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Eine Reise in das Herz der Zukunft

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Wenn aus drei Wochen Ferien in der Schweiz sechs Jahre werden Eine Reise in das Herz der Zukunft

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Prosa

Wenn mich mein Schweizer Freund und Kommilitone Pascal im Juli 1963 nicht überraschend eingeladen hätte, mit ihm von Berlin aus mit seinem Motorrad nach Lausanne zu fahren, dann wäre ich ganz gewiss in Berlin geblieben, um dort mein angefangenes Kunststudium fortzusetzen und mein Leben wäre überhaupt in eine völlig andere Spur gekommen.

Lausanne, Rue du Grand-Chêne, 1960.
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Lausanne, Rue du Grand-Chêne, 1960. Foto: FOTO:FORTEPAN - Dobóczi Zsolt (CC BY-SA 3.0 cropped)

Datum 14. März 2021
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Lesezeit77 min.
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Mon Dieu, wie aufregend das Leben doch immer wieder sein kann. Aber ich blieb nicht in Berlin.

Nachdem wir vereinbart hatten, dass ich die auf der Reise anfallenden Kosten übernehmen werde, dafür aber gratis drei Wochen im Hause seiner Eltern wohnen dürfte, während er nach Korsika fährt, um sich dort mit seiner Freundin zu treffen, verliessen wir also Berlin (er als Fahrer, ich als Sozius) und fuhren frohen Mutes nach Lausanne. Doch jeglicher „frohe Mut“ entwich früher als gedacht aus mir, das Schicksal hatte offensichtlich etwas anderes mit mir vor.

Als wir nach zweitägiger recht mühsamer Fahrt todmüde und hungrig spät am Abend in Pascals schöner Heimatstadt angekommen waren, geschah etwas Unglaubliches, etwas, womit ich nicht gerechnet hatte und das wie ein tödlicher Blitz aus dunklem Nachthimmel in mein junges Leben einschlug: Die Eltern meines Freundes erklärten mir in einer mich schockierenden Direktheit, dass sie Deutsche nicht mögen, ich aus diesem Grund also auch nur eine Nacht unter dem Dach ihres Hauses bleiben dürfe und auf jeden Fall am nächsten Morgen das Haus zu verlassen habe.

Ich erschrak zu Tode, als ich diese eiskalten Worte hörte, die sich wie scharfe Messerspitzen in mein damals noch heftig pochendes deutsches Herz bohrten. Mehrere Sekunden lang (die mir wie eine Ewigkeit vorkamen) glaubte ich mich gefangen in einem bösen Traum. Doch es war kein Traum, nein, es war nackte, bitterböse Wirklichkeit im Jahre 1963 an einem warmen späten Juliabend in Lausanne. Ich vermute, dass Pascal seinen Eltern vielleicht gar nicht gesagt hatte, dass er mit einem deutschen Freund kommen wird. Aber was können Kinder für den Charakter und für das mitunter unverständliche Verhalten ihrer Eltern in schicksalhaften Situationen und ungewöhnlichen Konstellationen? Nichts, zumeist gar nichts, vielleicht aber doch ein ganz klein wenig?

Ich verliess also am nächsten Morgen nach schlafloser Nacht müde und verschreckt (und ohne Frühstück) das in einem grossen blumenreichen Garten gelegene schöne, doch so ungastliche Lausanner Haus, dessen Bewohner Deutsche nicht mochten und offensichtlich so sehr hassten, dass sie sogar die einfachsten Regeln der Gastfreundschaft und eines abendländischen zivilisierten Benehmens auf so grobe Art und Weise missachteten. Und ich fragte mich, wie sich das miteinander vereinbaren lässt: ein so schönes Haus und ein so unfreundlicher, ein so böser, ein mir so fremder Geist darin. Bestürzt fragte ich mich natürlich auch, was ich den Eltern meines Freundes getan, was ich ihnen persönlich angetan haben könnte.

Nichts, aber auch gar nichts hatte ich, Axel Michael Sallowsky, diesen mir unbekannten Menschen an Leid, an Enttäuschung, an Schmerzen und Kummer zugefügt. Ich war mir keiner Schuld bewusst, hatte es doch bisher und auch nachweisbar nicht die geringsten Berührungspunkte zwischen den Eltern meines Freundes Pascal und mir gegeben. Und so fiel es mir daher auch sehr schwer, diese für mich völlig absurde Situation so recht zu begreifen. Aber merkwürdigerweise (rational für mich absolut nicht nachvollziehbar) fühlte ich mich überraschend dennoch für einen Augenblick so, als hätte ich dieser mir unbekannten Familie tatsächlich etwas Schreckliches angetan und dadurch schuldig gemacht, ohne zu wissen, um welche Art Schuld es sich hier handeln könnte. In meinem Kopfe rumorte es: Ja, worin oder woraus konnte meine eventuelle Schuld bestehen, warum mochten die Eltern meines Freundes Deutsche nicht, was hatte das alles überhaupt mit mir zu tun?

Ich fand zunächst keine Antworten auf diese mich bedrückenden Fragen, zumal ich auch keine Chance hatte, die Eltern selbst nach den Motiven ihres Verhaltens mir gegenüber zu befragen, da sie (nach flüchtiger Begrüssung am Abend unserer Ankunft) es ablehnten, mit mir zu sprechen. Natürlich wusste ich, dass der 2. Weltkrieg und die unfassbaren Greueltaten der SS und der deutschen Wehrmacht in ganz Europa, jedoch nicht auf dem Territorium der Schweiz stattgefunden hatten. Was also könnte der Grund für das feindselige Verhalten der Eltern mir gegenüber nur gewesen sein? Ich stand vor einem Rätsel.

Dann aber kam ich (zu meiner grossen Erleichterung) zu dem Schluss, dass das abstruse Verhalten der Eltern mir gegenüber keineswegs etwas mit meiner Person selbst zu tun haben musste, sondern sich möglicherweise aus der unseligen, zwölf Jahre währenden Geschichte Nazideutschlands erklären liess, dass es die zu erwartenden heftigen Nachwehen der von unseren Vätern begangenen Verbrechen waren, begangen an der gesamten Menschheit (vielleicht also auch an den Eltern meines Freundes Pascal?), was ich im Juli des Jahres 1963, achtzehn Jahre nach Kriegsende, erstmals und völlig unerwartet am eigenen Leibe auf so schmerzhafte Weise in einem schönen Schweizer Haus zu spüren bekam.

Ob die Deutschen tatsächlich und was genau sie den Eltern meines Freundes jemals angetan haben, woher ihre Ablehnung gegen und ihr Hass auf Deutsche kommen könnte, all das erfuhr ich nie. Aber hätten sie, wenn sie Fragen meinerseits schon nicht zuliessen, ja, hätten sie dann nicht zumindest ein ganz klein wenig nur höflich und gastfreundlich zu mir sein können, ich war doch schliesslich der Freund ihres einzigen Sohnes und erst 24 Jahre alt?

Mit derart mich quälenden Gedanken und verletzten Gefühlen verliess ich also nach schlafloser Nacht am nächsten Morgen das von Aussen sich prächtig zeigende Haus, in dem ich als Gast und als Deutscher nicht willkommen war. Dieses völlig unerwartete Erlebnis machte mich traurig. Doch als sich die Tür zu diesem Haus, in dem ich nicht willkommen war, gerade hinter mir geschlossen hatte, da gelang mir das Kunststück, mich selbst von aller mir in die Schuhe geschobenen Schuld nach 1945 frei zu sprechen. Nennt man einen solchen Vorgang nicht „seelische Selbstreinigung“, die ein jeder vornehmen kann und vornehmen muss, der genau weiss, dass er keine Schuld auf sich geladen hat, obwohl er dessen beschuldigt wird?

Meinem Freund Pascal (dem ich nicht böse war) bin ich nie wieder begegnet, nicht weil ich es nicht wollte, nein, es ergab sich nicht, denn nach meinem Abgang aus seinem Elternhaus führte mich mein Lebensweg auf eine lange Reise und direkt ins Herz einer aufregenden Zukunft, doch nicht mehr zurück nach Berlin, wo ich ihm vielleicht nochmals hätte begegnen können.

Da es ein herrlicher, heisser Sommertag war, ging ich mit meinem kleinen, uralten braunen Lederkoffer schnurstracks an den Genfer See hinunter, um mir nach diesem unfreiwilligen Wechselbad der Gefühle dennoch einen schönen und vielleicht sogar sorglosen Bade-und Sonnentag zu gönnen, bevor ich dann unter Einschaltung meiner Vernunft beschliessen wollte, was ich nun zu tun habe. Da ich in Lausanne keinen Menschen kannte, stand für mich fest, so rasch wie möglich die Heimreise nach Berlin anzutreten, um mein dort bereits begonnenes Kunststudium fortzusetzen.

Doch es drängte mich erst einmal heftig ans Ufer des von vielen Sonnenanbetern und Badegästen bevölkerten Genfer Sees, fand dort rasch ein freies Liegeplätzchen und ab ging es beherzt ins kühle Wasser, nur von einem einzigen Gedanken getrieben, auch noch die letzte Erinnerung an die so plötzlich über mich herein stürzenden Szenen rasch weg zu spülen, ins Vergessen abzutauchen, sich kräftig schütteln, nochmals über alles nachdenken und vielleicht begreifen, was mir da passiert war. Danach galt es dann zu handeln.

Diese Reihenfolge meines notwendigen Reagierens schien mir schlüssig und überaus vernünftig zu sein. Daher schwamm ich also erst einmal (innerlich Luft holend, mir Ruhe verordnend) weit hinaus auf den spiegelglatten See, so wie ich es seit meiner Kindheit auf der Insel Rügen immer und dann auch später stets getan habe, sobald ich ein Gewässer erblickte oder am Ufer eines Meeres stand (schliesslich bin ich im Zeichen des Fisches geboren und an der Ostsee aufgewachsen). Seit meinem dritten Lebensjahr war ich mit dieser bisweilen recht launischen Ostsee auf du und du, erlernte das Schwimmen im Alter von knapp vier Jahren, schwamm danach bereits mehrere hundert Meter und bisweilen noch viel weiter auf die Ostsee hinaus, Angst nicht kennend, da mir alles so vertraut war und absolut ungefährlich vor kam.

Die Erinnerung daran jagt mir bisweilen aber auch heute noch einen Schrecken ein, waren wir Kinder damals doch stets allein am Strand, so dass uns kein Erwachsener hätte retten können, wenn jemals eines von uns Kindern in Lebensgefahr geraten wäre. Ob ich vielleicht daraus gelernt und deshalb beschlossen hatte, meine kleine Tochter Larissa vierzig Jahre später am Ostseestrand in der Nähe von Grömitz auch nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen?

Bevor ich allerdings „richtig schwimmen“ konnte, tat ich zuvor das, was auch alle anderen Kinder im Dorf bereits seit Generationen zu tun pflegten: wir gingen soweit ins Meer hinein, bis von uns nur noch Kopf, Hals und Brust aus dem Wasser ragten. Dann duckten wir uns ein wenig, bis nur noch unser Kopf allein vom Ufer aus zu sehen war und bewegten die Arme unter Wasser wie ein richtiger Schwimmer, gingen dabei jedoch auf unseren Füssen über den sandigen Meeresgrund, so dass Fremde am Ufer glauben mussten, dass wir tatsächlich schwimmen. Ich vermag mir heute zwar nicht mehr so recht vorzustellen, warum wir Kinder uns über diese Täuschungsmanöver so sehr freuten, aber wir waren selig bei dem Gedanken, dass andere glauben mussten, dass wir Knirpse wirklich schon schwimmen können.

Dieses Spielchen trieb ich bis zu jenem Tag, an dem ich allein mit vier kleinen Hündchen aus der Skye-Terrier-Zucht meiner Mutter wieder einmal an den Weststrand gegangen war, damit sich die kleinen Vierbeiner dort im Sand und im flachen Wasser amüsieren konnten. Als zwei der süssen Hundebabies plötzlich jedoch einige Meter zu weit hinaus geschwommen waren und ich bereits fürchtete, dass sie in Lebensgefahr geraten und ertrinken könnten, da ging ich, wie sonst auch immer in der gewohnten Duck-und Schwimmhaltung den Hündchen nach, um sie zu retten. Als ich sie erreicht hatte und packen wollte, da entdeckte ich zu meinem grossen Erstaunen, dass ich keinen Grund mehr unter den Füssen spürte. Zunächst erschrak ich zu Tode, Angst fuhr in alle meine Glieder, Panik kroch kurz in meinen Kopf, dann aber strömte ein grosses Glücksgefühl in mich hinein, denn nun konnte ich, jeder Zweifel entwich aus mir, wirklich richtig schwimmen.

Aber nicht allen Dorfkindern gelang dieses Schwimm-Kunststück und so erklärt sich auch, warum die meisten alteingesessenen Fischer in Thiessow (und gewiss auch in all den anderen Dörfern auf Rügen) bis an ihr Lebensende nicht schwimmen konnten. Was sie aber nicht daran hinderte, auch bei stärkstem Unwetter auf's Meer hinaus zu rudern, um einen plötzlich in Seenot geratenen Kollegen zu retten. Sie fuhren ohne Rettungsringe los, kannten keine Todesängste, riefen keine Götter um Beistand an, sie vertrauten allein ihrer körperlichen Kraft. Ich erinnere mich, dass es während meiner Kindheit in Thiessow mehrfach zu sehr dramatischen Rettungsaktionen gekommen war, stets mit glücklichem Ausgang. Keine Ehefrau musste den Tod ihres Mannes und auch keine Mutter den Tod ihres Sohnes beweinen.

Doch nun rasch wieder zurück an den Strand des Genfer Sees im Juli des Jahres 1963 in Lausanne. Und wieder tauchte, mittlerweile zu meinem „ständigen Begleiter“ avanciert, das Wörtchen „wenn“ auf, dieses Mal allerdings und zunächst nicht zu meinen Gunsten: denn wenn ich an diesem herrlichen Sonnentag, der für mich so düster begonnen hatte und dann plötzlich doch noch zu strahlen begann, ja, wenn ich an diesem Tag nicht so weit auf den spiegelglatten See hinaus geschwommen wäre, dann hätte es mir vielleicht gerade noch gelingen können, den Mann zu erwischen, den ich aus der Ferne dabei beobachtete, wie er sich dreist an meinem alten, ledernen Köfferchen zu schaffen machte. Ich war damals ein sehr guter Schwimmer, kraulte mit Riesenstössen gen Ufer. Doch vergebens, ich kam zu spät an den Ort des Verbrechens, ich konnte den niederträchtigen Dieb nicht mehr fassen, der war längst enteilt. Und mit ihm die noch übrig gebliebenen 150 deutsche Mark, die mir meine Tanten für die Reise nach Lausanne geschenkt hatten (das war im Jahre 1963 für einen Studenten viel Geld).

Die lederne, mittlerweile etwas zerfledderte Brieftasche, die mir mein Grossvater einst geschenkt hatte und in der sich mein Reisegeld befunden hatte, an der schien der ruchlose Dieb nach Entnahme des Geldes kein Interesse gehabt zu haben, also hatte er sie zurück gelassen. Dafür musste ich dem Dieb, obwohl ich ihn verfluchte, eigentlich Dank sagen, befanden sich in dieser Brieftasche doch auch ein halbes Dutzend Fotographien, auf denen meine Grosseltern als Brautpaar um 1890 und meine Mutter so um 1918 als fünfjähriges Kind zu sehen waren, zwar bereits damals etwas vergilbte Fotos, die ich aber heute noch besitze und die ich hüte wie einen Schatz. Noch schlimmer und verhängnisvoller für mich war es, dass der schändliche Dieb auch meinen Reisepass mitgenommen hatte. Das war eine Katastrophe: Adieu Geld, Adieu Ausweis, Adieu Ferien in Lausanne, Adieu Hoffnung, Adieu Schweiz. Das Leben, wohin wollte es mich führen?

Ja, da stand ich nun, böse auf den Dieb, böse zugleich aber auch auf mich, weil ich so leichtfertig und unvernünftig gewesen war, mich zu weit von meinem Köfferchen entfernt zu haben, böse auf Gott, weil er den Dieb begünstigt und mich im Stich gelassen hatte. Ich war damals kein „gläubiger Mensch“, lebte ich doch bis 1955 in der DDR, in der es ausser den Partei-Göttern keinen anderen Gott zu geben hatte. Aber ich hatte Vertrauen zu den Menschen und zum Leben, das mir bis dahin so wohl gesonnen war. Ja, da stand ich nun, immer noch fassungslos, 24 Jahre alt, dem Heulen nahe, denn eine solche Erfahrung hatte ich bisher nicht machen müssen. Doch mannhaft versagte ich mir alles Weinen, Jammern und Klagen, obwohl ich wahrlich Gründe genug gehabt hätte, mit mir und mit meinem Schicksal zu hadern. Was nun tun? Es war ein Viertel vor 13.00 Uhr, meine Armbanduhr hatte der Dieb glücklicherweise nicht gefunden, wahrscheinlich hatte er diese in der Eile übersehen oder sie für wertlos gehalten (was sie auch war). Es war also Mittagszeit, was ich am lauten Brummeln in meinem Bauch und am heftigen Knurren in meiner Magengegend nur allzu deutlich spürte, zumal (wie bereits erwähnt) die unfreundlichen Eltern meines Freundes mir auch kein Frühstück angeboten hatten. In meinem wirren Kopf arbeitete es fieberhaft, ein Gedanke jagte den anderen, es musste etwas geschehen.

Aber was?

Zur Polizei gehen und den Diebstahl melden? Es wäre doch gewiss das Vernünftigste in meiner so überaus heiklen und mit vielen Fragezeichen versehenen Situation gewesen. Meine Vernunft schien mich aber kurzfristig verlassen zu haben, vielleicht auch nur der Mut und damit jede Phantasie und Entschlusskraft. Zur Polizei, sagte ich mir, kann ich ja auch noch später gehen.

Es arbeitete weiter in meinem Kopf, meine zugleich mit der Vernunft entschwundene Phantasie machte sich plötzlich wieder bemerkbar und entführte mich aus der bedrückenden Wirklichkeit einer noch nie erlebten Situation: Wie wäre es, so dachte ich und eine Stimme in mir schien mich dabei auch noch zu ermutigen, ja, wie wäre es, wenn ich zum Beispiel ein vornehmes Restaurant mit Seeblick betreten würde, an einem gedeckten Tisch Platz nehmen, höflich um die Speisekarte bitten, sich einen Wein der Region empfehlen lassen, sich ein köstliches Menu aussuchen, sich dabei viel Zeit lassen, Ruhe, Ruhe, nur Ruhe bewahren, selbstsicher auftreten, der freundlichen Weinempfehlung des Obers unbedingt folgen, mit Genuss und Bedacht die Vorspeise und das nachfolgende Hauptgericht verzehren, dann den Käse und zum krönenden Abschluss ein Dessert, schliesslich den obligatorischen Kaffee und vielleicht noch einen Kaffee…

Ja, so etwa könnte es sich abspielen. Grau allerdings ist alle Theorie, bunt hingegen aber sind die Hoffnung und alle Träume, auf dass sie sich glanzvoll erfüllen oder wie ein Luftballon laut platzen mögen. Ich setzte auf den Erfolg und darauf, dass aus dem Traum kein Albtraum werden möge. Also Vorhang auf zum ersten Akt in einem Drama mit ungewissem Ausgang. Und ich betrat dann tatsächlich hoch erhobenen Hauptes ein sehr, ein sehr vornehmes Restaurant mit Seeblick, setzte mich an den einzigen noch freien und edel gedeckten Zweiertisch und die Vorstellung, ja, sie konnte beginnen.

Der Dramaturgie meines jetzt begonnenen Auftritts lag kein fertiges Drehbuch zugrunde, nein, alles war reinste Improvisation, gezeugt und geboren im Augenblick höchster Not und Verzweiflung, verbunden mit der ganz leisen Hoffnung, es möge sich ein Wunder ereignen. Ob ich es nun wollte oder nicht: ehe ich mich versah, da hatte mir das Schicksal bereits die imaginäre Rolle und das Schicksal eines Menschen übergestülpt, der erstmals in seinem Leben gezwungen wird, gegen seinen Willen über ein hochgepanntes Drahtseil von Dach zu Dach zu balancieren, ohne diese gefährliche, stets den Tod heraus fordernde Kunst auf dem Seil jemals erlernt und dann ausprobiert zu haben.

Da zeigte sich plötzlich ein mich quälendes Bild vor meinen Augen, es war der nicht herbeigesehnte „Blick hinter die Dinge“ einer mir unbekannten Welt: unter mir nichts als tiefster Abgrund und Tausende runde Menschenköpfe mit weit aufgerissenen Augen und mit schäumenden Mäulern, aus denen hässliche Laute sich einen Weg bahnten zu mir nach oben auf dem Seil, es waren verzerrte Stimmen, die sich grölend meinen Absturz wünschten, ich sollte geopfert werden. Es gab kein Netz zum Auffangen im Falle eines auch nur kleinen Fehltritts. War ich angetreten, um mein junges Leben auf so unwürdige Weise zu verlieren und mich ins Verderben zu stürzen? Wahrscheinlich war es mein vor Hunger grummelnder Bauch, der mir, meine Vernunft ignorierend, dieses schreckliche Szenarium fast schon sadistisch in mein erhitztes Bewusstsein projizierte und mich zwang, genau das zu tun, was mir da so frevelhaft in den Sinn gekommen war, nämlich ein Restaurant aufzusuchen.

Was ich dann auch tat.

Ein in edles Schwarz und Weiss gekleideter älterer Ober kam an meinen Tisch, warf mir zunächst einen auffallend kritischen Blick zu, gerade so, als wolle er mit Hilfe seiner in vielen Jahren erworbenen Menschenkenntnis erst einmal herausfinden, ob sich ein so junger Mann (und das war ich damals ja) eine Mahlzeit in diesem edlen Etablissement überhaupt leisten könne. Er muss offensichtlich zu einem positiven Eindruck meiner Erscheinung gelangt sein, überreichte er mir doch mit einem freundlichen Lächeln die Speisekarte (eingefasst in einen edlen weinroten Ledereinband) und fragte mich, zunächst auf Französisch, dann (als er bemerkte, dass ich diese Sprache nicht spreche) auf Deutsch, ob ich denn geneigt sei (ja, so sprach man damals), bereits ein Getränk bestellen zu wollen. Natürlich war ich geneigt.

„Aber ja“, erwiderte ich daher ebenso freundlich, „welchen Wein würden Sie mir denn empfehlen?“

„Einen Fendant natürlich, einen von hier!“.

Ich tat so, dabei den vornehmen Ober wie ein zwar noch sehr junger, aber deshalb nicht weniger weltgewandter Reisender anschauend, als würde ich diesen Wein selbstverständlich kennen und schätzen und bestellte keck und selbstbewusst kein Glas, sondern gleich eine Flasche Fendant mit der Bemerkung: „Dieser Wein ist in der Tat einfach göttlich, sich ihm zu verweigern, das wäre Sünde!“. Ich war erstaunt, wie leicht mir diese noch nie zuvor gesprochenen Worte über die Lippen hüpften. Habe ich wegen dieser sich plötzlich in mir gerade in diesem Augenblick kurz aufblitzenden Begabung nicht einige Jahre später einmal sogar Schauspieler werden wollen, damals allerdings nicht ahnend, dass ich eines Tages tatsächlich am Theater landen sollte?

Wie auch immer. Mir schien, als hätte ich den Ober mit meiner so positiven Einschätzung des von ihm mir wärmstens empfohlenen Weines tief beeindruckt, jedenfalls eilte er auffallend beschwingt ins Innere des feinen Lausanner Etablissements, dabei „Va, pensiero, sull' ali dorate“ aus Verdis „Nabucco“ leise vor sich hin summend. Ich war auf eine befremdliche Weise glücklich. War das ein gutes oder war es ein schlechtes Zeichen? Nach dem aufmerksamen Studium der prächtigen Speisekarte entschied ich mich schliesslich für Fisch, für gebratenen Egli in einer göttlichen Senf-Sahne-Sosse, umringt von kleinen, feinen in Butter gedünsteten Kartoffeln, dazu gesellte sich junger, zartgrüner Blatt-Salat. Der Egli war in der Tat himmlisch. Ich speiste mit allergrösstem Genuss und mit ebenso grosser Bedachtsamkeit, liess mir unendlich viel Zeit, führte jeden einzelnen Bissen fast schon im Zeitlupentempo in meinen Mund, trank auch den Wein in kleinen Schlucken, um sowohl den Genuss als auch das Präsentieren der Rechnung recht lange hinaus zu zögern.

Wenn ich heute daran denke, wie ich das damals, 24 Jahre alt, keinen Pfennig in der Tasche, ohne Ausweis und auch noch in einem fremden Land „über die Bühne“ gezogen habe, dann erschrecke ich noch nachträglich, dann staune ich immer wieder darüber, dass und wie ich das alles nervlich überhaupt durchzustehen in der Lage war, denn eines war mir von Anbeginn klar: Ich werde vielleicht speisen wie einst nur die Könige in Frankreich von damals und wie die Reichen von heute in Lausanne und überall dort, wo der Wohlstand blüht, werde die kulinarische Prozedur so lange wie nur möglich in die Länge ziehen, bis, ja bis …

Als ich dann schliesslich auch den letzten Käsehappen und das letzte kleine Stückchen Weissbrot verzehrt und das Dessert (frische und feinste Himbeeren aus der Region mit heisser Vanillesosse) genüsslich verzehrt hatte, da wurde es mir nun doch so langsam recht mulmig ums Herz, wozu gewiss auch das Leeren einer Flasche Wein beigetragen hatte, war ich es damals doch noch nicht gewohnt, bereits zum Mittagessen Wein zu trinken, schon gar nicht eine ganze Flasche. Mittlerweile war es fast 15.00 Uhr, ausser mir befanden sich jetzt nur noch acht Gäste auf der von der Mittagssonne überfluteten Seeterrasse: fünf recht hübsche ältere Damen, die mehrere Male ihre Gespräche unterbrachen, um mir, so jedenfalls glaubte ich es wahrzunehmen, einen sehr freundlichen, ebenso koketten wie auch etwas verschämten Blick zuzuwerfen, eine jede von ihnen nach neuester Mode recht vornehm gekleidet, mit pompösen goldenen Ringen an feinen Fingern, mit in der Sonne glitzerndem Schmuck aus Gold und Silber und mit grossen weissen, in der Mittagssonne leuchtenden Perlen in Fülle behangen, an einem anderen Tisch hatten drei sehr noble Herren ihre opulente Mahlzeit gerade wort-und gestenreich beendet und mit auffallend grossen Scheinen ihre gewiss recht hohen Rechnungen beglichen.

Keiner dieser in meinen Augen vielleicht glücklichen Menschen schien Geldprobleme zu kennen, sie alle verströmten fast schon provozierend einen Geruch von herzlosem Reichtum und diabolischer Sorglosigkeit. Während mir diese nicht gerade sehr freundlichen Gedanken durch den Kopf gingen, schämte ich mich zugleich dafür, so abfällig über die hübschen und mir unbekannten Damen und über die vornehmen Herren gedacht zu haben.

Ich spielte dann kurz mit dem absonderlichen Gedanken, einem dieser noblen Gäste meine prekäre Lage in aller Aufrichtigkeit zu schildern, getragen von der ganz leisen Hoffnung, erhört, verstanden und vielleicht sogar gerettet zu werden, möglicherweise hätte einer oder eine von ihnen wider Erwarten ja doch ein mitfühlendes Herz und eine Prise Verständnis für meine gewiss nicht ganz normale Situation. Rasch glaubte ich dann aber zu spüren: Sie trugen zwar alle strahlendes Gold an den vielleicht längst rheumatischen Fingern, am noch fast faltenlosen Hals und über dem hochgewölbten Busen, doch keiner und keine sah danach aus, als hätten sie auch noch ein Herz aus Gold hinter jenem irdischen Gold, das seit uralten Zeiten in allen Menschen immer wieder ein so immenses Begehren auslöst. Nein, nein, bei diesen glitzernden Damen und würdig drein schauenden Herren mit den grausilbrigen Schläfen aus der wahrscheinlich allerfeinsten Lausanner Gesellschaft nachzufragen und Rettung zu erwarten, ich verscheuchte diesen törichten Gedanken blitzschnell wieder aus mir, vielleicht fehlte mir aber auch nur der Mut, diese noblen Herrschaften anzusprechen.

Als ich schliesslich bereits den dritten Kaffee bestellt und dann auch noch um einen vierten gebeten hatte (nun war ich tatsächlich der letzte Gast, der Zeiger der Uhr bewegte sich in Richtung 15.30 Uhr), da sah ich so langsam und ganz brutal den eisernen Vorhang fallen über meine improvisierte Gala-Vorstellung auf der schönen Terrasse dieses edlen Lausanner Seerestaurants. Nun war es nur noch eine Frage von Minuten oder Sekunden gar, bis mir der freundliche Ober die Rechnung für meine „Henkersmahlzeit“ präsentieren wird, bis ich kleinlaut Farbe bekennen musste: Kein Geld, keinen Pass vorweisend, also keine glaubhafte nationale Identität beweisen könnend und dann auch noch keck als Zechpreller auftreten, das konnte doch nicht gut (aus)gehen, der grosse Knall, er wird, er musste kommen, das war mir völlig klar.

Ich überlegte plötzlich, ob mich ein ehrlich gesprochenes Gebet vielleicht retten würde. Doch zugleich fragte ich mich: Warum sollte Gott ausgerechnet einem Atheisten Glauben schenken und Hilfe gewähren und ihn aus einer Situation retten, die er sich selbst eingebrockt hat? Nein, nein und wieder nein, solche Götter gibt es nicht. Also blieb ich mir treu und faltete nicht die Hände zum Gebet. Die psychische Spannung in mir war plötzlich kaum noch zu ertragen, sie wuchs von Sekunde zu Sekunde, mein Herz pochte laut, mein Puls raste immer schneller und übertönte alle irdischen Geräusche um mich her, Schweiss rann heiss und kalt zugleich aus all meinen erregten Poren.

Ich wusste bis zu diesem Augenblick nicht, was von Aussen nach Innen hinein strömende Ängste, was Peinlichkeit und was Erniedrigung in einem Menschen auslösen können. Während ich mir, dabei immer unruhiger werdend, selbstquälerisch ausmalte, was da jetzt gleich geschehen wird, geschehen muss, wie unangenehm mir alles sein wird, wenn die Schweizer Polizei erscheint, mich in Handschellen wie einen Schwerverbrecher abführt durch ein Spalier von höhnisch lachenden und gaffenden Neugierigen, wenn ich bei Brot und Wasser in eine kalte, dunkle Zelle gesperrt werde, wie ein Lausanner Richter keine Gnade kennt und nach kurzem Prozess mit harten Worten das Urteil „Lebenslänglich“ verkündet, vom Publikum im Gerichtssaal frenetisch bejubelt, da kam überraschenderweise eine seltsame Ruhe über mich, eine unheimliche Ruhe sogar, die mich ängstigte, mich fast erschauern liess: Ich stand plötzlich voller Neugier, wie ein Voyeur, wie ein anderer Mensch, wie ein Fremder neben mir, hörte und schaute überrascht und amüsiert zu, wie ich (war es vielleicht mein zweites ICH?) eiskalt, aufmerksam und auch mit sich steigerndem diabolischen Genuss das Verhalten meines ersten ICH's aufmerksam beobachtet, gar nicht mehr abwarten kann, sich zu berauschen an dem, was sich da gleich abspielen wird, wenn erst einmal die Bombe explodiert und wenn von dem, der ich gerade eben noch gewesen bin, dann nichts mehr übrig ist, ein grässlicher Gedanke, es fröstelte mich.

Doch ebenso plötzlich war ich dann wieder der, den ich zuvor als einen anderen mit grossem Interesse und kalten Gefühlen beobachtet hatte. Und da wusste ich dann auch nicht mehr so recht, ob ich das wirklich bin oder ob es tatsächlich ein anderer, ein mir unbekannter Mensch gewesen war, dem ich da unverhofft gegenüber gesessen habe. Wie auch immer: Gleich, in ein paar Sekunden schon, da musste es nun endgültig zum grossen Knall kommen, zum Ur-Knall mit schaurigem Ausgang, mein künftiges Leben in eine gefährliche Richtung, vielleicht sogar in den Untergang treibend. Was für eine schmerzhafte Demütigung, welche Erniedrigung wird mich da bis ins Mark und bis ins Herz treffen?

Noch während mir diese Gedanken wie brennende Nadeln durch den Kopf schwirrten und all meine Nervenstränge pisackten, da hörte ich mich zu meinem grossen Erstaunen plötzlich rufen: „Monsieur, ich hätte bitte noch einen Kaffee und dann bitte die Rechnung, ich möchte zahlen“. Was mich tatsächlich veranlasste, nun endlich die Rechnung anzufordern, das vermag ich mir bis heute nicht so recht zu erklären. Es war wohl ebenso Verzweiflung wie Übermut, vielleicht auch die vage Hoffnung, mit einem gemächlichen Ausschlürfen der allerletzten Kaffeetasse noch ein ganz klein wenig Zeit zu gewinnen, es könnte ja vielleicht doch noch ein Wunder geschehen, Rettung nahen in allerletzter Sekunde und sei es auch nur, um plötzlich und für alle Zeiten im Erdboden versinken zu können, worum ich das Schicksal und alle Mächte des Universums in diesem Augenblick flehentlich bat. Aber die Erde unter meinen Füssen öffnete sich nicht, ich versank auch nicht im Nichts, nein, das von mir so sehnsüchtig herbeigesehnte Wunder geschah.

„Axel Michael, was machst Du denn hier?“

Ich erkannte diese Stimme zunächst nicht. Dann erblickte ich den „Träger“ dieser Stimme: Es war die Stimme eines anderen Schweizers aus meinem Berliner Bekannten-und Freundeskreis, dessen Elternhaus sich ebenfalls hier in Lausanne befand. Er war hier, um seinen alten Vater zu besuchen, so wie er es jedes Jahr in den Sommerferien tat.

„Pierre“, rief ich laut und meine Stimme überschlug sich dabei, „Dich hat der Himmel mir gesandt“. Wenn ich damals nicht bereits ein fast schon sattelfester Atheist gewesen wäre, wer weiss, wer weiss, vielleicht hätte ich in diesem Augenblick doch an die Existenz eines Gottes glauben wollen. Wie rasch vermag das Leugnen und die Nichtakzeptanz eines Gottes oder einer irrationalen Schicksalsmacht ins Gegenteil umzuschlagen: Es sind die unerwarteten, niemals berechenbaren Lebensumstände, die da mitspielen und Glaubenssätze im Handumdrehen in eine andere Wirklichkeit verwandeln. Ich schilderte meinem „mutmasslichen Retter“ ausführlich, was mir widerfahren war. Pierre, Lehrer an einem Berliner Gymnasium, ein schlanker Mann von Anfang vierzig mit schütterem Blondhaar, war ein eher unauffälliger Mensch, den man ausserhalb seines Freundeskreises eigentlich kaum wahr zu nehmen pflegt.

Er gehörte zu jenen Menschen, die wie Schatten an einem vorüber eilen, es gab nichts an ihm, was einen zwingen könnte, seinetwegen stehen zu bleiben oder den Wunsch aufkommen zu lassen, seine Bekanntschaft zu machen oder ein Gespräch mit ihm beginnen zu wollen. Ich hatte ihn eines Tages in einem Berliner Künstlerlokal kennen gelernt und ihn dann mal hier, mal dort auf Partys oder auf Atelierfesten bei gemeinsamen Freunden wieder getroffen. Wir mochten uns, doch das Wort „Freund“ war nicht die rechte Benennung unserer Beziehung.

Wie auch immer, ich hatte bisher keinen Grund, mich intensiver mit ihm zu befassen oder ernsthaft über ihn nachzudenken. Und ausgerechnet dieser Mensch sollte nun vielleicht mein Retter sein? Seltsam und immer wieder rätselhaft ist das Leben. Pierre hörte mir aufmerksam und ungläubig zu, bedauerte das unfassbare Verhalten seiner Landsleute, die mich in ihrem Hause nicht haben wollten und verurteilte das verabscheuungswürdige Plündern meiner Brieftasche durch den flüchtigen Dieb. Und er bewunderte vor allem meinen „Mut“, mich so einfach, ohne einen Pfennig in der Tasche und ohne Papiere am helllichten Tag in ein so vornehmes Restaurant zu begeben, um darin ein üppiges Mittagsmahl zu bestellen. Er schaute mich fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen immer wieder an, als könne er es nicht glauben, was ich ihm da gerade erzählt habe, er schüttelte nur immer wieder den Kopf und murmelte mehrfach: „Nein, nein, das hätte ich nicht gewagt, nein, das hätte ich nie und nimmer hinbekommen, niemals, nein, niemals, ich bewundere dich“.

Der Ober, (der von all dem entweder nichts mitbekommen hatte oder sein Erstaunen diskret zu verbergen wusste), brachte die Rechnung, die sich innerhalb von fast zweieinhalb Stunden in recht beachtliche Höhen hinauf geschaukelt hatte. Pierre löste mich aus (sogar ein fürstliches Trinkgeld war noch drin), bewahrte mich damit vor grossen Unannehmlichkeiten und einem ungewissen Schicksal. Kein Schweizer Richter hatte mich zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilen müssen, meine Mutter und mein jüngerer Bruder im fernen Hamburg mussten nicht um mich weinen, ich war der Welt und vielen Menschen darin erhalten geblieben, sowohl jenen, die ich bereits damals kannte als auch jenen, denen ich erst nach diesem Intermezzo und viele Jahre später irgendwo in der Welt begegnen sollte. Ich umarmte Pierre, vermochte ob dieses unglaublichen Glückes meine Tränen nicht ganz zurück zu halten. Pierre beruhigte mich mit den Worten, dass er mir selbstverständlich und mit grosser Freude geholfen habe und ich das gleiche doch wohl gewiss auch für ihn getan hätte, falls er in eine ähnliche Situation geraten wäre. Ich widersprach nicht, war absolut fest davon überzeugt, dass auch ich ihm natürlich geholfen hätte.

Das Schicksal hatte mir in Gestalt von Pierre also zur rechten Zeit einen Retter geschickt. Ich wage auch heute noch nicht so recht daran zu denken, was mir tatsächlich geblüht hätte, wenn Pierre (ich spürte bereits den Strick um meinen Hals) nicht rechtzeitig am richtigen Ort erschienen wäre. Da tauchte noch einmal kurz die Frage in mir auf: Hatte ihn vielleicht doch Gott zu mir geschickt, womit für mich die Existenz eines Gottes zumindest für einen Augenblick also doch bewiesen wäre? Ich blieb, obwohl von Dankbarkeit erfüllt und kurz schwankend, dennoch Atheist und schrieb die Rettung in allerletzter Sekunde nicht Gott zu, sondern mehr dem Schicksal, das mir offensichtlich einen kurvenreichen und dramatischen Lebensweg zugedacht hatte.

Pierre bot mir dann auch noch spontan Quartier in seinem Elternhaus an, was ich mit grosser Dankbarkeit annahm. Und so lebte ich dann überraschend fast drei Monate in einer wunderschönen Gründerzeit-Villa mit Blick auf den Genfer See und lernte in diesem prachtvollen Haus einen aussergewöhnlichen Mann kennen, nämlich Pierres Vater. Diesen liebenswürdigen Menschen, neunzig Jahre alt und fast blind, einst Germanist und Philosophie-Professor, seit zehn Jahren Witwer, Autor mehrerer Bücher, ihn werde ich niemals vergessen, er lebt in meinen Erinnerungen als der grösste Geist und Humanist, dem ich persönlich jemals begegnet bin.

Als Pierre mich seinem Vater vorstellte und ich zum ersten Mal in das markante und so gütige Gesicht dieses alten, hoch gewachsenen Mannes schaute, da glaubte ich, ich stünde Gerhart Hauptmann (den ich natürlich nur auf Fotografien gesehen hatte) persönlich gegenüber. Die Ähnlichkeit, vor allem der Kopf mit dem vollen weissen Haupthaar und den strahlend blauen Augen, war einfach umwerfend. Als ich kurz darauf dann auch noch erfuhr, dass Hauptmann (neben Goethe, Zola, Flaubert, Platon, Heine und Nietzsche) einer der Lieblings-Autoren des Professors war, da musste ich mich meines ersten Eindrucks während der Begrüssung also nicht schämen.

Ich sollte recht bald viele Gründe finden, diesen alten Mann zu lieben und zu verehren. Man begegnet solchen Menschen nicht oft im Leben. Ich hatte das grosse Glück. Bereits am zweiten Abend fragte er mich, ob ich ihm die Freude machen würde, ihm hin und wieder einige von ihm besonders geliebte Stellen aus Goethes „Wahlverwandtschaften“, aus „Faust“ und aus Werken anderer Schriftsteller vorzulesen. Die mit einer leisen, melodiösen Stimme an mich gerichtete Frage klang in mir seltsamerweise nicht nur wie eine höflich an mich heran getragene Bitte, nein, ich glaubte darin auch einen heimlichen Hilferuf wahrzunehmen, der mich hellhörig machte.

Als ich sein Haus dann nach einem Vierteljahr unerwartet verlassen musste (warum, das werde ich ein wenig später erzählen), da wusste ich, warum ich seine Bitte als Hilferuf und als nichts anderes erkennen musste: Vor etwa acht Jahren verschlechterte sich der Zustand seiner Augen rapide, er sah von Tag zu Tag weniger, die Umrisse aller ihn umgebenden und ihm vertrauten Gegenstände nahm er zwar noch etwas wahr, die kleinen Buchstaben hingegen in den Büchern seiner von ihm geliebten Schriftsteller, die konnte er nicht mehr erkennen, alles war verschwommen, es war, so erzählte er mir, als hätte sich ein grauer, undurchdringlicher, ein sich nicht mehr auflösender Nebelschleier über alles und für immer gelegt, was ihm zuvor die Welt und vor allem die Literatur in all ihrer Schönheit, in ihrer Buntheit und in ihrer Widersprüchlichkeit offenbart hatten. Sehr bald schon sah er das Buch dann nur noch als diffusen Gegenstand, doch selbst der etwas grössere Text auf dem Umschlag war für ihn eines Tages nicht mehr entzifferbar.

Das war für ihn, der die Sprache, jedes einzelne geschriebene, mal leise in sich hinein gelesene oder laut in die Welt gesprochene Wort liebte, dem es noch immer allerhöchste Lust war, ein Buch (vor allem antiquarische, aber auch neue, nach Frische duftende Ausgaben) in die Hand zu nehmen, jede Seite darin befühlen, so als würde er die Wange seiner verstorbenen Frau liebevoll streicheln, aufgeregt darin zu blättern, den Text in sich aufzusaugen, die Botschaft des Autors empfangend, ja, für ihn war seine Erblindung ein grosses Unglück (das gilt natürlich für alle vor dem Blindwerden stehenden und bereits erblindeten Menschen). Nicht mehr sehen können, die Welt um sich herum nicht mehr wahrnehmen, für immer auf Hilfe angewiesen zu sein, auch das ist eine Art des langsamen Abschiednehmens vom Leben, es ist ein schmerzhafter Gang in die Einsamkeit und in eine immer währende Dunkelheit, in der der Tod auf Beute wartet. Alle ärztlichen Versuche von renommierten Experten in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland vermochten nichts mehr für ihn zu tun. Die Prognose lautete Makula-Degeneration. Was für ein Urteil: Lebenslänglich!

Als nahezu totale Dunkelheit über ihn herein gebrochen war, hatte er Pierre, seinen einzigen Sohn mehrfach darum gebeten, ja fast schon angefleht, ihm anlässlich seiner alljährlichen und regelmässigen Besuche doch hin und wieder etwas aus den Werken der von ihm geliebten Schriftsteller vorzulesen. Pierre kam dem Wunsch seines Vaters nicht ein einziges Mal nach, was mich seltsam berührte und was ich mir nicht zu erklären wusste. Ich hingegen erfüllte ihm in aller Ahnungslosigkeit seine Bitte bereits kurz nach unserer ersten Begegnung, tat es mit grossem Vergnügen, machte ich dabei überraschend doch (was ich zum Zeitpunkt meiner Zusage nicht wissen konnte) die aufregendsten Bekanntschaften mit einigen Schriftstellern und Philosophen, deren Namen und Werke mir bis dahin völlig unbekannt gewesen waren.

So zum Beispiel auch Nietzsches Gedichte, von deren Existenz ich keinerlei Ahnung hatte. Dessen seltsame Ballade „Der Wanderer und sein Schatten“ musste ich dem Professor während meines Aufenthaltes in seinem Haus weit über ein Dutzend Mal vorlesen. Ebenso oft bat er mich, ihm den „Osterspaziergang“ vorzutragen, wobei er sich während des Lese-Vortrags manchmal diskret schnäuzte. Wahrscheinlich tat er das, um seine starken Emotionen vor mir zu verbergen, hatte er mir doch zuvor einmal erklärt, dass dieser „Osterspaziergang“ für ihn ein wundervolles Gleichnis sei, so etwas wie die schönste Liebeserklärung an die Natur und an das Leben, zugleich aber auch der endgültige Abschied von eben diesem Leben selbst.

Da auch ich beim Vorlesen jedes Mal auf's Neue fasziniert war von der Macht und Magie der Worte und von der darin aufblühenden Poesie und den „Osterspaziergang“ mittlerweile nahezu auswendig vortragen konnte (was ich mit grossem Pathos auch tat), führte ich die sich bei meinem Professor aufwühlenden Empfindungen eines Tages nicht allein auf den philosophischen und so vieldeutigen Text und auf die Schönheit der Goethischen Sprache zurück, nein, ich war sogar ganz fest davon überzeugt, dass es gewiss auch meine Art des Vortragens und des artikulierten Sprechens war, die ihn in seiner grossen Liebe zur deutschen Sprache und in der Verehrung zu Goethe bestätigten (man möge mir diese Überheblichkeit verzeihen, doch junge Menschen haben ein Recht darauf).

Ja, es waren wirklich heilige Stunden für ihn und noch viel mehr für mich. So ging es über zwölf Wochen lang, in denen ich als Vorleser täglich ein Rendezvous mit den grössten Geistern aus mehreren Jahrhunderten hatte, was ich wohl nicht hätte erleben dürfen, wenn ich nicht im Juni 1963 mit meinem Freund Pascal nach Lausanne gereist, sondern in Berlin geblieben wäre. Ja, rätselhaft ist immer wieder das, was wir da leichthin Schicksal nennen. Bis heute ist Dankbarkeit in mir gegenüber eben diesem meinem Schicksal, das mich auf seltsamen Wegen iin mein Leben geführt und mich so oft und so reich beschenkt hat.

So wie beim Mittagessen, das stets pünktlich um 12.30 begann und um 14.00 Uhr beendet wurde, so trafen wir uns täglich ebenso pünktlich um 17.00 Uhr in seiner Bibliothek (ich schätzte deren Bestand auf gut 20.000 Bücher). Dort las ich ihm dann bis 19.00 Uhr vor, wonach es ihn stimmungsmässig gerade verlangte: Lessing, Schiller, Goethe, Nietzsche, Fontane, Gerhart Hauptmann, Tolstoi, Turgenjew, Passagen aus Wagners Autobiographie, „Mein Leben“, Heinrich Heine, Stefan Zweig, die Gebrüder Mann und vieles mehr. Gerhart Hauptmanns ergreifendes Sozial-Drama „Vor Sonnenaufgang“ schätzte er ganz besonders, auch aus diesem Theaterstück musste ich ihm mehrere Male bestimmte Szenen immer wieder vorlesen. Seine so überaus grosse Liebe und seine tiefe Verehrung für Gerhart Hauptmann beruhte wohl auch darauf, so liess er es mich einmal wissen, dass er dem Dichter einst während einer spontan angetretenen Deutschlandreise Anfang der Dreissiger Jahre persönlich begegnet war: Er hatte den von ihm vergötterten Dramatiker ganz einfach unangemeldet auf Hiddensee aufgesucht.

Als er dem berühmten Autor plötzlich gegenüber stand und ihm als erstes gesagt hatte, dass auch er an einem 15. November geboren sei, nur eben elf Jahre später, da lud Hauptmann ihn mit grosser Herzlichkeit zu Kaffee und Kuchen ein, wobei ihm überraschend auch noch das Glück zuteil wurde, des Dramatikers Ehefrau Margarete und den ältesten Sohn Ivo kennen gelernt zu haben. Das in dieser überraschend zusammen gekommenen Runde geführte Gespräch über die Bedeutung von Literatur und Kunst im Leben eines jeden Menschen konnte der Professor nach all den Jahren noch immer bis in kleinste Detail nahezu auswendig wiedergeben, was ihn mit kindlichem Stolz erfüllte.

Mit nicht weniger Stolz zeigte er mir dann eines Tages auch eine wertvoll gerahmte Porträt-Fotografie, die der Dramatiker ihm überreicht hatte und die mit einer freundlichen handschriftlichen Widmung samt Signatur und Datum versehen war. Dieses Foto mit handschriftlichem Text war das erste Autograph, das ich mit grossen Augen und ehrfurchtsvoll bestaunen durfte. Viele Jahre später war ich dann selbst ein leidenschaftlicher Sammler und nach und nach auch glücklicher Besitzer vor allem von musikalischen Autographen aller Arten. Das wertvollste autographische und musikhistorisch bedeutsamste Dokument in meiner einst umfangreichen Sammlung war ein Beethoven-Brief mit Unterschrift (an seinen Neffen Karl), den ich (leider zu früh) in den achtziger Jahren bei Sothebys' in London versteigern liess (für 17.000 englische Pfund, umgerechnet etwa 55.000 deutsche Mark).

Wenn ich damals vernünftig gewesen wäre oder gewusst hätte, was ich heute weiss und über die Fähigkeit verfügt hätte, in die Zukunft schauen zu können (nicht nur in meine eigene, sondern auch in die Zukunft der Welt und in die noch vor mir liegende Zeit von heute), dann hätte ich mir mit dem Erlös bereits damals ein stattliches Anwesen in Italien oder in Frankreich kaufen können (was damals zu dem Preis noch möglich war) oder dieses Beethoven-Autograph erst heute versteigern müssen zu einem wesentlich höheren Preis. Doch ich war unvernünftig genug, wertvolle Autographen bereits damals zu verkaufen und alle erzielten Erlöse dann später in die Gründung und in den Unterhalt meiner Hamburger AMSA-Galerie am Mittelweg 44 (1987 bis 1998) zu stecken, an deren Existenz und Überleben ich damals noch ganz fest geglaubt hatte.

Doch zurück ins Haus meines Professors in Lausanne. Nach dem täglichen Vorlese-Ritual, das der Professor (wie bereits einmal erwähnt) einen „heiligen Akt“ nannte, begaben wir uns dann gemeinsam zur Nachtmahlzeit, die jeden Tag pünktlich um 19.15 Uhr im „Grünen Salon“ eingenommen wurde. Dieser „Grüne Salon“ war ein etwa 70 Quadratmeter grosses Zimmer, dessen Wände mit prachtvollen grünen Stofftapeten bespannt waren.

An drei Wänden befanden sich in Augenhöhe sechs wundervolle Landschaftsbilder aus dem 19. Jahrhundert mit reizvollen romantischen Motiven, gemalt von mir unbekannten Schweizer Künstlern. An der hohen, weissen Stuckdecke, direkt über der Mitte eines Mahagoni-Esstisches für zwölf Personen hing ein silbern glänzender Kristallleuchter, der mit seinen zehn Glühbirnen den gesamten Raum in ein weiches, leicht gelbliches und geheimnisvolles Licht hüllte. Der „Grüne Salon“ war bis in die vierziger Jahre das Jagdzimmer des vornehmen Hauses und wurde danach zum Speiseraum umfunktioniert und war (neben der Bibliothek) das Herzstück des prunkvollen Gründerzeithauses.

So wie beim Ritual des täglichen Vorlesens bestand der Professor auch hier auf absolute pünktliche Einnahme des stets mehrgängigen Abendessens, das seit vielen Jahren von einer nicht mehr ganz jungen, herzensguten Italienerin liebevoll zubereitet wurde. Sie hiess Maria-Giovanna, war fast ebenso hoch wie breit, ihr dichtes, silbergraues Haar wurde hinten von einem gewaltigen schwarzen Knoten aus samtenen Stoff zusammen gehalten, was sie wie eine Respektsperson aussehen liess. Sie hatte ein freundliches, offenes, meistens ein leicht gerötetes Gesicht, aus dem zwei schwarze und kecke, immer strahlende und lachende Augen jeden Besucher überaus aufmerksam von oben bis unten musterten. Diesem herausfordernden Blick, so fiel mir auf, vermochte nicht jeder Besucher im Hause des Professors längere Zeit stand zu halten.

Maria-Giovanna war also nicht nur eine Meisterköchin, nein, sie war auch eine Menschenkennerin, die vielleicht weitaus mehr vom Leben und von den Menschen wusste und erkennen konnte als so mancher der so überaus gelehrten und mit viel Lebenserfahrung ausgestatteten Freunde des Professors. Ihr konnte keiner etwas vormachen, sie wusste die menschliche Spreu vom menschlichen Weizen blitzschnell zu trennen. Und sie, die energisch waltende Haushälterin und göttliche Köchin, sie hatte, nachdem sie ihre Heimatstadt Verona verlassen hatte, ihr Leben ganz dem Professor geweiht, sie war der gute, alles sehende und alles auch spürende Geist des Hauses, wofür der Professor sich täglich nach jeder Mahlzeit und an jedem Abend bei ihr von Herzen und mit schönen Worten bedankte.

Ihr standen als Köchin Hunderte von ihr selbst zusammengestellte und auch aus ihrer italienischen Heimat mitgebrachte „geheime Familienrezepte“ aus vielen Generationen zur Verfügung, aus denen sie sich die Inspiration für ihre vielfältigen kulinarischen Köstlichkeiten holte, die sie dann jedesmal mit Grandezza (mittags und abends) servierte und dabei stets und streng von allen am Tisch sitzenden Personen verlangte, dass alles aufgegessen werden müsse. Während der zwölf Wochen, in denen ich an diesem Tisch sass, hielt sich (ausser Pierre) ein jeder an diese Massgabe.

Das höchste Lebensglück der Maria-Giovanna bestand also vor allem darin, ihren Professor (besonders nach dem Tod seiner Frau) und die wenigen, immer älter werdenden Gäste hin und wieder während der Woche, doch häufiger erst am Wochenende stets auf's Neue mit den allerschönsten Speisen aus ihrer italienischen Zauberküche zu verwöhnen. Da ich ihr offensichtlich sympathisch war und bei den Mahlzeiten stets alles mit grossem Appetit verspeiste, also niemals (im Gegensatz zu Pierre) etwas auf meinem Teller liegen liess, war sie seltsamerweise zu der für sie schlüssigen Überzeugung gelangt, dass ich wohl stets Hunger haben müsse und überhaupt viel zu dünn sei, um in dieser Welt überleben zu können. So hatte sie sich in ihren italienischen Kopf gesetzt, sich meiner persönlich auf ihre Art anzunehmen und mich ein wenig „aufzupäppeln“.

Nach etwa zwei Wochen nahm sie mich daher diskret beiseite und fragte mich in ihrem putzigen Kauderwelsch aus Italienisch, Französisch und Deutsch, ob ich nicht irgendwelche Lieblingsspeisen aus meiner deutschen Heimat hätte und ob sie mir vielleicht hin und wieder mal eine davon zubereiten dürfe, was sie mit grosser Freude täte, ich müsse ihr nur die Speisen und die dazu passenden Zutaten nennen. Ich fühlte mich geehrt und nannte ihr spontan einige jener himmlischen Gerichte, für die ich damals (also während meiner Kindheit) und jederzeit mein junges Leben geopfert hätte, wie zum Beispiel echten Tafelspitz, Kartoffelpuffer mit Apfelmus, „Blutpflinsen“ (das waren Pfannkuchen, in deren Teig man frisches Blut aus einer gerade geschlachteten Ente giesst), das war gegarter Ochsenschwanz in Meerrettich-Sahnesosse und Pellkartoffeln oder „Spirrgel“ (gebratener, sehr fetter Schweinebauch), „Königsberger Fleck“ (eine ostpreussische Spezialität aus der Haut eines Kuhmagens) und vieles mehr aus der Heimat und erdverbundenen Küche meiner ostpreussischen Mutter und ihrer Vorfahren.

Als ich Maria-Giovanna die soeben genannten und auch noch andere meiner Lieblingsspeisen aufgezählt und sie mich auch einigermassen verstanden hatte, da schaute sie mich zunächst etwas entgeistert, fast schon entsetzt an und sagte nur: „O Dio, questa é la cucina dei barbari, ma faró il mio meglio e poveró di preparare questi piatti per te“ (zu Deutsch: „Mein Gott, das ist ja die Küche von Barbaren, aber ich will versuchen, diese Gerichte für dich zu kochen“). Und siehe da: Bereits nach dem am ersten Abend servierten Gericht (Ochsenschwanz) hätte ich tatsächlich glauben können, dass Maria-Giovanna in ihrem Leben nie etwas anderes gekocht und gebraten habe als die echte, die mir so vertraute und von mir heiss begehrte ostpreussische Hausmannskost.

Auf diese Weise machte der Professor auf seine alten Tage überraschend Bekanntschaft mit einigen meiner Lieblingsspeisen. Und spätestens nach einer Woche schien der Professor die vielen kleinen Veränderungen im herkömmlichen Speiseplan bemerkt und seine anfänglichen Irritationen überwunden zu haben und war plötzlich voll des Lobes für Maria-Giovannas „vorzügliche, neue Küche“. Besonders, so verkündete er verzückt, gefallen ihm die Experimentierfreudigkeit und der unglaubliche Einfallsreichtum von ihr, die sie befähigen, jeden Tag ein anderes, ihm bisher noch unbekanntes, so köstliches Gericht auf den Tisch zu bringen. Er fühle sich, wenn er speist, so liess er uns alle am Tisch versammelten Gourmets plötzlich wissen, wie im „Himmel der Köstlichkeiten“.

Die so hoch gelobte Kochkünstlerin schaute mich dabei verschmitzt an, als wollte sie mir sagen: Wie du siehst, lohnt es sich immer wieder, kleine Erneuerungen und Veränderungen im täglichen Leben vorzunehmen, in welchem Bereich auch immer. Ich musste ihr zustimmen, war überglücklich, dass sie mir meine Lieblingsspeisen auf so köstliche Art und so liebevoll zubereitet hatte. Ich muss aber auch gestehen, dass ich mich nach einigen Wochen bereits auf die nächsten Götter-Spaghetti á la Maria-Giovanna freute. War ich deshalb undankbar oder gar ein „Verräter“ an der guten ostpreussischen Küche meiner Mutter?

Der Professor und seine verstorbene Frau Eleonor hatten Maria-Giovanna vor 45 Jahren während einer Reise durch Italien bei einem Abendessen in einer Trattoria in Verona kennen gelernt. Bereits dort (das Restaurant befand sich seit vier Generationen in Familienbesitz) war Maria-Giovanna in der Trattoria jener gute Geist, der sie dann später auch im Hause des Professors werden sollte. Obwohl sie in ihrer grossen Familie auf das Schönste eingebettet und im Familien-Restaurant (in dem nur ihr Vater das Sagen hatte) sehr glücklich war, träumte sie dennoch heimlich von einem Leben als Köchin in Deutschland oder in der Schweiz. Dieser Traum stellte sich aber erst überdeutlich bei ihr ein (so erzählte mir es der Professor eines Tages), als ihr Verlobter zwei Tage vor der Hochzeit bei einem Motorrad-Unfall ums Leben gekommen und für sie eine Welt zusammen gebrochen war. Das Kapitel Liebe, Heirat und Zukunft war für Maria-Giovanna, obwohl sie damals erst 22 Jahre alt war, von einem Tag zum anderen erledigt.

Die Begegnung zwischen ihr und dem Professor deutete Maria-Giovanna, die sehr gläubig war, dann später nicht als Zufall. Nein, für sie war es Schicksal, Gott selbst (davon war sie fest überzeugt) hatte es so eingerichtet und sie mit dem Professor und dessen Frau noch rechtzeitig zusammen geführt, um ein noch grösseres Unglück zu verhindern.

Diese drei scheinbar zufällig zusammen getroffenen Menschen, sie kamen ins Gespräch, man wurde sich nach mehrmaligem Wiedersehen immer sympathischer und so war der für alle schicksalhafte Pakt schliesslich geschlossen. Auf diese Weise kam Maria-Giovanna als fünfundzwanzigjährige Frau in das Haus des Professors. Das war vor 45 Jahren. Für Maria-Giovanna waren es 45 Jahre voller Glück und Dankbarkeit, brachten der Professor und seine Frau ihr doch von Anfang an Freundschaft und allergrössten Respekt entgegen und bald schon gehörte Maria-Giovanna einfach und für immer zur Familie.

Beim täglichen Mittagsmahl und beim Abendessen während der Woche waren sein Sohn Pierre und ich zumeist die einzigen Gäste am Tisch des Professors. Bisweilen kamen aber auch (vor allem an Wochenenden und an Feiertagen) alte Freunde zu Besuch, darunter ein russischer Maler und Bildhauer mit dem Vornamen Serge sowie Kollegen aus uralten Zeiten. Was mich besonders faszinierte und zugleich verwirrte, das war bei solchen seltenen Anlässen das gigantische Sprachengewirr aus Französisch, Italienisch und Deutsch, bisweilen kamen noch Spanisch und Russisch hinzu.

Letzteres konnte ich manchmal sogar in Ansätzen verstehen, wuchs ich doch in der DDR mit Russisch als einziger Fremdsprache auf und war dieser Sprache damals noch ein wenig mächtig. Als der Professor seinen 91.Geburtstag feierte, da hatte er zehn Freunde zu einem Festessen in sein Haus eingeladen, vier Damen und sechs Herren, alles noch lebende ehemalige Kollegen aus Uni-Zeiten, ein jeder und eine jede von ihnen trugen mindestens einen Doktor-oder Professoren-Titel würdevoll mit sich herum, einige unter ihnen durften sich gleich mit mehreren Doktortiteln und internationalen ehrenvollen Auszeichnungen schmücken, zwei ergraute Herren sogar mit dem Orden der französischen Ehrenlegion.(Chevalier de la Légion d'Honneur). Mon Dieu, was für eine imposante Anhäufung von europäischer Kultur, von Weltgeist und mich verblüffender Lebenserfahrung und Intellektualität in einem einzigen Raum. Ich fühlte mich in diesem exquisiten Dunstkreis sehr klein, fast so klein, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden.

Mit dem Professor, mit seinem Sohn und mit mir waren es dreizehn Personen, die an diesem Tag an der festlich geschmückten Tafel zum Abendessen Platz genommen hatten. Keiner der geladenen Gäste war jünger als 85. War es reiner Übermut oder war es Bewunderung für so viel Geist und Kultur, was mich plötzlich veranlasste, Pierre darum zu bitten, das Alter eines jeden Gastes zu ermitteln und mir dann zu nennen? Ich weiss es nicht. Jedenfalls flüsterte mir Pierre das Alter aller Gäste leise zu. Ich addierte dann rasch deren Lebensdaten und kam auf 855 Jahre. Als ich dieser unglaublichen Zahl dann auch noch mein Alter (24), das von Pierre (42) und das des Professors (91) hinzu fügte, da kam ich auf 1012 Jahre.

Mon Dieu, ein ganzes Jahrtausend und zwölf (12) Jahre sassen friedlich und freundlich im Raum, verteilt auf 13 Personen, wobei ich ganz gewiss das geistige Schlusslicht war, da ich mich Lichtjahre von so viel Bildung und Kultur entfernt wähnte. Ich staunte nur noch und wollte nicht so recht glauben, dass ich wirklich dabei sein durfte. Ich verstand vieles in den Reden der in Ehren ergrauten klugen Männer nicht, doch eines begriff ich sehr wohl: Das Schicksal meinte es gut mit mir, denn einem Mann wie dem Professor zu begegnen, den ich verehrte und der mir seine Freundschaft und ein wenig auch von seiner Weisheit schenkte, ein grösseres Glück konnte es für mich damals nicht geben. An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert. Ja, der alte Professor aus Lausanne und ich, der neugierige, wissensdurstige junge Deutsche, staunend über so viel Wissen und menschliche Güte, vereint in nur einer Person, also in einem einzigen Menschen aus Fleisch und Blut, dieser alte Mann und ich, wir wurden Freunde.

Vielleicht wäre ich viele Jahre oder gar mein ganzes Leben bei ihm geblieben, denn nie zuvor und nie mehr danach traf ich einen so gütigen, gebildeten und charismatischen Menschen. Es scheint ein Privileg der Jugend zu sein, schwärmen zu dürfen, schwärmen zu können für einen grossen Geist, dessen philosophische Dimension und menschliche Grösse man bereits zu erahnen, aber vielleicht erst viele Jahre später so recht zu begreifen vermag. So erging es auch mir. Pierre, der Sohn dieses liebenswürdigen und aussergewöhnlichen alten Mannes, der mich aus einer für mich zunächst ausweglosen Situation gerettet hatte, erwies sich schliesslich nicht als der aufrichtige Freund und grosse Mensch, den ich nach der Begegnung mit seinem Vater auch in ihm vermutet habe und hatte sehen wollen. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, wie verschieden sie mitunter doch sein können.

Als sein Vater mir nach etwa zehn Wochen aus Dankbarkeit für das abendliche Vorlesen eine sechsbändige, in hellbraunes Leder gebundene Goethe-Ausgabe aus dem Jahre 1909 schenkte, verdächtigte mich Pierre (welch Absurdität), dass ich mich bei seinem Vater gewiss nur deshalb als Vorleser eingeschmeichelt habe, um an eben diese wertvolle Goethe-Ausgabe zu gelangen. Kein Erlebnis zuvor in meinem Leben hatte mich so erschreckt wie diese Beschuldigung aus dem Munde eines vermeintlichen Freundes. So streute der kleine Sohn eines grossen Vaters Gift in unsere wundervolle Freundschaft, die aufrichtiger nicht hätte sein können, beim alten Professor ebenso wie bei mir.

Ich quälte mich tagelang mit der Frage, warum sich Pierre mir gegenüber so bösartig verhielt, warum er mich verdächtigte, mich bewusst bei seinem greisen Vater eingeschmeichelt zu haben wegen einer alten Goethe-Ausgabe, von deren Vorhandensein und angeblichen Wert ich keine Ahnung hatte in jenem Augenblick, in dem mich der Professor darum gebeten hatte, ihm mal aus dem, mal aus einem anderen Werk Goethes vorzulesen und ich ihm diese Bitte nicht abschlagen konnte. Nein, das freundschaftliche Band zwischen mir und Pierres Vater, das fühlte und das wusste ich, das war nicht zerrissen, unsere Freundschaft wird im Professor ebenso weiter leben wie in mir, aber das Umfeld war vergiftet, die von mir gerade erst entdeckte Leichtigkeit des Seins in den ehrwürdigen Räumen des alten, so vornehmen Hauses und des darin residierenden grossen Geistes hatten ihre Unschuld verloren, waren durch das abstruse, fast schon krankhafte Denken und Verhalten von Pierre entweiht.

So kündigte sich unerwartet die Stunde meines Abschieds an. Das Schicksal kann oftmals sehr, sogar sehr launisch sein, man wird dessen Gesetzmässigkeiten niemals so recht ergründen können, diese entziehen sich der menschlichen Logik und aller damit verbundenen realen Erwartungshaltungen. Und keine zuvor selbst gemachten Erfahrungen und daraus sich ergebenden Erkenntnisse können das verhindern, ist und bleibt der Mensch (was ich bereits zu jener Zeit erfahren musste) doch stets das schwächste und somit auch das gefährlichste und (leider) auch das hässlichste Teilchen in der, von wem auch immer so wunderschön zusammen gefügten Schöpfungsgeschichte.

Und das Motiv von Pierre? Es war Eifersucht. Eifersucht hat bekannterweise viele, bisweilen recht extreme, absurde und krankhafte Facetten. Pierre war auf all das eifersüchtig, was mich emotional und intellektuell mit seinem Vater verband, er beneidete mich um meine Fröhlichkeit und um meine Lebensfreude, die sich (was Pierre nicht entging) von Tag zu Tag mehr auch auf seinen Vater übertrug, er gönnte mir nicht die Freundschaft, die sein greiser Vater mir geschenkt hatte und die ich erwiderte. Pierre hatte jedoch niemals bemerkt, wie sehr sich sein Vater nach der Liebe und nach der Freundschaft zu seinem einzigen Sohn gesehnt hatte. Groteskerweise betraf Pierres Eifersucht auch mein freundschaftliches Verhältnis zu Maria-Giovanna, die mich auf ewig in ihr übergrosses italienisches Herz geschlossen hatte und sich auch nicht scheute, das alle Welt wissen zu lassen.

Und es kam noch etwas hinzu: Natürlich war es mir nicht verborgen geblieben, dass Pierre homosexuell war und offensichtlich an mir Gefallen gefunden hatte, war ich zu jener Zeit doch ein recht hübsches Kerlchen, dem sich die Mädchen (so jedenfalls stellte es sich mir damals dar) ohne grosse Gegenwehr nur allzu gern ergaben. Mehrfach hatte Pierre, so ganz nebenbei und wie zufällig mich körperlich berührt, so auch einmal bei der Betrachtung eines Bildes im holzgetäfelten Foyer seines Vaterhauses, wo er plötzlich seine Arme um meinen Hals gelegt hatte, um mir mit seiner leisen, etwas nasalen Stimme die Geschichte dieses schönen Landschaftsbildes aus dem 17. Jahrhundert zu erzählen, was ich zunächst, in aller Unschuld und Unbekümmertheit der Jugend als freundschaftliche Geste empfand, der ich mich nicht zu entziehen veranlasst sah.

Pierre aber hatte mein Stillhalten offensichtlich missdeutet, hatte sich wohl etwas anderes erhofft, vielleicht weil er der Meinung war, dass ich ihm grossen Dank schuldig sei, hatte er mich doch schliesslich vor einem ungewissen Schicksal, vor Schmach und Schande bewahrt. Mein Dank ihm gegenüber, das kann ich beschwören, war in der Tat sehr gross, doch meine Liebe zu schönen Mädchen und zu reifen Frauen, so liess ich es Pierre unmissverständlich wissen, sei weitaus grösser als der Dank, den ich ihm schuldete.

Das nahm er mir offensichtlich übel, was ich zunächst nicht bemerkte. Er verstreute dann täglich sein unsichtbares Gift raffiniert immer wieder mit kleinen süffisanten Zwischenbemerkungen, mal hinter meinem Rücken, mal direkt vor mir und vor zufällig anwesenden Gästen mit vagen, nebulösen Andeutungen und dergleichen mehr. Erst einige Tage später wurde mir alles klar, die Zeichen an der Wand des Abschieds waren überdeutlich geworden, ein Verbleiben für immer nunmehr ausgeschlossen.

So sterben Träume, die doch so schön begonnen hatten. So stand für mich fest, dass es wieder mal soweit war, weiter ziehen zu müssen. Für das von Menschen in entsprechenden Konstellationen immer wieder so teuflisch gemischte und so raffiniert in die Seele und in das Bewusstsein geträufelte Gift der Eifersucht gab es und wird es in der Geschichte der Menschheit niemals ein Gegengift geben, zählt doch gerade die Eifersucht zu den markantesten Bestandteilen aller menschlichen Gefühle, die sich stets zwischen Liebe und Hass, zwischen Gut und Böse, zwischen Hell und Dunkel, zwischen Wahrheit und Lüge bewegen. So also nahmen wir, mein alter Freund und ich schliesslich traurig Abschied voneinander.

Wir wussten beide, obwohl wir das Gegenteil erhofften und auch aussprachen, dass wir uns nie wieder sehen werden. Seine Stimme bebte, als er mir sagte, dass ich ihm mit meinem Vorlesen seiner literarischen Lieblinge ein sehr grosses Geschenk gemacht habe und besondere Geschenke empfange man eben nur einmal im Leben. Er sprach es nicht aus, aber es blieb mir nicht verborgen, wie sehr er in diesem Augenblick seinen Sohn verachtete, zumindest zutiefst von ihm enttäuscht war, er hatte gespürt, dass ein böser Geist Einzug in sein schönes Haus gehalten hatte. Es schmerzte ihn sehr, als er erkennen musste, dass dieser „böse Geist“ aus der verbitterten Seele seines Sohnes kam, nach dessen Liebe sich sein Vaterherz so sehr gesehnt hatte.

Auch der Abschied von Maria-Giovanna fiel mir sehr schwer, auch sie hatte längst einen Ehrenplatz in meinem Herzen eingenommen. So ging ich plötzlich fort. Ohne Goethe-Ausgabe, aber um vieles mehr bereichert, nahm ich doch ein weitaus wertvolleres Geschenk mit, nämlich die niemals verblassende Erinnerung an eine schicksalhafte Begegnung mit einem aussergewöhnlichen Menschen und das unverhoffte Erlebnis einer wunderbaren Freundschaft, getragen und begleitet von der Güte und dem Vertrauen eines von mir verehrten alten Mannes, dessen Weisheit mich auf meinem weiteren Lebensweg stets als treuer Weggefährte begleitete.

So manches liebevoll und scheinbar nur so nebenbei zu mir gesprochene Wort und so manch unvergleichlich schöner, aber ebenso kritischer Gedanke von ihm (zum Beispiel im Leben alles mutig zu hinterfragen und nicht feige zu schweigen), vieles davon erwies sich dann später gleich einige Male als der einzig passende Schlüssel, mit dem ich die Türen zu neuen Gedanken, zu tieferen Einsichten und auch zu mich erschreckenden Erkenntnissen zu öffnen vermochte, dabei auf Wege stiess, auf denen ich gehen musste, meinem Schicksal folgend, zumeist nicht wissend, warum es genau so und auf keinen Fall anders sein durfte. Ich habe den Professor nicht wieder gesehen.

Als ich nach zwei Monaten seine Nummer anwählte, da war Maria-Giovanna am Telefon und teilte mir weinend mit, dass der Professor sechs Wochen nach meinem Weggang aus Lausanne gestorben sei, er habe oft mit ihr über mich gesprochen und dabei stets gelächelt. Zu wissen, dass er lächelte, wenn er an mich dachte und über mich sprach, ja, dieses Wissen half mir über meine grosse Trauer hinweg. Adieu, du wundervoller alter Mann, du wirst deinen festen Platz im Tresor meiner Erinnerungen für immer behalten.

Schicksal hin, Schicksal her: Als ich das gastliche und bisher lichtvolle, über Nacht in seelische und geistige Düsternis gehüllte Haus meines alten Freundes in Lausanne so plötzlich verlassen hatte, noch immer mittellos und ohne Pass (ich hatte auf der deutschen Botschaft in Genf natürlich einen neuen Reisepass beantragt, doch der liess auf sich warten), da bewegte mich aus nahe liegenden Gründen zunächst nur eine einzige Frage: Was nun, Axel Michael Sallowsky? Wie soll es, wie wird es dieses Mal weiter gehen, was hat das Schicksal mit mir vor, will es mich erneut auf die Probe stellen, werde ich diese Probe bestehen, will es, dass ich mich nicht allein auf meine physischen Kräfte und auf den Bonus der Jugend verlasse, sondern all meine geistigen und mentalen Kräfte zur Bewältigung und der Neugestaltung meiner Zukunft in mir abrufe? Wie auch immer.

Ich musste rasch eine Antwort auf diese so überaus wichtigen Fragen und eine sofortige Lösung finden. Natürlich musste ich mir in dieser Situation auch die Frage stellen, ob es nicht vernünftig und überhaupt das Allerbeste wäre, nun endgültig nach Berlin zurück zu kehren und in mein dortiges Leben wieder einzutauchen. Doch der neue Reisepass, der liess noch auf sich warten, wie aber soll ich ohne Pass offiziell denn reisen, wenn doch ein Mensch ohne Pass gar kein „richtiger Mensch“ ist, so wie es der bedauernswerte „Hauptmann von Köpenick“ einst so schmerzvoll erfahren hat?

Gleichzeitig aber entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass mich meine augenblickliche Situation und die damit verbundenen Probleme zwar plagten, mich jedoch in keiner Weise zu entmutigen vermochten, im Gegenteil, hatte sich in mir doch mittlerweile die Überzeugung fest gesetzt, dass es für alles im Leben und für jedes Problem stets auch eine Lösung gibt, man muss nur daran glauben und natürlich etwas tun. Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass es der weite Geist des Professors gewesen sein musste, der mir damals heimlich und unsichtbar als freundschaftlicher „Einflüsterer“ zur Seite gestanden hat. Historische Tatsache ist, dass ich noch am selben Tag Unterschlupf gefunden habe bei Serge, jenem russischen Bildhauer, den ich (wie bereits erwähnt) bei einem der Abendessen im Hause meines alten Professors kennen gelernt hatte.

Ja, wenn das so oft zitierte Wörtchen „wenn“ nicht wäre: Serge, ein Grande mit edlen Manieren und markantem Gesicht, das stets zu lächeln schien, freundlich und hintergründig zugleich, gross gewachsen, ein schöner Mann mit weissen Haaren und mit silbergrauen Schläfen zu beiden Seiten eines göttlichen Kopfes, aus dessen Innenräumen es nur so sprudelte von Geist und Witz, von aufregenden revolutionären Gedanken und künstlerischen Visionen, er trat überraschend nun in der Rolle eines Deus ex machima aktiv an meine Seite und öffnete mir eine wichtige Zwischentür zu meinem noch vor mir liegenden Leben an der Schwelle zu einer völlig ungewissen Zukunft.

Serge, 88 Jahre alt und an Leib, Seele und Geist kerngesund, künstlerisch noch immer tätig, war seit über 50 Jahren mit meinem Professor befreundet, er entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht, das zum grössten Teil während der Oktoberrevolution ums Leben kam, während seinen Eltern (zusammen mit ihm und zwei kleinen Schwestern) 1918 eine abenteuerliche Flucht nach Paris gelang, von dort siedelte die Familie in den zwanziger Jahren nach Lausanne über. Serge hiess mich in seinem Haus willkommen (war ich doch ein Freund seines besten Freundes), er hörte sich in seinem grossen Freundeskreis für mich um.

Da suchte gerade ein protestantischer Bischof einen Sekretär, befristet allerdings nur für ein halbes Jahr. Ich suchte den hohen Würdenträger auf, war ihm wohl sympathisch, wir wurden uns nach einem halbstündigen, sehr intensiv geführten Gespräch schliesslich einig. Eine Woche später sollte ich meine Arbeit bei ihm aufnehmen, die darin bestehen würde, ein paar Tausend Bücher in seiner recht umfangreiche Bibliothek zu archivieren. Doch einen Tag vor Antritt meines Engagements als „Archivar“ bestieg der Bischof eine Leiter, um sich ein Buch zu holen, in dem er an einer besonderen Stelle etwas nachlesen wollte. Das hätte er nicht tun sollen, denn er fiel von der alten hölzernen Leiter direkt in die weit geöffneten Arme des ihn stets unsichtbar begleitenden Todes. Seine Haushälterin fand ihn am nächsten Morgen. Meine Arbeit als Archivar endete also noch bevor ich damit beginnen konnte.

Serge suchte weiter für mich. Und siehe da: Plötzlich hatte ich, Mon Dieu, eine Arbeit, einen Job als „Dachdecker“ bei einer Lausanner Baufirma. Es war zwar nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte, doch ich sagte mir: lieber auf einem heissen Dach sich abrackern als vielleicht unter einer kalten Brücke hungern und nächtigen zu müssen. Aber dieses Gastspiel dauerte nur eine Woche und brachte mir zu meinem Leidwesen keinen einzigen Franken ein, da mir auf dem hohen Dach eines schönen, gelb gestrichenen Hauses im allerfeinsten Lausanner Villenviertel ein „kleines Missgeschick“ passierte, worauf ich (es gab keine Alternative) unbedingt die Flucht ergreifen musste.

Warum?

Ich hatte nach sechs Tagen vielleicht gerade mal von insgesamt 300 Quadratmetern Dachfläche dreissig mit kochendem Teer bestrichen, da stolperte ich über einen Hammer, den ich übersehen hatte und fiel gegen den gerade erst wieder von einem anderen Hilfsdachdecker aufgefüllten Eimer mit kochendem Teer, der kippte um, der Teer lief aus und bahnte sich unaufhaltsam auf dem leicht abgeschrägten Dach seinen Weg in Richtung Dachrinne, überwand diese mühelos und floss dann im Sekundentakt an der Hauswand zur Strassenseite hinunter. Ich stand wie erstarrt, wäre am liebsten vor Pein im Erdboden versunken, doch das war aus nachvollziehbaren Gründen auf einem Dach natürlich nicht möglich. Ich dachte fieberhaft nach, überlegte, was ich machen kann, was ich unbedingt machen muss, um die sich ankündigende Katastrophe aufzuhalten, doch es fiel mir nichts ein, die Flut des zur Erde strebenden Teers war nicht mehr aufzuhalten, alle meine diesbezüglichen Versuche, diesen Vorgang stoppen zu wollen waren vergebens.

Der Teer war stärker als ich. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Wirkungsstätte sofort zu verlassen, um die zu erwartende und gewiss sehr heftig ausfallende Konfrontation mit meinem Arbeitgeber zu vermeiden. Die erhoffte „Gage“, also der Lohn für einwöchige, harte körperliche Arbeit, so dringend benötigt, fand seinen Weg nicht in die alte lederne Brieftasche, die mir mein Grossvater einst geschenkt hatte. C'est la vie.

Kurz darauf befand ich mich, ich hatte den Weg vom Dach auf die Strasse wie ein Schlafwandler überwunden, inmitten unter jenen bereits vor dem Haus stehen gebliebenen Passanten, die erstaunt, vielleicht auch amüsiert und fassungslos beobachteten, wie sich die dicke Teerspur auf der gelben Hauswand immer mehr verzweigte und in Sechserbahnen Richtung Erdboden Fahrt aufnahm. Das aus dem Bauch des Zufalls gekrochene Kunstwerk nahm langsam die Form eines auf dem Kopf stehenden, riesengrossen Baumes an, dessen Geäst in wenigen Minuten überdimensionale Ausmasse angenommen hatte.

Es war einfach göttlich, es war abstrakte Malerei, eine gigantische Schwarz-Gelb-Grafik in Vollendung, dekorativ, avantgardistisch, wild und vieldeutig, Beuys, so ging es mir durch den Kopf, hätte an dieser Schöpfung gewiss seine Freude gehabt. Natürlich kam mir kurz der frevelhafte Gedanke, dieses originelle Kunstwerk, das ich der Welt unfreiwillig geschenkt hatte, zu signieren. Das schien mir dann aber doch zu keck zu sein und so nahm ich, nachdem mein „Gemälde“ immer mehr Strassenpublikum gefunden und hörbares Entzücken ausgelöst hatte, ja, da nahm ich dann doch Abstand von dieser Signier-Aktion und überlegte stattdessen fieberhaft, was ich jetzt machen kann und wie es nun mal wieder weiter gehen soll. Ich ging also erst einmal zu Serge und berichtete ihm in aller Ausführlichkeit von meinem Missgeschick. Serge hörte mir aufmerksam zu, kein Wort des Tadelns kam aus seinem adligen Mund, er tröstete mich und versprach mir, sich abermals umzuhören.

Am Abend dieses ereignisreichen Tages fiel mir (immer wieder grüsst und küsst mich das Wörtchen WENN im Namen eines mir offensichtlich zugeneigten Schicksals) die kleine Szene ein, die ich bereits am zweiten Tag meines Dachdecker-Engagements auf dem Dach eben dieses vornehmen Hauses erlebt hatte. Ich war gerade damit beschäftigt, die Mittagssonne stand hoch und heiss am hellblauen, absolut wolkenfreien Himmel, die Regenrinnen zu säubern, musste mich aus diesem Grunde flach auf das Dach legen, um auf dem Bauch liegend an die zu säubernden Stellen der Dachrinne zu gelangen, ohne mich in Absturz-Gefahr zu bringen. Während dieser nicht ganz ungefährlichen Aktion summte und sang ich so gedankenlos vor mich hin (ich glaube, es war Granada) und das hatte dann für mich überraschende, höchst erfreuliche Folgen, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht ahnen, geschweige denn wissen konnte.

Ja, wie schön ist es doch, nicht immer bereits alles sofort verstehen zu können und im Voraus wissen zu müssen, was da mit einem bereits im nächsten Augenblick und darüber hinaus geschehen wird und wohin die Reise in das Unbekannte gehen könnte. Plötzlich erschien auf dem zum obersten Stockwerk gehörenden terrassenförmigen Balkon, auf dem sich drei Dutzend rote und rosafarbene Rosen und eine fast zwei Meter hohe Palme gen Himmel reckten, eine etwa 40jährige Frau, eine aufregend schöne Brünette, die zu mir rauf schaute, mich dabei freundlich anlächelte und laut (auf Französisch) fragte: „Wer singt denn da so schön?“ Obwohl der französischen Sprache nicht mächtig, diesen Satz, den hatte ich sehr wohl verstanden.

Ich antwortete auf Deutsch, beugte mich dabei etwas weiter über die Dachrinne hinaus, sagte ihr, dass ich es bin, der da Töne von sich gibt, doch von Gesang könne keine Rede sein. Die schöne Dame, deren wohl geformter, zart braun gefärbter Körper nur mit einem schwarzen Mini-Bikini bedeckt war, sagte dann in fliessendem Deutsch mit einem entzückenden Akzent zu mir: „Ach, Sie sind Deutscher, meine Grossmutter war auch Deutsche, sie kam aus Hannover, kennen Sie Hannover?“ Ich erklärte der Dame, dass ich aus Hamburg käme, das liegt ganz nah bei Hannover.

Meine Antwort schien ihr zu gefallen, gab es doch über den Umweg namens Grossmutter und über die Nachbarschaft zwischen Hamburg und Hannover überraschend eine kleine geographische und eine feine menschliche Verbindung zwischen ihr und mir. Nachdem sie mir eine Weile aufmerksam bei meiner Arbeit zugeschaut hatte, sprach sie weiter (sie hatte eine sehr melodische, weiche, etwas dunkle Stimme, die mich an die erotisierende Stimme von Zarah Leander erinnerte),: “Was machen Sie denn da auf dem Dach, das ist doch eine viel zu schwere Arbeit für Sie, das können Sie doch in dieser Hitze gar nicht lange durchhalten“.

Die schöne Brunette hatte selbstverständlich Recht mit ihrer Einschätzung, denn ich fühlte mich in der Tat nicht gerade sehr wohl in der mir von Serge vermittelten und vom Schicksal kurzfristig zugedachten Rolle als ungelernter Dachdecker. Ich erzählte der so überaus freundlichen Dame kurz, was mir widerfahren sei (sie sagte mehrfach „Mon Dieu, mon Dieu“), dass ich, Kunststudent aus Berlin, hier nur arbeite, weil ich dringend Geld zum Überleben brauche, da mir am Ufer des Genfer Sees ein ruchloser Dieb meinen Pass und meine Barschaft geraubt hatte. Sie hörte voller Anteilnahme zu und sagte dann: „Das ist ja furchtbar und wenn ich Sie so recht betrachte, so muss ich sagen, dass Sie nun wirklich nicht für eine solche harte und primitive Arbeit von Gott erschaffen worden sind, hätten Sie nicht Lust, für mich zu arbeiten, ich habe einen grossen Friseursalon, einen Damen-Salon“.

Ich war erstaunt über ihre wohl gesetzten Worte („von Gott erschaffen“), so etwas hatte ich bisher noch nie aus einem Frauenmund und auch aus keinem anderen Menschenmund jemals vernommen. Ich bedankte mich artig für dieses freundliche, wenn auch ungewöhnliche Angebot und sagte ihr, dass ich darüber nachdenken wolle. Sie nannte mir ihren Namen (sie hiess Yvonne), vertraute mir auch ihre Telefonnummer an und verabschiedete sich mit einer Kusshand. Auch das erlebte ich zum ersten Male in meinem Leben, denn bis dahin hatte mir noch nie eine erwachsene und so schöne Frau eine Kusshand zugeworfen. Bevor sie meinem Blickfeld entschwand, warf sie mir abermals einen verführerischen Blick zu, der mich, den 24jährigen jungen Mann sehr erregte und erröten liess, was ihr offensichtlich nicht entgangen war und ihr zu gefallen schien. Ich beschloss, dass es auch mir gefallen hat.

Nach zwei Tagen hatte ich es mir überlegt (was hätte ich auch anderes tun können?) und rief sie an. Ich vernahm im Hörer zunächst erst einmal ein aufgeregtes, lautes Atmen, dessen wärmenden Hauch ich durch den Hörer zu spüren vermeinte. Als sie dann auch noch sprach, da klang ihre Stimme wie Himmelsmusik in meinen Ohren. Sie sagte nur fünf Worte: „Ich freue mich auf Sie“. Es waren die schönsten fünf Worte in meinem bisherigen Leben. Bereits einen Tag später (ich wohnte noch immer bei Serge, dem russischen Bildhauer) stand ich am frühen Abend abermals vor diesem herrschaftlichen Haus, das mitten in einem prächtigen Garten stand, der nur aus rosaroten Rosen zu bestehen schien, was ich beim damaligen Durchlaufen des Gartens und bei Antritt meines Gastspiels als Dachdecker nicht bemerkt hatte. Zu meiner grossen Überraschung schmückte mein „Kunstwerk“ noch immer die Hauswand zur Strassenseite, grad so, als gehöre es dazu, quasi als „Kunst am Bau“. Und ich war der begnadete Künstler, der dieses gewaltige Werk der Welt geschenkt hatte.

Nachdem ich eine schwere, kunstvoll geschmiedete Gartenpforte geöffnet, diese durchschritten und mich recht aufgeregt dem herrschaftlichen Hauseingang genähert hatte, da staunte ich noch mehr, denn wohin ich jetzt auch schaute, überall Rosen, nichts als Rosen, eine ganze Welt aus Rosen, Rosen in den schönsten Farbabstufungen, deren Leuchtkraft mich blendete und deren süsse Düfte meine Nase erfreuten und meine Sinne zu betäuben begannen. Und alles wurde dann auch noch überstahlt von einer glutroten Abendsonne am westlichen Himmel, die den Rosengarten, das gelbe Haus und alles um mich herum minutenlang in eine überirdische Zauberwelt verwandelte.

Mon Dieu, wie schön kann das Leben doch immer wieder sein. Ich hatte nur eine einzige, langstielige dunkelrote, unterwegs in einem kleinen Blumenladen erworbene Rose in der Hand, was mir beim Anblick der vielen exotischen Rosen in diesem Paradiesgarten höchst peinlich war und so fiel es mir natürlich auch nicht leicht, mich selbstbewusst in der Rolle eines feschen Rosenkavaliers zu sehen, der mit einer einzigen, bereits etwas zerknitterten Rose das Herz einer schönen Frau zu erobern gedenkt. Aber hatte ich das an diesem Abend überhaupt gewollt? Mit einem Fahrstuhl erreichte ich das oberste (dritte) Stockwerk des Hauses, die Dame erwartete mich lächelnd, lässig, verführerisch im Türeingang stehend, ich überreichte ihr etwas verlegen die Rose.

Sie bedankte sich artig, nahm die mittlerweile bereits erschlaffte Rose so voller Freude entgegen, dass ich glauben musste, ich hätte ihr soeben einen überdimensionalen Strauss aus hundert roten Rosen überreicht, dazu einen wertvollen goldenen Ring oder gar einen noch wertvolleren Diamanten. Sie hiess mich mit wohl gesetzten Worten und mit von Sekunde zu Sekunde zärtlicher werdender Stimme herzlich willkommen, führte meine so langsam sterbende Rose an ihre roten, leicht geöffneten Lippen, küsste diese und plötzlich auch mich leidenschaftlich auf den Mund, was mir, ich muss es gestehen, sehr gefiel und ich die Götter daher anflehte, diesen Kuss nie mehr enden zu lassen. Sie bat mich dann, ebenso atemlos wie ich mit immer noch zärtlicher werdenden Worten in die Wohnung, die mir (was ich natürlich noch nicht wissen konnte) zur sechsmonatigen Heimat werden sollte, ja, ich folgte ihr nur gar zu gern, schritt wie in Trance daher, sie nahm meine zitternde Hand und führte mich in ihr Heiligtum, geleitete mich wie eine Königin in wundersame Räume, nach deren Betreten ich glauben musste, dass ich mich jetzt und für alle Zeit in einem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ befinde.

Nie zuvor hatte ich eine solche Wohnung betreten und auch in meinem späteren Leben habe ich dann nie wieder etwas Vergleichbares angetroffen. Es gibt wohl Momente im Leben eines jeden Menschen, das glaubte ich an diesem Abend verstanden zu haben, die ihre besondere Schönheit, ihre tiefere Bedeutung und Magie allein aus ihrer Einmaligkeit, also aus der absoluten Nichtwiederholbarkeit eines freudvollen Augenblicks beziehen.

So wie ein gewaltiges Meer von Rosen im Garten in berauschenden rot-lila-rosa Farbtönen schimmerte, so war auch hier in der Wohnung alles rosa, die zierlichen Sessel mit rosa Samt überzogen, ein prachtvolles Empire-Sofa mit einem Dutzend rosafarbenen, kleinen und grossen Seidenkissen mit Abbildungen von sich paarenden schönen Mägden und edlen Jünglingen darauf, auch die langen, bis zum Boden reichenden Vorhänge aus schwerem Velours schimmerten in einem matten Braun-Rosa, die transparenten Lampenschirme, die Wände, der flauschige Teppich unter meinen Füssen, einfach alles, was mein Auge staunend erspähte, alles war in ein leuchtendes Rosa getunkt.

Aus einem leichten, dezenten Rosa schien mir auch die Farbe ihres fein geschnittenen Gesichts zu sein, rosa, so glaubte ich zudem wahrzunehmen, leuchteten sogar ihre strahlenden Augen und ihre samtene Haut, rosa war ebenfalls ihr aufregendes Kleid mit einem noch aufregenderen, meine Blicke wie magisch auf sich ziehenden Dekolleté, das zwei rosafarbene, runde und feste Brüste demonstrativ mehr offen zeigte als verdeckte, rosa war auch ihr gewaltiger Rückenausschnitt und rosa schien dann auch noch der darunter befindliche wohl proportionierte Körper dieser Götter-Frau zu sein, die sich mir dann nach dem lustvollen Verzehr feinster Köstlichkeiten, bestehend aus russischem Kaviar, aus rosafarbenen Shrimps und zarter, aus leicht rosaroter Entenbrust und dem Leeren zweier Flaschen Champagner auf verlockende und allerschönste Weise darbot.

Ich wähnte mich im Zentrum aller nur angedachten Paradiese angekommen, schwebte durch magische Räume, aus denen die Zeit der Entsagung für immer entflohen war, ich verlor wahrscheinlich mehrfach die Besinnung, erwachte daraus dann stets wie aus einem hundertjährigen Traum. Mon Dieu, wie schön und aufregend das Leben doch immer wieder sein kann, wenn man sich zur rechten Zeit am rechten Ort aufhält. Und wenn man sich später noch immer fragt, wie das alles überhaupt geschehen konnte, geschehen musste. Nennt man das nicht Karma?

Ja, was für eine unerwartete, zuvor kaum vorstellbare Wendung hatte mein junges Leben genommen, in welche Rolle war ich da unverhofft geschlüpft (wer hat mir diese Rolle angeboten?) nach meinem plötzlichen Auszug aus dem durchgeistigten Haus des Professors und aus dem avantgardistischen Kunsttempel von Serge? Ich schwelgte in Seligkeit, ohne zu begreifen, was da gerade mit mir geschah, ich war in einer anderen Welt angekommen, in einer Welt der fleischlichen und tödlichen Lüste. In dieser nie endenden Liebesnacht beschloss ich, für immer in dieser wundersamen Wohnung zu verweilen und mein noch vor mir liegendes Leben im heissen Schoss dieser ungewöhnlichen Frau ausklingen zu lassen.

Eine Steigerung von sexueller Lust, von Glück, von Wohlbehagen und auch von Heimat hielt ich in den darauf folgenden Tagen und Nächten für undenkbar, konnte es nach der Begegnung mit dieser Frau für mich wohl nicht mehr geben. Sollte das mein mir zugedachtes Schicksal sein? Ich beschloss, es genau so zu sehen. Schicksal, ja, was ist das überhaupt? Ich blieb fast ein halbes Jahr in diesem so bunten, lebensfrohen Haus, in dem die fleischliche Lust und die Liebe zu allem, was das Schicksal mir an Genuss damals herzu geben vermochte absoluten Vorrang vor allen mir bislang vertrauten bürgerlichen Regeln und noch nicht bekannten Lebensgewohnheiten hatte.

Es waren für mich dramatische und rosige Zeiten, in jeder Hinsicht, ich lebte wie in einem mich überrumpelten Traum, dem ich nicht entkommen konnte, auch nicht entfliehen wollte, total berauscht und glücklich, ich spazierte durch blühende und nach Leben duftende Gärten der Liebe und der Lüste, alles um mich herum war ein rosarotes Märchen, unwirklich und doch immer wieder allerschönste Wirklichkeit, der ich mich mit Wonne auslieferte.

Tagsüber stand ich im mondänen Friseur-Salon meiner schönen Brünette, wusch die Köpfe und färbte die Haare reicher, meist älterer Damen, tat das offensichtlich so geschickt und zur vollen Zufriedenheit der Damen, was sie mich wissen liessen, indem sie mir offen ihr schönstes Lächeln schenkten, heimlich und sehr diskret bisweilen kleine, mittlere und auch grössere Franken-Scheine zusteckten samt Telefonnummer und Visitenkarten. Letzteres sah meine Yvonne nicht sehr gern, doch ihr Geschäftssinn hinderte sie offenkundig daran, zu protestieren. Ich hingegen fühlte mich sehr wohl dabei, von diesen nicht mehr ganz jungen, auch noch nicht ganz alten, aber immer noch schönen Damen verwöhnt und gelockt zu werden, was mich zwangsläufig zu der Überzeugung gelangen liess, einfach unwiderstehlich zu sein. Und des Nachts, nun ja, da lag ich verrückt nach ihr und und immer wieder berauscht an der Seite meiner unersättlichen Liebesgöttin, schlief selig ermattet und meistens erst im frühen Morgengrauen ein.

Ich genoss diesen Zustand des sich totalen Auslieferns, des Hineinkriechens in den Leib, in die Seele und in alle Blutbahnen eines sich hingebenden, zunächst noch fremden, dann plötzlich so vertrauten Körpers, der mich lockte und an dem in jeder Liebesnacht alles noch schöner und begehrenswerter wurde. Und noch bevor ich es vollends begriffen hatte, da musste ich mir eingestehen, dass es nicht allein die Liebes- und Verführungskünste meiner dem Leben zugewandten Yvonne waren, die mich an sie, an die reife, alles wissende, sechzehn Jahre ältere Frau fesselten, nein, ich hatte mich von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht immer heftiger in eine Frau verliebt, die es mir leicht machte, mir tatsächlich ein Leben zu zweit vorzustellen und an eine gemeinsame Zukunft auch ganz fest zu glauben, was noch ein paar Tage zuvor überhaupt nicht denkbar war.

Es mag durchaus zutreffen, dass Liebe bisweilen blind macht und den Verstand immer wieder mal etwas vernebelt, mitunter sogar völlig ausser Kraft setzt. Diesen wahnwitzigen und so aufregenden Zustand eines kurzfristigen Blindseins, den hatte ich bereits einige Male zuvor erlebt und stets auch ohne grössere Schäden im Herzen, am Leib und in der Seele überstanden. Nun aber ging ich als 24jähriger Mann zum ersten mal in meinem Leben mit offenen Augen und mit wachen Sinnen, also „bei vollem Verstand“ und mit ebenso vollem Vertrauen in ein aufregendes Abenteuer hinein, kannte weder Zweifel noch Ängste, sah am Horizont meines noch vor mir liegenden Lebens nur Hoffnung, war an der Seite von Yvonne zu allem bereit, auch an eine gemeinsame Zukunft zu glauben und begann diese sogar herbei zu sehnen und sie gegen alle bösen Mächte zu verteidigen. Und als Yvonne mich nach einem fulminanten Abendessen (meine Liebesgöttin war auch eine vorzügliche Köchin) überraschend fragte, ob ich sie heiraten wolle, da war ich selbst erstaunt über die so kraftvoll und so rasch aus mir heraus gerutschten Worte „ja, ich möchte dich heiraten, ich will dein Mann werden.“

Erst viele Jahre später, als ich über diese Szene und meine Reaktion auf den „Heiratsantrag“ von Yvonne nachgedacht und auch begriffen hatte, wie ernst es ihr und auch mir damals war und wie sehr ich es mir gewünscht hatte, mit dieser wundervollen Frau ein Leben lang zusammen bleiben zu wollen, da wurde mir klar: Die Jugend in jeder Generation ist verpflichtet, dabei bis an den Rand der Selbstzerstörung gehend, alles erfahren zu wollen und erfahren zu müssen, jede Versuchung an sich heran zu lassen und all das auszuprobieren, was ihr dazu verhilft, ihren Weg ins Leben zu finden, um ihre emotionalen, intellektuellen und physischen Kräfte zu entdecken und zu kräftigen, sie muss alle von der Gesellschaft diktierten Regeln für angeblich unverzichtbare Traditionen und Denkmuster und vor allem nebulöse Tabus sehr aufmerksam und kritisch betrachten, notfalls dagegen revoltieren, sie muss ihre Welt und alle Menschen darin und sich selbst immer wieder heraus fordern, sie muss an alles glauben und zugleich alles in Frage stellen, um die Fähigkeit zu erlangen, zumindest ein wenig verstehen und lieben zu können, was da draussen in der Welt und was in ihr selbst geschieht.

So erging es auch mir. Ich hatte die erste grosse Herausforderung dieser Art mutig angenommen, doch nach sechs herrlichen Liebesmonaten wurde mir alles doch ein wenig unheimlich, meine emotionalen Kräfte waren erschöpft, ich lebte in einem goldenen Käfig und genoss diesen mich immer wieder beglückenden und verstörenden Zustand auch, doch zugleich sah ich mich zunehmend meiner Freiheit und meines Willens beraubt, ich spürte schmerzhaft, wie sich leise, ganz langsam und zunächst kaum merkbar eine nicht mehr zerreissbare Kette von Erwartungen und Forderungen immer fester um meinen Hals gelegt hatte und mich zu erwürgen drohte, so dass ich immer häufiger schweissgebadet aus dunklen Träumen hochschreckte, bisweilen dabei auch nicht mehr in der Lage war, mich quälende, mich bedrohende Albträume und mich zugleich noch immer beglückende Wirklichkeit voneinander sofort unterscheiden zu können.

Hinzu kam dann beim alles ernüchternden Tageslicht auch noch die Entdeckung, dass meine Fingernägel und auch meine Hände vom Waschen und Färben vieler prachtvoller Frauenköpfe mittlerweile partiell auch schon leichte blau-rosa-rote und nicht mehr so leicht zu entfernende Farbtöne angenommen hatten, ich begann darunter zu leiden, dass meine schöne Yvonne sich mit jedem Tag und in jeder Nacht noch heftiger an mich klammerte und ich mit Genuss und zugleich mit Angst erleben musste, wie sich eine Göttin in eine Schlange verwandelte und zum tödlichen Biss bereit war.

Sie saugte mich aus, gerade so, als wollte sie mich eher töten als fort gehen lassen. Soviel emotionale, sexuelle Wildheit und körperliche Nähe hatte ich bisher noch nicht kennen gelernt, diese diabolische Lust meiner Gespielin begann mich zu bedrohen, nahm mir den Atem und liess mich plötzlich nicht länger glauben, dass wir eine Zukunft haben könnten, was mich sehr traurig machte. Als sich dieser alles in meiner Gefühlswelt zerstörende Gedanke des Abschiednehmens eingenistet hatte, da spürte ich, wie ein grosser Riss durch mein Herz ging. Da wusste ich aber auch, dass die uns zubestimmte und so herrliche Zeit abgelaufen war und dass ich mich retten, also sofort gehen musste. Meine „rote-rosa Brille“, die ich als verliebter junger Mann ein halbes Jahr lang nicht abgenommen und nahezu wie ein Held stolz auf meiner Nase getragen hatte, sie fiel unverhofft zu Boden und zerbrach dabei mit lautem Getöse in tausende grell eingefärbte rosa-rote Scherben.

Als ich die vielen kleinen bunten Glasscherben auf dem Boden der Wirklichkeit betrachtete und meine Blicke durch die magischen Räume wandern liess, in denen ich so glücklich und liebestrunken gelebt hatte, da erschrak ich wohl ebenso heftig wie einst der Dichter Hoffmann im Zauberkabinett des Professors Spalanzani, als dessen überirdisch schön singende und tanzende „Tochter“ Olympia nach dem Vortrag einer kunstvollen Koloratur-Arie in viele Stücke zerbrach, schliesslich am Boden liegt und Hoffmann erkennen muss, dass er sich nicht in eine Frau aus Fleisch und Blut, sondern in eine Puppe, in eine Illusion verliebt hatte. Auch Hoffmann hatte sich zuvor eine rosa-rote Brille aufgesetzt.

Konnte ich aber mein Schicksal mit dem des Dichters Hoffmann aus Jacques Offenbachs wundersamer Oper „Hoffmanns Erzählungen“ tatsächlich vergleichen? Fest steht nur: Auch ich trug eine „rosa-rote Brille“, wobei ich nicht weiss, ob ich allein es war, der sich diese, die wirkliche Welt um mich herum so sehr verändernde und alles verschönernde Brille für sechs Monate aufgesetzt hatte oder ob es das launische Schicksal gewesen ist, um mich im Liebesrausch zu narren oder mir abermals eine weitere Lektion samt wichtiger Lebenserfahrung zukommen zu lassen. Ja, so enden oftmals Märchen und ganz gewiss alle Kitschromane.

Und so nahm ich, wenn auch noch immer mit grosser Trauer im Herzen überstürzt Abschied von meiner schönen Yvonne, die nicht verstehen konnte, warum ich gehen wollte, warum ich gehen musste. Ich wusste es ja selbst nicht so genau. Ich fragte mich allerdings bereits kurz nach meiner „Flucht“, ob (Kitsch oder nicht Kitsch, das ist hier nicht mehr die Frage), ja, ob ich dieses plötzliche Davonlaufen eines Tages nicht als einen gravierenden Fehler im ersten Viertel meines Lebens bezeichnen werde, hatte ich mich doch mit diesem Schritt zum ersten Mal aus dem Herzen, aus den Armen und aus dem Schoss einer mich liebenden Frau geschlichen und mich damit möglicherweise selbst aus einem Paradies vertrieben, in dem ich doch nur gar zu gern hundert Jahre und noch länger habe verweilen wollen. Wird mir das Schicksal diese vielleicht törichte und unerlaubte Entscheidung jemals verzeihen? Ich weiss es nicht, aber ich baue fest darauf, denn eines spürte ich sehr wohl, dass nämlich meine Neugierde auf das noch vor mir liegende Leben ganz einfach zu gross war.

Und so konnte die Frage in mir doch nur lauten: Wie viele neue, mir noch unbekannte und aufregendere Paradiese als das soeben hinter mir gelassene Eiland der Glückseligkeit werde ich künftig entdecken und auch dort immer wieder freudig Einzug halten, um abermals aus Lebensfreude oder nach dem Aufsetzen einer neuen „rosaroten Brille“ auszurufen, so wie es einst Goethes Dr. Faustus getan hatte: „Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn“. Ja, wie schön ist es doch, jung zu sein und das Tor zur Welt so weit geöffnet vor sich zu sehen und den Mut zu haben, durch dieses Tor in eine vielleicht ungewisse, zugleich aber auch in eine aufregende Zukunft zu gehen. Genau das wollte ich nun tun.

Axel Michael Sallowsky

Auszug aus „Treibgut nur im Strom der Zeit“