuschens an einer Bushaltestelle zwischen Jungfernstieg und Rathausmarkt entlockt ein dürres, klein gewachsenes, altes Männchen mit einem drolligen roten Strohhut auf dem Kopf einer arg verstimmten Drehorgel ein uraltes Couplet, das einst auch sein Grossvater mit brüchiger Stimme stets dann sang, wenn er besonders gut gelaunt war: „Püppchen, du bist mein Augenstern“.
Er hat viele Jahre benötigt, um zu entdecken, dass sein von ihm geliebter Grossvater damit niemals seine neben ihm langsam vor sich hin alternde und sich dem Tod nähernde Frau gemeint hat, sondern stets die schöne, viele Jahre jüngere Nachbarin, der er hin und wieder heimlich eine selbst gezüchtete rote Rose aus seinem Garten überreichte. Er vermag sich nicht daran zu erinnern, dass sein Grossvater seiner Frau, also seiner Grossmutter jemals eine rote Rose mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen und aus reinem Herzen kommend geschenkt hat.
So war es einmal.
Er geh weiter durch die Stadt, in der einst so manche Frau nachts sehnsüchtig auf ihn gewartet hat. Heute wartet niemand auf ihn. Tempi passati.
Nach wenigen Metern bleibt er abermals stehen, dieses Mal vor einer grösseren, noch nicht so arg verstimmten Drehorgel, aus der die Musik zu „Stille Nacht, Heilige Nacht“ ertönt und ein noch viel älterer Mann mit krächzender Stimme und so falsch dazu singt, dass ihm die Ohren weh tun und er nur noch weinen möchte über einen so grausamen Angriff auf sein musikalisch so sensibles und geschultes Gehör.
Er hört dem Mann, der sich in ein schauriges, viel zu kleines Weihnachtskostüm gezwängt hat (welch groteskes Bild) ein paar Minuten aufmerksam und peinlich berührt zu, wirft dann automatisch zehn Euro in das kleine verrostete Blechkästchen, das vorne am Instrument hängt und geht nachdenklich und traurig weiter. Der alte Mann ruft ihm ein lautes Dankeschön hinterher. Vom Dialekt her könnte es ein Ostpreusse gewesen sein. Er liebt kraftvolle lautmalerische Dialekte, sie haben für ihn etwas Wildes in sich und auch etwas Archaisches an sich, etwas, dessen Wurzeln tief im fruchtbaren Boden des noch nicht untergegangenen Abendlandes und auch in seinem Bewusstsein und in seinem akuten Weltverständnis fest verankert sind.
Wo wird, so fragt er sich beim Weitergehen, ja, wo wird dieser alte Mann den heutigen Abend und das diesjährige Weihnachtsfest erleben dürfen. Hat er vielleicht doch eine Familie, ein schützendes Dach über dem Kopf und sogar ein warmes Bett, in das er sich legen kann oder wird er sich in einer halbwegs windgeschützten Ecke irgendwo in dieser vielleicht gar nicht so herzlosen Stadt betrinken, um sein Elend zu vergessen?
Er schaut so wie einst auch als Kind in den Himmel, von dem nun Millionen weisse Schneeflocken fallen, um sich, welch Tragik, auf den Strassen sofort in nassen schwarzen Schmutz zu verwandeln, das den Traum von einem weissen Wintermärchen bereits im Keim und dreissig Tage zu früh erstickt. Schneeflocken haben an diesem Abend in Hamburg kein Recht auf ein Überleben in strahlendem Weiss. Auch das kurze Leben einer Schneeflocke hat etwas Trauriges.
Er schaut nun abermals, wie zwanghaft immer wieder nach oben in den hanseatischen Himmel aus Grau und lässt in sich die verwegene Hoffnung aufkeimen, am nächsten Morgen zwischen Alster und Elbe vielleicht ein Erwachen unter einem blauen Himmel erleben zu dürfen.
Und er sucht, so ganz nebenbei den alles Irdische überstrahlenden Stern von Bethlehem, darauf bauend, dessen neue Botschaft zu empfangen und zu verstehen. Es könnte vielleicht jene so sehnsüchtig erwartete Botschaft sein, deren Verkündung Milliarden Menschen von allem Leid befreit.
Doch da ist nichts zu empfangen und zu verstehen, denn das Universum schweigt beharrlich und hat zwischen Erde und Himmel einen riesigen Schirm gespannt, der den leuchtenden Stern zu Bethlehem verdeckt, so dass er als Erdenbewohner keine Chance hat, diesen Stern zu befragen, wie es in seinem Leben und im Leben der gesamten Menschheit weiter gehen soll und was ihn mit der Welt von heute überhaupt noch verbindet.
Und er stellt er sich auch die Frage, ob er sich nicht längst in einem absoluten Nichts, in einem gigantischen geistigen und seelischen Vakuum aufhält, aus dem heraus er keinen direkten Kontakt mehr zu der Wirklichkeit von heute aufnehmen kann. Dieser Gedanke irritiert ihn zunächst, dann jedoch schüttelt er diesen Gedanken aus sich heraus, atmet befreit auf und geht weiter.
Der dunkle Himmel hängt nun noch tiefer über der Stadt, bedrohlich ist alles, kein anderer Stern ist zu sehen, auch nicht der Abendstern.
Für wen aber sollte der gerade am heutigen Abend am Himmel auftauchen und auch noch leuchten?
Nur glitzernder Tand aus falschem Gold und Silber leuchtet, feuriges Glitzern überall, Verführung ohne Gnade, wohin der Blick auch fällt. Fröhlichkeit und Lachen überall in Hülle und Fülle, alle Schmerzen und Tränen auslöschend, Verzweiflung und Lebensängste übertönend: La vie est très belle !
Alles strahlt, alles hofft, alles stirbt dennoch langsam vor sich hin, mal ganz leise, mal unerträglich laut, alles löscht sich selbst aus. Und feiert vor jedem Schaufenster Auferstehung, läutet die Wiedergeburt aller noch nicht gestorbenen Begehrlichkeiten ein.
Aus unsichtbaren, völlig überdrehten Lautsprecheranlagen tönen pausenlos allerliebste Kinderstimmen zu göttlichen, von sensiblen Menschenhänden hörbar gemachten Harfenklängen, sie beschallen die ganze Stadt, erwecken alle Herzen zu neuem Leben: „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all“.
Ja, kommt in Scharen, denn der Mensch hat Angst, Angst vor der Einsamkeit und vor sich selbst.
Ja, kommt in Scharen, scheut euch nicht und schart euch um mich.
Um wen?
Ach ja, um den HERRN !
Sein Blick wandert durch die angestrahlten, so raffiniert ausgeleuchteten Schaufenster, hinter denen sich die Begierde auf monströse Weis so schamlos räkelt wie eine Luxushure im seidenen Bett eines Luxushotels an der Alster. Sein Blick fällt auf die kunstvoll gestapelten und so schönen Versuchungen: Kaufrausch, Konsum, alles ist schön, schöner, teuer, teurer und edler. Und der HERR ist stets dabei...
Des Menschen Schönheitswahn, die Gier nach mehr und nach immer noch mehr, der ekstatische und selbstmörderische „Tanz ums Goldene Kalb“, all das beschleunigt das langsamen Sterben der Menschlichkeit, denn das Prinzip Hoffnung und der Wunsch nach Veränderung aller Verhältnisse (die nicht so sind wie erhofft) haben sich längst aus dem Denken und aus dem Handeln der Menschen verabschiedet. Was geblieben ist, das ist die Gier nach allem, was wie Gold glänzt. Gold und die Gier danach, das macht blind, grob und auch grausam.
Da fällt keine Sternschnuppe, sondern ein ihn quälender Gedanke über ihn her, der sein Gewissen unbarmherzig belastet, sein Weltbild in Frage stellt und ihm dennoch eines klar vor Augen führt: „McDonald's als Symbol einer verfressenen Zeit, Politiker ohne Moral und zu jedem Meineid bereit, skrupellose Seelenverkäufer in Ost und West verhökern täglich Raketen, Bomben, Drogen, den Tod und die Pest“.
Darf und muss das, so fragt er sich, ja, muss ein solcher Geist wirklich das einzige Leitmotiv unserer Zeit sein und bleiben, gibt es tatsächlich keine Alternativen?
Er macht sich Mut und sagt zunächst trotzig JA - und weiss dennoch um keine Alternative, und schämt sich dafür.
Er kommt an einer düsteren Toreinfahrt vorüber, in der sich ein Obdachloser niedergelassen hat. Er baut sich (s)ein „Bett“ aus bereits ramponierten Kartons, breitet eine blaue, schmutzige und durchlöcherte Steppdecke darüber, rüstet sich zur Nacht, so wie man es auch in bürgerlichen Häusern tut, spricht gewiss kein Gute-Nacht-Gebet nach einem köstlichen Abendessen und ist weit entfernt von der Heiligen Nacht, die gewiss auch dieses Mal an ihm glitzernd vorüber gehen wird. Vielleicht seine letzte Nacht?
Er gibt auch diesem Mann zehn Euro, geht nachdenklich weiter, fühle sich jedoch nicht wohl, glaubt einen Augenblick sogar, dass er sich persönlich schuldig gemacht habe am Schicksal dieses ihm unbekannten, aus seinem Leben und aus der ihm einst vertrauten Welt heraus gefallenen Mannes.
Kann ein einziger Mensch aber schuldig gesprochen werden für das Unglück, das einem anderen oder gar der gesamten Menschheit widerfahren ist?
Kluge Fragen, törichte Fragen, keine Chance auf Antwort. Da kommt ihm unerwartet ein von ihm einst geschriebener Chanson-Texte in den Sinn: „Schenkt dir das Schicksal irgendwann einmal ein wenig Glück, dann behalte es nicht für dich allein, nein, gib davon auch gleich wieder etwas zurück, schenk es jenen, die bei der Vergabe des Glücks stets leer ausgeh'n und die, allein der Herrgott weiss warum, immer nur im Regen steh'n.“
„Wie aber kann ich“, so fragt er sich, „ja, wie kann ich von meinem Glück anderen etwas abgeben, wenn ich die ANDEREN nicht kenne und ein jeder dieser mir unbekannten Menschen das Wort GLÜCK doch stets völlig anders definiert?“
Und warum, so hinterfragt er sich abermals, schleicht sich dieser Text überhaupt so plötzlich, so demonstrativ und ihn quälend in sein Bewusstsein? Will er denn wirklich wissen, warum Gott nichts tun will oder tun kann, um die Misere der Menschheit zu beenden, zumindest etwas zu verringern oder möchte er ganz einfach und egoistisch mit einer kleinen guten Tat sein schlechtes Gewissen beruhigen? So, wie es die Menschen tun, die missratenen Ebenbilder Gottes?
Er weiss es nicht.
Doch er hat Angst davor, sich eingestehen zu müssen, dass er nichts, aber auch gar nichts tun kann, um diesem armen Mann zu helfen, der sich vor seinen Augen schlafen legt in einer windigen, feuchten Toreinfahrt irgendwo in der grossen, kalten, so seelenlosen Stadt und den nächsten Tag vielleicht gar nicht mehr erleben wird.
Weiss Gott wirklich, wie viel Leid es in dieser Welt gibt?
Und weiss er, der Gott, warum er das nicht verhindert?
Er aber weiss, warum er Atheist geworden ist, warum er sich vom Gott einer heuchlerischen Christenheit abwenden musste.
Er kehrt zur Toreinfahrt zurück, weckt den bereits Eingeschlafenen und drückt ihm nun 50 Euro in seine schwielige, schmutzige rechte Hand. In den kranken Augen dieses Mannes glaubt er kurz ein schwaches Leuchten wahrzunehmen, dem dann ein kleines, scheues Lächeln folgt, das jedoch rasch erlischt.
Wie auch immer: Er spürt in diesem Augenblick keine Schuld mehr in sich und atmet erleichtert auf.
Ist das alles aber nicht so etwas wie Ablasshandel, wenn er mit Hilfe einiger Euros sich von seinem schlechten Gewissen frei zu kaufen versucht?
„Danke“, so ertönt kurz darauf eine schnurrige Stimme bei seinem Weggehen, dieses Mal klingt es sächsisch.
„Bitte“, so hört er sich sagen, wirft einen Blick auf den wohl bereits wieder Eingeschlafenen und geht seines Weges weiter.
Ein gestrauchelter Ossi im glitzernden Wunderland der Wessis, auch er auf der verzweifelten Suche nach endlosem Schlaf und nach Vergessen? Zwei leere Weinflaschen vor dem verschmutzten Schlafsack lassen ihn das glauben.
Ewiger Schlaf, alles hinter sich lassen, alles vergessen, ganz rasch, immer wieder Flucht in einen allerletzten Traum und dann nie wieder erwachen.
Das ist natürlich auch keine Alternative.
Gibt es überhaupt eine Alternative?
Es fühlt nun zumindest keine Schuld mehr in sich.
Endlich.
Endgültig auch?
Es gibt keine Schuldigen in der neuen deutschen, noch immer zweigeteilten Republik. Es gibt nur Gewinner und Verlierer. Auf beiden Seiten der unsichtbaren Mauer: „In diesem Land / stand / einst eine Mauer / Kalt, hoch unüberwindbar / In ihrem Schatten lauerte der Tod / und die Erde um sie herum / war getränkt von Menschenblut / ganz rot / Diese Mauer zerstückelte Deutschland grausam und viele Jahr / in Ost und West / und den Rest / nun, den kennt ihr ja / Und diese Mauer / sie steht noch immer da / wenn auch nicht mehr dort / wo sie einst zu finden war / Aber: sie steht wieder da / unsichtbar / das betrübt mich sehr / und macht das Herz mir schwer / macht mir das Herz so schwer“.
Ja, die einst durchbrochene und abgerissene Mauer nach vierzig Jahren SED-Diktatur, so geht es ihm durch den Kopf, und die so möglich gewordene Öffnung des „Tores in die Freiheit“, das ist eine historische und eine wunderschöne, in ihm auch heute noch starke Emotionen auslösende Wirklichkeit, das ist auch der handfeste Beweis für den Untergang eines letztlich menschenfeindlichen Systems auf deutschem Boden. Das ist aber nur die eine neue deutsche Wirklichkeit. Es gibt da auch noch eine „zweite deutsche Wirklichkeit“. Und das ist (vor allem in den Neuen Bundesländern) die Wiedergeburt eines bösen Denkens, das auch heute wieder aus kranken deutschen Hirnen kriecht, deren Protagonisten sich zurück zu sehnen scheinen in eine Zeit der Barbarei, in der erst Bücher verbrannt und dann Menschen ermordet worden sind. Und diese Verbrechen geschahen, angeführt von einem als Kunst-Maler gescheiterten Österreicher im Namen eines abendländischen Kultur-Volkes, das für zwölf Jahre vom Wahnsinn des Bösen befallen war. Es schüttelt ihn aber auch beim Gedanken daran, was der plötzliche Untergang der DDR im Leben vieler Menschen im wiedervereinten Deutschland ausgelöst hat und was sich im rechtsradikalen Denken der AFD auf so fatale Weise widerspiegelt. Die demokratischen Kräfte in Deutschland müssen hellwach bleiben und sich in keinen Winterschlaf flüchten...
Er geht weiter durch Hamburg und die Zeit geht mit ihm und grösser werden die Menschenmassen, die nun wie ein reissender Strom an ihm vorüber fluten: Männer, Frauen, Alte, Junge und Kinder hasten an ihm vorüber, eilen mit bleichen, leeren Gesichtern in den kümmerlichen Rest des Tages.
Sie alle empfangen Brosamen aus der weit geöffneten Hand des Schicksals. Oder ist es die gierige und so raffiniert ausgestreckte Hand des Kapitalismus, der mit seinem grellen Glitzern ebenfalls sein schlechtes Gewissen über die Ausbeutung der Menschheit mit Billigpreisen beruhigen möchte?
Alles um ihn herum wird lauter, die Gesetze der Stille werden gnadenlos ausgehebelt, wer schreit, der ist da, wer schweigt, der ist verloren. Oder umgekehrt.
Immer mehr gesichtslose Wesen, ihre hektischen Blicke nach unten auf die Erde gerichtet, überfluten nun kleine Nebengassen und die grossen Strassen, füllen Omnibusse und Strassenbahnen, sie stürzen sich kopfüber in molochartige U- und S- Bahnschächte, schlängeln sich raffiniert aneinander vorbei, jeder will zuerst an den gefüllten Trog, in dem sie ihr Glück suchen, sie alle stammeln vor Gier sinnlose Worte in die parfümierte Ladenluft, füllen ihre Taschen mit billigen Waren, gleich daneben zahlen einige wenige aus den besseren Kreisen in feinen, teuren Läden mit grossen Scheinen und wähnen sich im allergrössten Glück.
Edler, schöner, grösser, schicker noch als schick, doch vor allem teurer noch als teuer muss alles sein, wenn es gilt, sich abzuheben vom Lebensgefühl und vom Geschmack der primitiven Massen-und Konsum-Gesellschaft. Da muss also rasch ein Narrativ her: Und genau das ist die famos gestylte Visitenkarte einer moralisch total verwahrlosten neuen deutschen Gesellschaft, die keinen Geist aufzuweisen weiss, dafür sich aber auf Milliarden Euro auf vielen globalen Konten berufen kann.
Welch gigantischer Sieg und Triumph der unersättlichen Gier des Menschen, also über jeden Anstand, über alle Ehre und soziales Denken, über Verstehen und Verhalten, auch über alle Facetten abendländischer Kultur und zivilisatorischer Errungenschaften. Gibt es wirklich keine Alternative zu diesem Schreckens-Szenarium?
Die Antwort auf seine törichte Frage: Laute Männergespräche, nervige Bremsgeräusche von Autos und Omnibussen, Lachen, derbe Flüche in mehreren Sprachen. Alles um ihn herum ist auf fatale Weise multi-kulturell im Niemandsland geplatzter Träume und des Todes, die auf den Asphalt tropfenden Tränen der Gestrauchelten erstarren blitzschnell zu Eis.
Penetrante Gerüche von altem Fett und gegrillten Würstchen schleichen sich in seine sensible Nase, grelles Frauenlachen von irgendwoher, derbe Männerwitze übertönen die tausendstimmigen Geräusche dieses kalten Novemberabends, über den sich mittlerweile ein immer schwärzer werdender Himmel wölbt und gespenstige Schatten in die Seelen der Menschen und durch die Gassen jagt. Millionen herab gefallene Schneeflocken haben keine Chance, das schmutzige Braun und Schwarz auf den Strassen aufzuhellen.
Deutschland, so schallt und hallt es durch seinen Kopf: „Mir graut vor dir. Deutschland, du Schattenland, in dem geistige, ideologische Winzlinge versuchen, die Macht an sich zu reissen, um einen neuen Unrechtsstaat auf deutschem Boden zu errichten, mir graut vor dir“.
„Warum“, so tönt es weiter in ihm: „Du Land der Dichter und der Denker, was nur ist mit dir gescheh'n? Dein Gemüt ist krank, dein Geist noch kränker, Ach, Deutschland, wohin nur wirst du geh'n? Deutschland, ich darf es nicht verschweigen: Ich kann mit Hochachtung nicht mehr vor Dir verneigen. Deutschland, ich habe Angst um Dich und auch um mich“.
Doch rasch fort mit den unseligen Schatten der Erinnerungen an das, was ihm in seinem Leben selbst widerfahren ist und was er beim Studium der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 und zwischen 1949 und 1989 erfahren musste und irgendwann einmal auch begriffen hat.
Also hurtig hinweg mit allem Frust, mit den Enttäuschungen und mit der Trauer um den Verlust so mancher lichtvollen Hoffnung.
Ein Betrunkener torkelt an ihm vorüber und lallt selig vor sich hin. Oder in sich hinein.
Er schaut dem Manne nach und grosse Trauer schleicht sich in seine Seele. Der Betrunkene, auch er ein Opfer dieser Stadt, heraus gefallen aus Zeit und Raum, ausgespuckt, einfach in die Gosse gestossen, von allen Menschen vergessen und vom Schicksal verraten, einfach im Stich gelassen.
Was für ein in Schuld verstricktes Schicksal mag das sein?
Passanten bleiben stehen und lachen kalt, einige angewidert, andere einfach nur verlegen. Auch er wendet sich ab und geht weiter und sein Herz weint.
Eine grell geschminkte, nicht mehr ganz junge Hure lockt ihn mit hässlichen Bewegungen und mit vulgären Worten, verspricht ihm eine Nacht voller Liebe für nur 50 Euro, öffnet ihren Mantel und zeigt ihm ihre nackten, herunter hängenden, verschrumpelten Brüste. Es widert ihn an, es wird ihm übel.
Er geht weiter, beschleunigt seine Schritte und spürt, dass ihm diese Frau leid tut und Trauer in ihm auslöst. Sie ruft ihm mit kreischender Stimme nach: „Für dich mache ich es auch für dreissig Euro“.
Alles ist so unwirklich. Er kehrt zu der Frau zurück und gibt ihr 50 Euro, erklärt ihr, dass er keine Zeit habe für eine Liebesnacht mit ihr. Kleine Notlügen helfen über so manches hinweg. So hat er diese Frau nicht auch noch beleidigen müssen.
Zugleich fragt er sich, ob er sich nicht längst als Akteur in einem Film von Luis Bunuel befindet oder ob alles um ihn herum eine abstruse, grausame Wirklichkeit ist, die jede Szene in allen Bunuel-Filmen an düsterer Realität bei weitem noch übertrifft, alles also nur ein Traum ist?
Vielleicht ist das so.
Er kommt an einem Haus vorüber, in dem im Erdgeschoss ein Fenster krachend zugeschlagen wird, er zuckt zusammen. Eine keifende Alte (oder ist es eine junge Frau?) lärmt im Flur eines Mietshauses, dessen eingetretene Tür nur noch in den Angeln hängt und der kurze Weg dort hin ist voller Müll.
Ein Kind weint, er will die Strassenseite wechseln, Autobremsen quietschen hinter ihm. Er bekommt einen Schreck, dreht sich um und eine unangenehme, harte Männerstimme schreit: „Können sie nicht aufpassen, sie Idiot.“ Er entschuldige sich, der Mann fährt obszön fluchend davon.
Vor der Staatsoper sitzt ein zerlumpter Mann mittleren Alters, ein recht unbegabter Strassenmusikant. Er spielt schaurig, ganz schaurig auf dem Akkordeon „La Paloma“ und singt auch noch dazu mit einer röchelnden Stimme, die ihn glauben lässt, es belle ein Hund.
Und das vor dem Opernhaus.
Er wirft dem miserablen Musikus fünf Euro zu, geht weiter und schaut sich den hinter einer dicken Glasscheibe aufgehängten Spielplan an. Heute gibt es „Carmen“ mit Jonas Kaufmann als Don José.
„Carmen“, ja, das würde ihm gefallen, das könnte die Alternative zu diesem kalten Novemberabend sein.
Würde ihm die Geschichte von Leidenschaft, von Liebe und Tod zwischen Carmen und Don José in seinem jetzigen Gemütszustand wirklich gut tun, ist denn nicht bereits zu viel Tod in der realen Welt und in dieser Stadt?
Er begibt sich zur Abendkasse und kauft sich eine Karte im Parkett, achte Reihe. Bizets Musik, so glaubt er, wird seiner Seele vielleicht gut tun, auch wenn alles in dieser Oper so unendlich traurig schön ist und am Ende der Tod über Leidenschaft und über die Liebe triumphiert.
Der Akkordeon-Virtuose spielt nun „O sole mio.“ Es klingt noch scheusslicher als zuvor „La Paloma“.
Er gibt dem unmusikalischen Kerl nun zwanzig Euro und bittet ihn, sein „Konzert“ hier vor dem Opernhaus zu beenden und an einem anderen Platz fortzusetzen. Der Mann erklärt sich mit einem breiten, hässlichen Grinsen dazu bereit, wenn nochmals zehn Euro in seinem Hut landen. Und die fallen dann auch in seinen Hut.
Ja, warum nicht.
Er geht weiter, schaut auf seine Armbanduhr, es ist viertel vor Sieben, „Carmen“ beginnt erst um 19.30. Er hat also noch viel Zeit und geht daher weiter, biegt in den Gänsemarkt ein, bleibt vor dem Lessing-Denkmal stehen, denkt plötzlich an die Ringparabel aus „Nathan der Weise“ und ist erstaunt darüber, dass er diesen genialen Text nach 65 Jahren immer noch und nahezu vollständig aufsagen und in die gesichtslosen Gesichter der an ihm vorüber eilenden Menschen pusten kann.
An der nächsten Strassenecke hat sich eine kleine russische Blaskapelle niedergelassen und spielt „Eine kleine Nachtmusik“, die das Tor zur Heiligen Nacht öffnet. Es sind wohl Berufsmusiker, die sich etwas Westwährung dazu verdienen wollen. Ein jeder von ihnen ist ein Virtuose, es gibt also doch noch gute Musiker, auch oder gerade in Russland.
Ach ja – Weihnachten steht ja immer noch wartend vor der Tür.
Wieder einmal ein grosses heiliges Fest für ein ganzes Volk und wieder einmal für viele Tausende kein Fest, nur Qual, Einsamkeit. Todessehnsüchte und Sprünge von hohen Brücken irgendwo.
Eine alte, verhärmte Frau bietet ihm mit leiser Stimme einen Rosenstrauss in Cellophanpapier für zwölf Euro an, er kauft ihr den Strauss für zwanzig Euro ab, weiss nicht so recht, warum er das tut. Aber die Frau braucht das Geld.
Aus einer kleinen Nebenstrasse taucht ein Reiter auf einem etwas leicht gescheckten Schimmel auf. Wie ein Geist, wie Don Quichote, der sich in der Zeit verirrt hat und in Hamburg den Weg nach Spanien sucht. Ein Reiter inmitten der schattengleich dahin schleichenden Autolegionen, deren Motoren und Hupen an jeder Ampel brutal aufheulen.
Grossstadtmusik.
Es beginnt nun heftiger zu regnen, dazwischen vereinzelt immer noch Schneeflocken.
An einer Imbissstube verspeist er eine heisse Thüringer Bratwurst und trinkt ein kühles Bier dazu. Die Wurst ist scharf gewürzt und heiss, das Bier ist zu kalt und bitter. Wie die Luft. Aber es tut ihm gut. Die Verkäuferin lächelt ihn an. Sie ist schön. Zu schön für eine Wurstverkäuferin. Er schenkt ihr die Rosen.
„Für mich?“
„Ja, für Sie.“
„Danke, vielen Dank“ haucht sie ihm entgegen und wird dadurch noch schöner.
Polizeiwagen mit Sirenen und Blaulicht rasen plötzlich an der Imbissstube vorüber, gefolgt von drohenden Wasserwerfern und vollbesetzten Mannschaftswagen. Er kommt beim Zählen auf zwanzig Wagen.
„Wo fahren die hin“ fragt er die schöne Wurstverkäuferin.
„Die fahren zum Hauptbahnhof, da demonstrieren sie mal wieder und machen Randale“ antwortet die Verkäuferin.
„Wer demonstriert denn gegen wen und wer macht Randale?“ fragt er zurück.
„Na, die Glatzköpfe, die Stiefelnazis. Die protestieren gegen die Linken und die Linken demonstrieren gegen die Rechten, andere demonstrieren gegen Atomkraftwerke und andere für mehr Klimaschutz und dafür, keine Flüchtlinge mehr im Mittelmeer ertrinken zu lassen, andere wiederum fordern, überhaupt keine Migranten mehr in Deutschland aufzunehmen. Ein gewaltiges Durcheinander von Pro und Contra, unversöhnlich, gewaltbereit.
Er zahlt und geht weiter.
„Und die anständigen Deutschen protestieren gegen die Glatzköpfe“ ruft die Wurstverkäuferin ihm noch mit lauter Stimme nach.
Anständige Deutsche?
Wer sind sie, wo sind sie?
Er schaut sich suchend um, dann winkt er ein Taxi heran und steigt ein.
„Bitte zum Hauptbahnhof.“
„Geht nicht“ erwidert der Taxifahrer in gebrochenem Deutsch.
„Warum geht das nicht?“
„Da ist alles abgesperrt, da gibt es Randale.“
„Na, dann fahren sie bitte so nah wie möglich ran“.
„Wie Sie wollen“ sagt der Taxifahrer nicht gerade sehr freundlich, fährt etwa fünfhundert Meter weiter. Plötzlich biegen aus einer Seitenstrasse zwei drei Dutzend vermummte Gestalten in die Mönckebergstrasse ein, einige halten Eisenstangen und Ketten in den Händen, fuchteln damit wild in der Luft herum, schreien laut und kommen direkt auf das Taxi zu. Was sie da grölend von sich geben, das kann er nicht verstehen, es klingt nicht gut.
Der Taxifahrer hält abrupt und fordert ihn auf, sofort auszusteigen (was er auch tut), dann rast der Taxifahrer davon, ohne den Fahrpreis entgegen genommen zu haben.
Jetzt erst begreift er die Angst des Taxifahrers, wurde ihm doch erst jetzt klar, dass der Taxifahrer ein Farbiger war.
Die Vermummten nehmen jedoch von ihm keine Notiz, sie stürzen an ihm vorüber Richtung Hauptbahnhof.
Er will nun auch zum Hauptbahnhof gehen, da kommen etwa dreihundert Männer, Frauen und Jugendliche auf ihn zu. Er bekommt Angst, fühlt sich bedroht, schaut sich um, wohin er flüchten könnte, doch schon ist er umringt, eingekesselt.
Als sein Blick dann auf ein Transparent fällt, das einer der Demonstranten vor sich hin und her schwingt und auf dem er den mit roter Farbe geschriebenen Text „Tod dem Atomtod;“ „Stoppt die Geschäfte der Müll-Millionäre“ entdeckt, da atmet er erleichtert auf, nein, von diesen Demonstranten droht ihm gewiss keinerlei Gefahr.
Da fällt ihm ein, in den Fernsehnachrichten gehört zu haben, dass gerade in diesen Tagen mehrere Waggons mit Atommüll nachts durch Deutschland gekarrt werden. Nachts, wenn die Wachsamkeit nachgelassen hat, wenn die Deutschen fest schlafen, zumindest all jene, denen alles egal ist, sogar der Atomtod und das Wüten rechter Horden.
Und er entdeckt nun weitere Transparente, die von den Demonstranten hoch in den Abendhimmel gehalten werden, in einen Himmel, der sich überraschend leicht violett, fast rosarot, verfärbt hat über den Millionen Glitzerketten, deren bunte Lichter den nassen, kalten Strassen sogar etwas Märchenhaftes verleihen.
„Nazis raus, sagt Nein zur rechten Gewalt und zum Ausländer-Hass“ – so lauten die weiteren Texte auf den Transparenten.
Ja, das müssen gewiss die anständigen Deutschen sein. Er ist beruhigt. Ja, auch er hat Angst vor dem Atomtod und verurteilt jene, die Hass schüren auf Flüchtlinge und auf alles Fremde; ja, er verabscheut alle Menschen, die mit Gewalt die Demokratie zerstören wollen. Er hat also Gründe genug, um auf der Seite jener zu stehen, die für Frieden und Völkerverständigung kämpfen und jede Form von Gewalt ablehnen.
Und so reiht er sich spontan in die Menge ein und marschiert mit ihnen, nun auch ausrufend: „Sagt nein zu rechter Gewalt!“
Plötzlich tauchen aus einer Seitenstrasse etwa hundert schwarz vermummte Gestalten auf, auch hier ein jeder von ihnen bewaffnet mit langen Eisenstangen, Fahrradketten und anderen Prügelinstrumenten, offensichtlich bereit, alles nieder zu schlagen, was sich ihnen in den Weg stellen sollte.
Dann geht alles ganz rasch.
Gut dreihundert Polizisten in voller Montur waren aufmarschiert, stehen den Vermummten gegenüber, offensichtlich auf einen Befehl wartend. Die Staatsmacht kam mit dem Anspruch, von Beginn an Herr der Lage zu sein, sich das Heft nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Grau ist alle Theorie.
Urplötzlich und überall Chaos. Aus sämtlichen Seitenstrassen strömen Menschen aller ideologischen und politischen Fraktionen auf den Hauptbahnhof zu, ein jeder von ihnen stürzt sich auf einen seiner vermeintlichen Gegner. Die Menge zerteilt sich, löst sich in kleinere Gruppen auf. Die Eskalation nimmt ihren Lauf, die Polizei ist nicht mehr Herr der Lage.
Plötzlich brennen Autos, zwei junge Männer in durchlöcherten schwarzen Jeans, mit kahl geschorenen Köpfen und silbernen Ringen in den Ohren, werfen mit Pflastersteinen Schaufenster ein und plündern ungebremst die Auslagen einer Herrenboutique.
Nur wenige Schritte von ihm entfernt zündet eine junge Frau eine Fackel, schleudert sie, laut aufschreiend über die Köpfe der Demonstranten den anrückenden Polizisten entgegen. Es gibt einen lauten Knall. Dann totale Stille, begleitet von Schmerzensschreien.
Es war keine Fackel, es war ein Molotow-Coctail.
Wer warf ihn?
Waren es Rechte, Linke, Verblendete, militante Kurden oder Asylanten, Dummköpfe, professionelle Randalierer?
Pflastersteine, soeben aus der Strasse gerissen, fliegen durch die Luft, Gummiknüppel treffen Köpfe, Leiber, nach Schutz suchende Hände und weglaufende Beine.
Ein älterer Mann, vielleicht siebzig Jahre alt, nähert sich mit unsicheren Schritten einem Polizisten, will ihn offensichtlich etwas fragen. Vielleicht nach der Uhrzeit, nach dem Weg?
Er kommt nicht mehr dazu.
Der Gummiknüppel des Polizisten trifft ihn auf den Kopf. Lautlos sackt der alte Mann in sich zusammen, liegt merkwürdig verkrümmt auf der jetzt fast schon zugeschneiten Strasse, stark aus der rechten Schläfe blutend. So wie die Konturen in expressionistischen Bildern, so zerfliesst ein roter Faden auf weissen Untergrund des Rathausmarktes.
Blut, Blut eines alten, unschuldigen Mannes, der vielleicht nur erfahren wollte, was das alles zu bedeuten habe. Er will zu dem Mann gehen, um zu helfen, wird jedoch wie ein Blatt im Wind davon getragen von den an ihm vorüber laufenden Menschen.
Da sieht er, wie ein Vermummter einem Polizisten das Schutzschild mitsamt Helm entreisst, dessen Gesicht mit einer Eisenstange zertrümmert und dann laut lachend davon läuft.
Er kann es nicht fassen, wozu der Mensch in der Lage ist, nähert sich dem nun auf dem Boden liegenden Polizisten, kniet nieder, schaut in die weit aufgerissenen Augen des Polizisten, bemerkt, dass es ist ein junger Polizist ist, vielleicht gerade mal erst 20 Jahr alt, auf dessen demoliertem Gesicht panische Angst liegt, Blut sickert aus seinen Ohren, aus Nase, und Mund, aus dem, was einst Nase, Mund und ein Gesicht gewesen waren.
Er wischt mit seinem Taschentuch das Blut aus dem zerstörten Gesicht des jungen Polizisten. Der stöhnt, fragt, ob er sterben muss, verliert dann das Bewusstsein.
Ob Christus auch einmal so aussah?
„Warum hilfst du Schwein dem Bullen?“ hört er eine schrille, hysterische Frauenstimme hinter sich.
Er dreht sich zu der Stimme um und sagt: „Ja, er ist ein Polizist, aber er ist auch ein Mensch.“
Er hält noch immer die Hand des Polizisten, der nun wie tot vor ihm liegt. Dann saust etwas Hartes auf seinen Kopf. Er bekommt nicht mehr mit, dass der Schlag auf seinen Kopf von einem Polizisten gekommen war, der wohl glaubte, er hätte seinen Kollegen so zugerichtet. Irgendwann einmal kommt er in einem Unfallwagen wieder zu sich, spürt einen Verband um seinen Kopf. Ein Sanitäter fragt ihn, ob er in der Lage sei, sich allein nach Hause begeben zu können.
Er nickt, befühlt seinen Kopf, entdeckt Blut an seinen Händen und an seiner Kleidung.
Um ihn herum nur Blut, Schreie, sich immer noch prügelnde Männer und Frauen, brennende Autos, laut aufheulende Polizeisirenen, Ambulanzen, hin und her laufende Sanitäter auf der Suche nach Opfern, aufgerissene Strassenpflaster.
Ihm wird übel, schwindelig, hat Angst. Er geht zur Alster, setzt sich auf eine Bank, starrt ins schmutzige Wasser, Millionen Lichter spiegeln sich darin, tanzen wie kleine Kobolde auf der gläsernen schimmernden Oberfläche des Flusses.
Der Schneeregen wird stärker und spült das Blut von seinen Händen, nicht aber den Schmerz in seinem Kopf und auch nicht die grosse Trauer, die sich in ihm festgekrallt hat. Und wieder fragt er sich kurz, ob er das alles nur geträumt hat oder ob alles Wirklichkeit gewesen sei. Das Nebeneinander von bösem Traum und rauer Wirklichkeit erschreckt ihn.
Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, erhebt er sich und begibt sich auf den Weg zur Oper.
Die ihm entgegen kommenden Passanten, die ihn anstarren, als sei er ein Aussätziger, gleiten wie Strandgut an ihm vorüber. Er fügt sich willenlos, gedankenlos ein in diese gesichtslose Masse, er ist nun selbst Strandgut geworden im grossen Fluss des Lebens.
Obwohl noch immer leicht benommen, so ist er merkwürdigerweise hellwach, es entgeht ihm nichts. Er blickt in Gesichter, in denen kein Lächeln wahrzunehmen ist, überdeutlich gezeichnet von der Berührung roher Worte, Gesichter, die zu hässlichen, ihn angrinsenden Masken erstarrt sind, alles an ihnen ist gesichtslos, unheimlich.
Und er spürt es und sieht es schmerzhaft vor sich: „Es steigen die Kleinen hinauf auf den Thron und es stürzen hinunter die Grossen schon, es weinen die Dichter um ihr letztes Wort, dann verstummen sie und schleichen sich fort.“
Und auch er schleicht nun durch die Stadt und durch die kalte Nacht, torkelt an sich selbst vorüber und weit von sich fort. Er fürchtet sich vor dem Bild, das sich ihm jetzt entgegen stellt: „Aus der Dunkelheit kriechen die zivilisierten Barbaren und aus den Zuchthäusern entströmen die Mörder in Scharen, weit hallt der Schrei der lumpigen Massen, die alles zerstören, weil sie selber sich hassen, und die Liebe wird sterben im Schosse der Nacht, inmitten von Trümmern und Scherben“.
Und er befindet sich in der Mitte dieses Scherbenhaufens, ist den apokalyptischen Reitern ausgeliefert, vermag sie nicht daran zu hindern, ihren blutigen Todesritt und grausamen Vernichtungskrieg fortzusetzen, denn die Gewalt in den Strassen und der Terror in den Metropolen dieser Welt, all das ist in seinen Augen nichts anderes als ein gnadenloser Vernichtungskrieg gegen die gesamte Menschheit. Ausweglos scheint ihm plötzlich alles zu sein. Gross und panisch ist plötzlich auch die Angst in ihm, selbst einer von diesen apokalyptischen Reitern zu sein. Und so tönt es wieder laut in ihm: „Weit hallt der Schrei der lumpigen Massen, die alles zerstören, weil sie selber sich hassen. Und die Liebe wird sterben im Schosse der Nacht, inmitten von Trümmern und Scherben“.
Ja, die Liebe wird sterben im Schosse der Nacht, inmitten von Trümmern und Scherben.
Ist er der Apokalypse nicht gerade erst begegnet auf dem Weg zum Hauptbahnhof und wieder zurück?
Und er läuft doch bereits seit vielen Stunden über die vielen Scherben und durch die Trümmer seiner eigenen, längst verlorenen Träume, in denen es noch stets etwas Hoffnung gab.
Vorbei.
Wirklich alles vorbei?
Er versinkt in Anonymität, verirrt sich im Labyrinth der millionenfüssigen Stadt, er hört auf zu sein: „Das Leben ein Traum nur im Innern einer Stundenuhr, in der ich immer wieder suche nach einer Spur zu mir hin, immer noch hoffend, zu entschlüsseln dieses düst'ren Spieles Sinn, in dem ich da gefangen bin“. Die Welt ein Käfig, er ein Gefangener darin. Ein Trugbild nur?
Es ist kurz vor Mitternacht.
Die Wirklichkeit hat ihn zu sich zurückgeholt.
Er schaut auf seine Armbanduhr: Die Vorstellung in der Staatsoper ist natürlich längst beendet und Carmen ist auch schon mehrere Stunden tot. Er zerreisst die Eintrittskarte: „Carmen, lebe wohl, vielleicht war ich es und nicht Don José, der dir die Rose zuwarf, die dir den Tod brachte“.
Es ist nun sehr kalt geworden und er friert, will nur noch und ganz rasch in sein kleines Hotel, um dort nach Schlaf zu suchen und nach schönen Träumen, um diesen Novemberabend in Deutschland zu vergessen.
Ob ihm das gelingen wird?
Er weiss nicht warum, aber plötzlich sieht er das zerfurchte Antlitz des aus dem Leben gefallenen Mannes vor sich, der sich in einer kalten Toreinfahrt ein Nachtlager aus Kartons gebaut hat. Ob er selig und betrunken eingeschlafen ist und ebenso nach Schlaf sucht wie er jetzt und wie wird sein Erwachen am nächsten Morgen sein?