Ausnahmezustandes etwa 1.000 Personen wegen Verstosses gegen die Ausgangssperre und anderer Delikte festgenommen. Berliner Zeitung, 31. Januar 1990
Mittwoch, 3. Januar 1990
Werner Kotte und Christa Schaffner sassen auf dem Ecksofa, auf dem flachen Tischchen vor sich Wal- und Haselnüsse in einer Schale und roten Wein in den Gläsern, und schauten fern. Das Arrangement dieses Abends: Altvertrautes Paar gibt sich seiner liebsten Abendbeschäftigung hin – dem Fernsehen. Wer würde es wagen, so etwas als spiessig, altbacken, öde zu beurteilen? Sie waren Lehrer, hatten tagsüber ein gerüttelt Mass an Anstrengung, Stress und Nervenzerrieb zu bewältigen, und das Recht auf einen braven Feierabend war Paragraph Eins ihres privaten Staatsvertrages. Ausserdem war die Sendung, die gerade lief, eine Reportage über die „Alexander-von-Humboldt-Schule“.Zwei Monate lang hatte einer Reporterin und ihr Team das Schulleben begleitet, und heute lief das Ergebnis ihrer Recherchen und Dreharbeiten. „Ich weiss es wohl, dass ich noch nichts bin, und vielleicht, ich werde nie nichts werden“, hatte Kotte gesagt, als sie sich auf dem Sofa zurechtplatzierten. „Aber hebt das meinen Glauben auf? Und ist mein Glaube darum Einbildung und Eitelkeit?“
Christa hatte gekontert: „Hölderlin. Ich ahne es. Statt verdruckst über deine Eitelkeit zu sprechen, kannst du einfach sagen: Wir sind keinesfalls eitel, aber wir schauen uns diesen Film an. Mal sehen, ob wir drin vorkommen. Und wie?“ Im Übrigen glaube ich nicht, hatte sie fortgesetzt, während sie ein Kissen und ihren Kopf auf seinen Bauch legte, dass dein Vorkommen in einer Fernsehreportage zu ewigem Ruhm und weltweiter Aufmerksamkeit reichen wird.
„Uns selber zu verstehn! das ist's, was uns empor bringt“, antwortete der Deutschlehrer im Feierabend-Modus.
„Papperlapapp. Ruhe jetzt. Ich will das da verstehen.“ Sie zeigte mit zwei Fingern, in denen eine Haselnuss eingeklemmt war, auf den Bildschirm, auf dem das Logo des Jugendmagazins ELF 99 am Ende einer Zeichentrick-Fahrt durch mehrere Räume erschien. Der Titel wurde eingeblendet, „Der aufrechte Gang – Schüler und Lehrer in der Mitte der Gegenwart“, und dann besichtigten Werner Kotte und Christa Schaffner die Wochen, die hinter ihnen lagen und die so turbulent waren, dass alles Geschehen unwirklich wirkte? Nebulös, unbeherrschbar, waren sie dabei gewesen?
Der Film war geschickt gestrickt. Im Mittelpunkt standen zwei Sitzungen des „Revolutionären Schülerrates“. Auf der ersten wurde Mark Viehweger zum Vorsitzenden gewählt („Man sieht's ihm an, finde ich“, flüsterte Christa. „Ist nicht sein Ding.“ -„Na, ein bisschen eitel ist unser Dichterjüngling schon auch.“) und es wurden erste „erzieherische Massnahmen“ beschlossen; das „Erzieherische“ wurde den Lehrerinnen und Lehrern weggenommen und von den Schülerinnen und Schülern beansprucht; warum sollten nur die Lehrer ihrer Schüler erziehen dürfen und nicht auch die Schüler ihre Lehrer?
Es geht tumultarisch in der Aula zu, als – ausgerechnet – Gernot Klinkermann aufsteht und lautstark meint, es müsse Schluss sein mit der Unmündigkeit der Schüler, „wir sind keine Untergebenen, und Sie, Herr Lautengässer, sind kein Feudalfürst“. Gefordert wird die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler an sämtlichen, SÄMTLICHEN, Entscheidungen, die die Schule betreffen; die Zuhörerschaft johlt und applaudiert, Dr. Erwin Lautengässer wirkt gefasst, fast belustigt (oder tut er nur so?), und offenbar hat es dem Kameramann besonders der Sportlehrer Horst Kowalski angetan: Der Blick der Kamera erfasst sein schläfriges Gesicht und die Stoppuhr, die ihm um den Hals hängt.Der Lehrer liess keine Regung erkennen, als gefordert wird, in der sowieso überdimensionierten Sporthalle eine Ecke für Raucher einzurichten; die sowieso schlechte Luft in dem Raum würde eher verbessert werden, was mit allgemeinem Gelächter quittiert wurde.
Die Reporterin steht in einer Ecke und raunt: „Demokratie muss man aushalten lernen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Demokratie ist auch die Herrschaft der Schülerinnen und Schüler. Gegen die Willkür einer sich auf Dressur verstehenden Pädagogik wird der Willen der auf der Welle des revolutionären Herbstes getragenen Mehrheit gesetzt …“ („Uff“, sagte Werner. „Dass die die Sätze fehlerfrei zuende bringt, schon erstaunlich.“ – „Du hast mal gesagt, das Land wird an seinen Genitivkonstruktionen zugrundegehen. Könnte stimmen.“) Dann wurde Christa Schaffner als eine der beliebtesten Lehrerinnen („He, schau, du!“ rief Kotte) in den Schülerrat gewählt, weil es erforderlich wäre, auch ein demokratisches Gebot, mindestens eine „Lehrkraft“ in dem Gremium zu haben.
Die Reporterin, zugewandt, offen-freundlich, das lockige Haupthaar kaum gebändigt von einem Zopfgummi, hält Christa Schaffner ein Mikrofon von der Länge eines Maiskolbens vors Gesicht. „Als gewähltes Mitglied des Schülerrates – bei aller Sympathie, die ich bei den Zöglingen Ihrer Schule spüren, als Ihr Name genannt wurde: Haben sie nicht Bammel vor diesem Balanceakt?“ – „Was meinen Sie mit Balanceakt?“, fragte die Physik- und Mathematiklehrerin zurück.“ – „Kann man nicht sagen, dass es zwischen Schülern und Lehrern eine geradezu ‚natürliche Feindschaft' gibt, ja geben muss? Wie wollen Sie die sehr verschiedenen Interessen unter einen Hut bringen?“ – „Wieso unter einen Hut? Ich will nichts zudeckeln. Ich möchte aber auch nicht, dass bei jeder missliebigen Situation ein Hut hochgeht.“ – „Aber beide Seiten stehen sich, ich sage mal, gegenüber? Nicht miteinander …“ – „Vielleicht bilden wir alle zusammen so etwas wie einen Stromkreis. Es wird darauf ankommen“, Christa schaut direkt in die Kamera, „sorgsam zu schalten und – zu walten. Mal Gleichstrom, der in die gleiche Richtung fliesst. Mal Wechselstrom, der in bestimmten Zeiten seine Richtung ändert.“ – „Sie sind Physiklehrerein?“ – „Merkt man das?“ – „Sie meinen, dass die Probe auf die Praktizierbarkeit der Demokratie in einer Schule sicherlich ein gelungener Unterricht ist, um die Bildung zu garantieren?“ Christa nickt und sieht dabei aus, als würde sie nicht ganz verstehen, warum die junge Frau so viele Wörter um das Selbstverständliche macht. („Was bist du telegen, Weib!“, sagte Kotte, was ihm einen Stoss mit dem Ellenbogen gegen die Brust einbrachte. – „Wieso habe ich den Quatsch vom elektrischen Strom erzählt?“)
Es folgten Meinungen von Anwesenden. Eine Maria Breitling sagt, dass dies alles ein ziemlicher Kindergarten sei. Dagegen hält ein Peter Sandburg, dass dies alles den Raum für Phantasie eröffne, den Raum zum Machen. Und eine Lehrerin namens Ursula Wolters ist der Auffassung, das es vonnöten sei, in Zeiten des Überschwanges Regeln aufzustellen, und dass eine der Forderungen – dass für die Nachmittage zwischen 13 bis 16 Uhr die Aula nur, „ich betone einzig und allein“ den Klassenangehörigen der Stufen Neun bis Zwölf vorbehalten sei, denn doch schon wieder „etwas Diktatorisches“ habe.
Als gegen Ende des Films der dramaturgische Kreis mit der zweiten Sitzung des „Revolutionären Schülerrates“ geschlossen und Gernot Klinkermann zum Vorsitzenden gewählt wird – da sitzt Lautengässer auf der Bühne hinter einem Tisch und hört mit dem Ausdruck der Zufriedenheit im Gesicht zu. Gernot schlängt in seiner Rede einen grossen Bogen von Revolution zu Evolution, von der Schulspeisung zur Notwendigkeit disziplinierten Schulbetriebes, von den Errungenschaften des Sozialismus, „die wir nicht vergessen sollten“, zu dem Feingefühl, „mit dem wir die Zukunft gestalten wollen“. („Der hat's!“ – „Was hat er?“ – „Schaltstellen im Hirn. Klackklackklack. Gib ihm ein Schiff, und er ist der Kapitän und Steuermann in einer Person. Die Quadratur des Kreises? Warum nicht. Ein Leichtes für ihn.“) In Zwischenschnitten werden die Schülerinnen und Schüler gezeigt; in einem sieht man Vera und Gadji, die auf der Fensterbank sitzen und sich bei den Händen halten, aufmerksam, doch ausgeschert („O“, rief Christa, „unser Liebespaar!“ – „Was?“ – „Gefällt dem Klinkermann gewiss nicht.“ – „Vera und Gadji?“ – „Wie blind bist du denn, Kotte, du mein Poet.“); in einem Bild kann man Sylvia Hohberg beim breiten Gähnen zuschauen.
Der Film endete mit Bildern von einem Begräbnis; im Untertitel stand das Datum 25. November 1989. („O Gott!“, flüsterte Christa. „Eberlein. Kommt eine wie eine Ewigkeit her vor.“) Das Gesicht des einstigen Direktor ist zu sehen – es muss einer der ersten Drehs gewesen sein, Ende Oktober, Anfang November des letzten Jahres – mit den Sätzen: „Es wird nicht leicht für euch werden. (‚Und für uns nicht', murmelte Kotte.) Aber die Zukunft ist immer mit den jungen Menschen. Ich drücke euch die Daumen.“ Den allerletzten O-Ton hatte Peter Sandberg, der aus der Luke seines Schul-Imbisses hinaus (über dem Bild liegt der Abspann) sagt: „Mag kommen, was da will: Muttis Bouletten werden nie untergehen.“
Sie schwiegen. Werner stand auf und schaltete den Ton aus. Irgendetwas flimmerte weiter.
„Hat sie gut gemacht“, sagte Christa. „Die Reporterin.“ „Die war nicht viel älter als unsere Rabauken“, sagte Werner. „Ziemlich hübsch.“
„Sie war mindestens zehn, zwölf Jahre älter“, sagte sie. „Aber sowas seht ihr nicht.“
„Aber sie hat das gut gemacht“, sagte er.
Schweigen.
„Eberlein noch mal lebend zu sehen“, sagte Christa.
„Hast du Lautengässers Gesicht gesehen? Als hätte er in eine Zitrone gebissen und versucht auszusehen, als habe er ein Stück Schokolade im Mund.“
„Hat er ja auch. In gewisser Weise hat er das. Oder sagen wir: Die Verhältnisse haben ihn gebissen. Das macht ihn sauer.“
Werner lachte ein bisschen und ging aufs Klo. Als er seinen Platz auf dem Sofa wieder einnahm, fragte er: „Was geht in ihnen vor? Sind sie fertig mit uns Lehrern? Haben sie einen Plan für später, nach der Schule? Sind – wir m mit ihnen fertig, weil wie selber nicht wissen, wie wir mit uns weitermachen? Wie es mit uns weitergeht?“
„Frag sie doch“, antwortete Christa.
„Ich scheue mich davor, ehrlich. Ich will es wahrscheinlich nicht wirklich wissen.“
„Ich sag dir was. Ich beneide sie. Ja, ich beneide sie. Ich weiss auch nicht, was auf sie und was auf uns zukommt. Ich habe Angst, dass irgendwie wieder die Lautengässers obenauf sind. Und – ihre Nachfolger. Ihre ganze Scheisspropaganda, ihre Wendigkeit, ihr allgegenwärtiger Opportunismus. Aber die Jungen, die werden, was weiss ich, die werden monatelang durch die Welt wandern. Sie werden keine Furcht haben vor einer Welt, in der der Dogmatiker der eigentliche Egoist und Gewinner ist.
Bei Gott, ich will keine Magengeschwüre kriegen, Kotte.“
Werner musste lachen.
„Lach nicht, Hölderlin!“ Sie fauchte. „Im Grunde habe ich – nur Angst um die Romeos und Julias. Um die Liebenden.“
Werner sah ein bisschen blöd aus, als er seine Geliebte anschaute.
„Ich glaube, du bist ein bisschen blöde“, sagte Christa, legte ihren Arm um ihn, küsste ihn.
„Die Bouletten vom Sandberg schmecken übrigens wirklich“, sagte Kotte dann.
„Die Walnüsse schmecken muffig“, sagte Schaffner. „Dabei habe ich die erst vor einer Woche in Schöneberg gekauft.“
„Haben wir schon aufs neue Jahr getrunken?“
„Seitdem wir uns kennen“, antwortete Christa.
*
Die Bundesregierung teilte mit, dass im Vorjahr insgesamt 343.854 Übersiedler aus der DDR in die BRD abgewandert sind.
Im letzten Monat des Jahres 1989 hatte sich die Nationale Volksarmee (NVA) aufgelöst.
An diesem 3. Januar kam der „Runde Tisch“ zum fünften Mal zusammen. Im Mittelpunkt der Gespräche standen die desolate wirtschaftliche Lage der DDR und die Entmachtung des Staatssicherheitsapparates. Die Wirtschaftsministerin der DDR, Christa Luft (SED/PDS), beschreibt vor den Mitgliedern des „Runden Tisches“ die angespannte Lage im Land; die Regierung Modrow wolle zwar auch andere Eigentumsformen fördern, wolle aber grundsätzlich am "Volkseigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln" festhalten Nach Anbruch der Dunkelheit fand am sowjetischen Ehrenmal im Berliner Stadtbezirk Treptow eine Kundgebung mit rund 200.000 Teilnehmern statt. Sie demonstrierten gegen Neofaschismus und Antisowjetismus. Teile des Ehrenhains waren eine Woche zuvor von Unbekannten mit rechtsradikalen und antisowjetischen Parolen beschmiert worden.
*
Vier Stunden später löste sich Werner Kotte aus der Wärme des Bettes, ging in die Küche und goss sich ein Wasserglas mit Wodka voll. Er stürzte es hinunter, goss nach, setzte sich an die Arbeitsplatte unter dem Fenster. Er schaute hinaus in die Nacht mit ihren Leuchtpunkten: den Laternen, den wenigen Autos und etlichen Fenstern, hinter denen die Menschen eher grad aufstanden, um zur Arbeit zu gehen, als zu Bett zu gehen. Bis Christa barfüssig und in ein Laken gewickelt, in der Tür stand und sagte: „Es ist kalt, Hölderlin.“ „'Denn niemals gab es ein so herbes Los als Juliens und ihres Romeos'.“ Kottes zitative Bildung litt unter dem Alkohol; die Wörter, die ein S enthielten, schleifte er.
„Auch von deinem Liebling?“
„Nö. Shakespeare. Weil du vorhin was erzählt hast von den Julias und den Romeos.“
„Das weisst du also noch?“
Werner winkte ab, grad brauchte er nicht den nüchternen Sarkasmus seiner Freundin.
„Wieso klatschen die Beifall? Wieso johlen die?“, fragte er mit schwerer Zunge. „Wenn dieser perfekte Supermann Klinkermann … Wieso muss ich mir als Lehrer vor den Koffer kacken lassen.“
„Das ist so“, sagte Christa. „Hast doch gehört, was die hübsche Reporterin gesagt hat. Natürliche Feindschaft. Sehe ich genauso.“
„Ach Quatsch!“
„Sie übertreiben. Sie müssen übertreiben, weil alles raus muss. Es ist eine Zeit, in der jeder übertreiben muss, oder er wird nicht gehört. Hat ein Politiker eine dicke Nase, schrumps wird sie so gross gezeichnet wie ein Kürbis. Hat jemand zu grosse Ohren, plumps kriegt er die Horcher einer Fledermaus. Jeder Wichtelmann, der mal in der Kneipe einen politischen Sitz erzählt hat, ist jetzt ein Verfolgter und Widerständler gewesen. He, Kotte, die kommen alle wieder zu sich.“
„Zu sich? Warum sind sie ausser sich?“ Christa seufzte und sagte: „Zu meinen Gewohnheiten gehört es nicht, nachts um halb Zwei zu die Rätsel des Lebens zu lösen.“
„Das ist kein Zufall“, Werner lallte jetzt, „dass muss in ihnen gewesen sein. Das stülpt sich jetzt nur nach aussen.“
„Was denn? Dass sie tanzen? Lass sie tanzen. Bitte, komm ins Bett. Du siehst aus wie Pückler Halbgefrorenes.“
„Es reiche aber, Des dunklen Lichtes voll, Mir einer den duftenden Becher, Damit ich ruhen möge … äh …
Scheisse, wie ging das weiter? … Damit ich …Nicht ist es gut,
Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung … ist doch gut? Aus seines Herzens Grube keine Mördergrube zu machen, oder so … Von Tagen der Lieb
Und Taten, welche geschehen.“ Kotte stiess kurz auf und trank vom Glase. „Bin ich krank?“, fragte er. „Habe ich Visionen?“
„Du bist besoffen, mein Liebster, dein Gedächtnis ist in Ordnung, und du siehst aus wie Hühnchen in Aspik“ Freitag, 5. Januar 1990 „Auf der Sitzung der zeitweiligen Untersuchungskommission zu den Ereignisse am 7./8. Oktober wurde – wie wir berichteten – am Mittwoch über eine Weisung des Gesundheitsministers vom 30. August 1989 informiert, die unter anderem eine Meldepflicht an die Diensthabenden der Räte der Kreise über Patienten enthielt, die bei „Handlungen gegen die Partei und Regierung“ verletzt wurden. Dazu teilte Regierungssprecher Werner Meyer unter Berufung auf eine Information des Ministers für Gesundheitswesen, Prof. Dr. Klaus Thielmann, am Donnerstag mit, dass mit Fernschreiben vom 8.12.1989 bereits missverständliche Punkte dieser Weisung ausser Kraft gesetzt wurden und dass eine grundsätzlich überarbeitete Fassung dieser Weisung am 28.12.1989 in Kraft trat. Der Gesundheitsminister wies den Vorwurf zurück, die Ärzte seien mit dieser Weisung zum Bruch ihrer Schweigepflicht angewiesen worden. Der Untersuchungsausschuss werde detaillierte Informationen erhalten“, Neues Deutschland, 5. Januar 1990.
*
Die erste Nummer der Zeitschrift DAS GANZE ist erschienen! Sie wurde in 100.000 Exemplaren gedruckt, vorgesehen war, dass sie alle zwei Wochen erscheint. Sie verstand sich als erstes und einziges unabhängiges Blatt und als Zeitung für „alle basisdemokratischen Initiativen“. Ob es ein wirklich unabhängiges Periodikum überhaupt geben kann – das war eines der heiss diskutierten Themen all der Frauen und Männer, die mit der Vorbereitung – Planung, Organisation, Gestaltung – befasst waren. (War eine solche Unabhängigkeit möglich? Von wem kam das Geld für ein solches Projekt? Hiess es nicht stets, wes Brot ich ess, des Lied ich sing? Oder liess sich ein Printmedium herstellen, das sich allein durch ihren Verkauf finanzierenlässt? Weil es genügend Käuferinnern und Käufer dafür gab?) Heute erschien sie! Heute lag sie auf Stapeln in den Räumen der Redaktion auf den Tischen! Heute hielt sie fast jeder der Gäste in der einen, während mit der anderen Hand ein Glas Wasser, Wein oder Bier oder ein Teller mit Schnittchen von Plauderei zu Plauderei, von Person zu Person, von Grüppchen zu Grüppchen balanciert wurde.
Als Vera, begleitet von ihrer Freundin Sylvia und den Freunden Peter und Mark (an seiner Seite Dörte, die Studentin, die Vera während der Beerdigung Eberleins kennengelernt hatte und von der sie inzwischen wusste, dass sie zusammen mit Mark zur autonomen Szene in Friedrichshain gehörte) durch die weit offenstehende, deckenhohe Doppeltür der Redaktion eintrat, blieb sie beeindruckt stehen.
Die Räume waren die Zimmer einer Wohnung, die am Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die Mitte des 20. Jahrhunderts von betuchten Bürgerfamilien bewohnt worden waren. Die Fassade des Hauses öffnete sich zur Französischen Strasse hin, auf der anderen Strassenseite stand das Schauspielhaus, das erst in den letzten Jahren äusserlich originalgetreu saniert worden war. Aus den Fenstern konnte man auf den Gendarmenmarkt schauen; dies war eine der nobelsten Adressen Berlins und sollte jetzt die Herberge einer mit Ungestüm in die Welt getretenen avantgardistischen Ambition sein? Voilà! Da schau her, da schaut hin! (Dabei war sowohl die Zweckentfremdung wie das Finden und Besetzen von Wohnungen oder sonstigen Räumen derzeit kein Problem. Zig Tausende Wohnungen standen leer; es waren die Wohnungen der Auswanderer, deren Zurückkehr ungewiss war. Es waren Büros, ganze Etage, die von einst bestehenden Ämtern, Filialen, Institutionen geräumt waren und leer standen oder den mittlerweile offiziell genehmigten Gruppen, Gruppierungen, kleinen Verlagen als Arbeits-Terrain zugesprochen worden waren.)
Die Gruppe um Vera nahm Witterung auf. Sie waren die Jungtiere der Horde, die sich vor ihren Augen und Ohren erwachsen und in Masse ein raunendes, von gezähmten Lachen unterbrochenes, parlierendes Stelldichein gab. Sie bewegten sich noch nicht mit der Geschmeidigkeit der Erwachsenen (eine Geschmeidigkeit, die, beobachtet man das Wogen und Treibben etwas genauer, etwas Rituelles, ja Gezirkeltes hatte) –, sie waren nicht Teile des Netzwerkes derjenigen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten kannten und sich zwischen Kabalen, Hass und Zuneigung und Freundschaftseiden und Gerichtsverhandlungen eingerichtet hatten (satte Raubtiere in der Savanne des Zeitngsmarkts; zweifelsohne waren viele der Anwesenden Abgesandte von Zeitungen, Buchhandlungen, kleinen Verlagen Westberlins) – , sie waren von Veras Mutter eingeladen worden, bei der Premierenfeier – konnte man so sagen, obwohl es sich nicht um eine Theater-Aufführung handelte; obwohl esdurchaus etwas von Theater hatte –dabei zu sein. Oder sie waren gekommen, weil sie gehört hatten, dass es was zu feiern und zu unterstützen gab in diesem alles in allem noch immer befremdlichen Ostteil der Stadt Berlin mit seinen naiv-rebellischen Einwohnern.
Mark, der eine Weile den Stuck der hohen Decken und das feiernde Publikum betrachtet hatte, knittelte: „An den Decken klebt der Stuck und an Hälsen Mode- Schmuck. Zwischen diesen Samttapeten lebten eins die Grosskopfeten. Aber jetzt, was willst du mehr, lebt hier drinnen, ähm, der Revolutionär.“
„Was sind Grosskopfeten?“, fragte Peter.
„Weiss ich nicht genau“, gab Mark zu. „Aber es klingt gut.“
„Holprig“, sagte Sylvia. „Also ich such mir jetzt hier einen Millionär, den ich heiraten werde.“ Vera zweifelte nicht daran, dass ihre Freundin genau einen solchen unter den lässigen Linken des Westens finden würde. Es sei ja nicht so, hatte Victoria der Tochter an einem der raren, zweisamen Abende beim Licht der Weihnachtsbaumkerzen, beim Naschen von Marzipan und Wein zwischen Weihnachten und Silvester mitgeteilt, dass diese Linken aus dem Westen alle arm Würstchen Etliche seien unter ihnen, die den kapitalistischen Markt zu nutzen wüssten. Angewandter Marx sozusagen. Andere verfügten über erhebliches Erbe. Aber das Gute sei eben, sie verprassten es nicht (nicht nur, kicherte sie; Vera liebte ihre Mutter, wenn sie angeschickert war) in der Karibik, sondern sie sorgten mit ihrem Geld für, naja, für was Progressives. Und die Redaktion der GANZEN sei zum grossen Teil „rein materiell“ von ihnen ausgestattet worden. Elektrische Schreibmaschinen, Büromöbel, Telefone, Bücher, Papier …
„Wie unmoralisch!“, seufzte Peter komödiantisch und nahm sich von einem Tablett, das gleich neben dem Eingang auf einem langen mit einer weissen Decke belakten Tisch stand, ein Glas Sekt. Jedenfalls wahrscheinlich Sekt; das Getränk perlte. Er schaute Sylvia hinterher, die es fertig brachte, dass sich das Meer vor ihr wie selbstverständlich teilte (war Moses doch eine raffinierte junge Frau? Gewiss, falls das Meer aus Männern bestand); man trat beiseite, um sie durchzulassen, dorthin, wohin zu gehen sie selbst nicht genau wusste. Würde sich fügen. Und sie genoss die Blicke der männlichen Revolution.
Vera hielt nach ihrer Mutter Ausschau. Sie sah, dass sie in einem der Räume, vermutlich ihr Chefredakteurin-Büro, an einem Schreibtisch sass. Und wieder mal war das Licht eines Scheinwerfers, eine Kamera, die Aufmerksamkeit des Fernsehens auf sie gerichtet. Vera seufzte, wandte sich ab und wäre beinahe mit einem Jungen in ihrem Alter zusammengeprallt. Er hatte an einer Flur-Wand gestanden und sich gerade in Bewegung gesetzt, als Vera auch losging. Das Getränk in seinem Glas schwappte und Vera bat um Entschuldigung. „Ach, Wasser“, sagte er. „Vielleicht darf ich dir etwas holen. Wasser? Wein?“ „Gern“, sagte sie. Der Junge verschwand im Gewimmel wie ein Komma in einem sehr, sehr langen Satz. Vera schaute sich um, wartete, entdeckte ein Grüppchen, das aus dem Dramaturgen Friedhelm Münch, seiner Schauspielerfrau Doris Kalaver und dem Filmregisseur Konrad Grau bestand und unter sich im Gespräch war. Natürlich, dachte Vera, wenn jemand in diesen Abend passte, dann die Gefährten der Konspiration. Sie musste lächeln, als sie an den aufgeregten Auftritt des Regisseurs dachte, der eines Abends hereingestürmt war und von der Bedrohung durch die Stasi-Schergen warnte. Das schien lange her zu sein. Soweit sie wusste, war von dem einst mächtigen Apparat der Staatssicherheit nicht viel übrig geblieben; aber was weiss man schon von einem Geheimdienst? (Genügend Gerüchte waberten durchs Land. Geheime Waffenlager in Bunkern in den Wäldern rings um Berlin. Verschobene Gelder und Informationen, die abgesaugt waren vom amerikanischen CIA. Agenten, die sich längst als Agenten für andere Geheimdienste andienten und Agenten, die sich versteckten; vielleicht war der Nachbar ja auch einer. Und ob die Gerüchte vom Geheimdienst selbst oder nur von irgendwelchen Trollen, die in den Sträuchern und im Schilf am Ufer eines Brandenburger Sees hausten, gestreut waren – wusste auch so recht niemand. Ausser diejenigen, die die Gerüchte in die Welt setzten; aber die kannte niemand, und wer sie kannte, der war sich seines Wissens nicht sicher.)
Vielleicht haben Schauspielerinnen und Schauspieler ein Gespür dafür, dass sie beobachtet werden, wenn sie von Leuten betrachtet werden, auch von weitem, fragte sich Vera, als die Kalaver, von einem Gewand aus leuchtend rotem Stoff geflutet, plötzlich ihren Kopf wendete und geradewegs Veras Blick erwiderte. Strahlend und herzlich und mit einem Schulterzucken grüsste sie winkend und bedauerte mimisch zugleich, dass sie gerade noch beschäftigt sei, aber man würde sich noch treffen und plaudern an diesem Abend. Ob Sabrina, die Tochter der Mimin, auch da war? Das Komma, fast zwei Meter lang, war zurück. Der Schlaks reichte ihr ein Glas und fragte: „Hast du schon mal Shakespeare gelesen?“
„Wenig“, sagte Vera. „Aber ich kannte einen alten Mann, der las nur Shakespeare.“ Glaube ich jedenfalls. „Er war ein Schuster, und er las Shakespeare. Aber vielleicht war er auch ein Schauspieler, der einen Schuster spielte und behauptete, dass er Shakespeare liest.“
„Ich verstehe“, sagte der Junge und sah sie trübe an. „Kennst du die Geschichte von Romeo und Julia?“, fragte er dann.
„Wer nicht.“
„Das ist das eigentliche Problem“, sagte er ernsthaft. „Zwei lieben sich und wollen zueinander, aber sie dürfen nicht. Das ist doch krank.“
„Wenn man sich liebt“, meinte Vera, „dann klappt das schon irgendwie.“
„Bist du leichtfertig?“ „Ich, mh, nein. Ich glaube nicht.“
„Nein, nein, niemand gönnt einem anderen die Liebe. Man ist neidisch auf diejenigen, die sich lieben. Man möchte die Liebe zerstören. Die meisten ertragen es nicht, wenn andere einfach nur glücklich sein wollen.“ „Hast du Kummer?“, fragte Vera. „Oder gehörst du irgendeiner Sekte oder sowas an?“ Der Junge trank von seinem Glas und schüttelte den Kopf; vermutlich würde er den Unterschied zwischen Wein und Salzsäure nicht schmecken. „Ich glaube eben nur, dass es keinen Frieden geben wird, solange die Menschen nicht wirklich einander lieben.“
„Das ist sehr allgemein gesagt“, sagte Vera. „Das ist, denke ich, allgemein gesagt, richtig.“ Sie mochte, wie der Knabe redete. Nur hatte sie das Gefühl, dass es alles bedeuten konnte – und auch nichs. Beides zugleich geht nicht. Oder doch?
„Anders kann ich nicht reden“, sagte er. „“Es ist alles – so konkret. Und das Konkrete ist widerlich, weisst du.“
„Bist du aus dem Westen?“, fragte Vera. Er nickte. „Warum bist du hier?“
„Ich weiss nicht“, sagte er. „Wo soll ich sonst sein?“
War er verrückt? Wie kam ein Verrückter auf diese Party? Gut, vielleicht waren ja alle hier ein bisschen verrückt, einschliesslich du selber. Vielleicht hielten sich alle für vernünftig, vielleicht waren alle im Besitz der Wahrheit (was denke ich gerade für einen Käse? welcher Wahrheit denn?) und vielleicht war das das Verrückte? Papier im Kopf, ein Streichholz genügt und puff.
Jetzt rutschte der Junge an der Wand herunter in die Hocke. Er stellte sein Glas neben sich. Vera sah auf seinen Kopf, der spärlich bewachsen war. Dann hockte sie sich neben ihn. Sie hatte entschieden, dass es sich um einen wohlerzogenen Jungen handelte, aus dem Westen, der sich zwischen den Sätzen, die er jeden Tag las, verirrt hatte. Sie wollte ihn fragen, was mit ihm los sei, als plötzlich ihre Mutter vor ihnen stand. „Hier bist du!“, sagte sie. Ihr Blick ging zwischen der Tochter und dem Jungen, der in seiner fötalen Haltung lasch-erloschen wirkte, hin und her.
Vera blickte auf und sagte zu ihm: „Meine Mutter. Victoria.“ Er stand auf, straffte sich, der Junge wurde zu einer erwachsenen, erlernten, einstudierten Pose, und sagte: „Sehr angenehm, Frau Lothringen! Wie ich weiss. Die Chefredakteurin. Mein Name ist Joseph von Weichenstädt.“ „Ich wollte nicht stören“, sagte Victoria. „Sagen Sie das nur der Höflichkeit wegen, oder meinen Sie es auch so?“
Victoria schaute Vera fragend an. Die grinst in das Glas oder am Glas vorbei in das Parkett.
„Ich bin der Wahrheit verpflichtet“, sagte Victoria leichthin und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.
„O Gott!“, rief der aus und stürzte davon. Den Korridor entlang, hinaus aus der grossbürgerlich-revolutionären Hütte. (Vera wird ihn nie wieder sehen.)
„Was war das für einer?“, fragte Victoria.
„Ein Unglücklicher“, sagte Vera.
„Riechst du das?“
„Besser nicht. Aber ich habe mehr Zeit als du. Ich hab's nicht eilig. Ich habe Zeit um zuzuhören.“
Wie zappelig du bist, Mama. Du vibrierst. Du möchtest überall zur gleichen Zeit sein. Das geht nicht. Das habe ich bei der Schaffner gelernt: Wo ein Körper ist, kann ein anderer nicht sein. Reine Physik, das Leben. Plus ein bisschen Gefühle, das macht alles unsicher. Du hast die Zeitung gewollt, nun hast du sie. Was noch?
„Du schaust aus wie eine Frau, die im siebten Monat und sehr glücklich ist“, sagte Victoria. Sie lenkte ab. Sie überhörte den Vorwurf, den die Tochter ihr machte; es war nicht der Abend, um über die schwierige Kommunikation zwischen ihnen in den letzten Wochen und Monate zu sprechen. Die Zeit dafür würde kommen, wenn sie sich die Zeit dafür nahm.
„Was? So dick?“
„Schwangere Frauen sind nicht dick!“, sagte Victoria, einst eine Hebamme, jetzt die Chefredakteurin des Tages.
„Okay. Vielleicht bin ich im ersten. Aber auch das kann nicht sein. Ich habe meine Tage.“ „Ich muss dann wieder“, sagte Victoria und wies mit dem Kopf in die Gesellschaft. „Wollen wir uns morgen einen gemütlichen Abend machen? Nur wir zwei.“
„Machen wir“, sagte Vera; wahrscheinlich eher nicht. * Eine Stunde später sprangen vier Zicklein (Vera, Sylvia, Peter, Mark) durch die abendlichen Strassen der Berliner Mitte. Sie spielten Hopse auf den quadratischen Betonplatten der Bürgersteige. Sie hielten inne, als sie vor der Jannowitzbrücke die Spree errichten, beugten sich über das Gelände und liessen eine der Flaschen (unterwegs geleert), die sie der Zeitungs-Party entnommen hatten, ins Wasser fallen. Wir hätten eine Flaschenpost aufgeben sollen, meinte Mark. --- Und was sollte auf sonem Zettel stehen? fragte Sylvia. --- Und wen sollte sie erreichen? fragte Peter. --- Eine Flaschenpost, ja! rief Vera und drehte sich dreimal um sich selber, die Arme ausgebreitet, ein Propeller. --- Sie hebt gleich ab, griente Sylvia. --- Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht! schrie Peter in den dunkelblauen Himmel. --- Irgendwas von Liebe und Zukunft, wär nicht schlecht, sagte Sylvia. --- Ab geht er wieder, befahl Peter, wir haben's noch weit. --- In die Zukunft? fragte Mark. --- Bist du betrunken, mein Freund? Wir haben ein Ziel! --- Du hast ja ein Ziel vor den Augen, stimmte Sylvia ein Lied an, das sie nie gemocht hatte, das aber wie ein ideologischer Bandwurm in ihr wohnte, damit du in der Welt dich nicht irrst … --- Es lebe der Irrtum! rief nun Mark. Wer sich nicht irrt, wird irre. Aphorismus Nummer 007, aus dem Band ‚Viehwegers Viehwege'. Wird grad da oben irgendwo gedruckt, zeigte er mit beiden Händen zu den Wolken, legte den Kopf so weit nach hinten, dass er hintenüber gekippt wäre, hätte ihn nicht Sylvia gestützt. Und die Zicklein sprangen weiter, sie hatten ein reales Ziel; sie wollten in ein Haus, in eine Strasse, die von jungen Leuten besetzt war, dort gabe es alles, was sie brauchten. Auch Schlafplätze. Und es wird Menschen gegeben haben, die wach in ihren Betten lagen (oder geweckt wurden), und die erstaunt (oder verärgert) hören mussten, wie jugendliche Provokateure – die machten sich ja neuerdings überall breit, ob rechte, ob linke Wirrköpfe, runde Tische und eckige Parolen; und der brave Bürger konnte sich seiner nicht mehr sicher sein und einer ordnenden Staatsmacht auch nicht mehr? alles perdu und schwankend – lauthals und trunken sangen: „Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsre Schützengräben aus. Und der Morgen grüsst schon aus der Ferne, bald geht es zu neuem Kampf hinaus. Die Freiheit ist weit …“ (und wer den schrägen Gesang hörte und das Lied kannte, murmelte vor sich hin: Die Heimat ist weit, die Heimat, nicht die Freiheit. Habt ihr nichts Richtiges gelernt in der Schule?)
Samstag, 6. Januar 1990 Vera weckten die jaulend-spitzen Töne von Sirenen und ein hartnäckiges Rütteln an ihren Schultern. „Steh auf, Vera, los! Steh auf! Los! Die Bullen sind da! Wir müssen weg!“, hörte sie eine Stimme, die Sylvias sein könnte. Was für Bullen? Polizei? Nicht schon wieder, schoss es durch Veras Kopf, der ihrem Gefühl nach zwei Elefantenohren, zwei Elfenbeinzähne und einen Rüssel trug. Ausserdem schwappte es in ihm.
Jetzt hockte sich Peter neben sie, eindeutig, das war Peter, unser aller Scherzkeks und Klassengefährte. „Komm schon, Vera! Hier wird's gleich ungemütlich! Los, hoch! Die Kameraden wissen, wie wir hier rauskommen!“ Er zog an Vera, sie liess sich ziehen, stand. Ihr wurde der Pullover übergezogen, ihr wurden die Schuhe hingehalten, sie liefen mit ihr los. Sie durchquerten etliche Zimmer, stiegen Treppen hinab in Keller, die nach Feuchte, Kühle, Kohle und Abfällen rochen. Jemand, der den Weg kannte, lief ihnen voraus. Und als sie aus der Berliner Unterwelt über eine Treppe in die grelle Helligkeit des Tages gestossen wurden (von sich selber, von ihren Beinen, von ihren Körpern, die funktionierten wie angeschraubte Automatik) –, fielen sie um und rangen um Luft.
„Was, was …“, stammelte Vera.
Von weitem waren die Polizeisirenen zu hören. Unverständliche Ansagen durch Megaphone. Das Knattern eines Hubschraubers, der von hier aus genau nach dem aussah, wonach er erfunden wurde: nach einer Libelle. Nur dass Libellen über einem Teich stehen und filigrane, fast lautlose Geschöpfe sind.
„Das war knapp“, japste Sylvia nach Luft.
„Scheisse!“, knurrte Peter. „Mark ist da drin geblieben. Ich fühle mich wie ein Feigling.“
„Besser feige als ein Loch im Kopp“, sagte Sylvia. „Oder gebrochene Knochen. Frag mal Vera! Und Mark, Mark ist ein Idealist, du bist keiner.“ „Was soll das denn?“, fragte er wütend. „Und was bist du?“
„Was … was …“, wieder Vera. Sie hielt die Augen geschlossen und wurde von den Bildern des gestrigen Abends und der Nacht geflutet. Friedhelm Münch war mit seiner Gattin Doris Kalaver auf sie zugekommen. Der Theaterdramaturg hatte ihr mit der Grandezza eines alternden, hüftsteifen Mimen einen Kuss auf die Hand gehaucht, ihren Mut bewundert und von ihr als Heldin gesprochen. Wegen der gebrochenen Knochen vor ein paar Wochen; sie sei keine Heldin, hatte Vera gesagt. Alles andere als das, ein zufälliges Opfer. --- Seine Frau hatte sie gefragt, wo Sabrina sei. Die Schauspielerin hatte geseufzt. Ihre Tochter habe sich noch vor Weihnachten nach London auf den Weg gemacht. Sie wolle die Rockmusik da hören, wo sie echt gespielt wird, meinte Frau Kalaver. --- Dann kam Victoria vorbei und bestand darauf, sie einem Pärchen vorzustellen, die einen Westberliner Verlag leiteten, und sie hatten Sätze gewechselt, an die sich Vera nicht mehr erinnern konnte. --- Und dann wurde ein sehr kleiner Mann mit Gitarre und einem gewaltigen Schnauzbart angekündigt, ihm gebühre das historische Verdienst, am Verschwinden der Mauer einen gehörigen Anteil zu haben. Worauf der Sänger bescheiden abwehrte, er habe doch nur Lieder gemacht, um die Bonzen zu ärgern und einen gewissen Widerstand zu leisten mit seinen Versen; aber seine Bescheidenheit, fand Vera gespielt, er strotzte vor Eitelkeit. Als er mit krächzender Stimme zu singen anfing, war Sylvia an ihre Seite getreten und hatte gemeint, sie fänden (Peter und Mark und sie), es sei an der Zeit, die Orte zu wechseln. Oder willst du dir den da anhören? hatte Sylvia gefragt. --- Nö. --- Sie waren mit einem Raumschiff auf einem Planeten gelandet, ausgestiegen und hatten festgestellt, dass es der falsche war. Sie mussten neu starten. --- Und sie waren aufgebrochen und ihren Weg in das besetzte Haus gegangen, quer durch die Stadt, frei und albern und frech wie die Sperlinge, wenn sie in einem vollbesetzten Bierlokal zwischen den Beinen der Gäste und Tische, zwischen Gläsern und Tellern, zwischen dem Menschen-Geschnatter und der Live-Musik dreier Jazzer Bröckchen Wurst und Brot pickten. --- Das Haus war eine über die Zeit und über vier Etagen heruntergewanzte Bude, deren Wände mit Graffitis und Sprüchen besprüht waren. Auch hingen die Porträts ehemaliger DDR-Politiker da, neben ihnen die Antlitze von Rosa Luxemburg, Stalin, Lenin, Karl Marx und etlicher Personen, die Vera nicht kannte. Rote Fahnen, DDR-Flaggen, die Fahne der UdSSR. --- Alle Türen standen weit offen oder fehlten. Ein Hin und her von Mädchen und Jungen. --- Musik. Killdozer. Pixies. The Lemonheads. Aus irgendeinem Zimmer schallte Bruce Springsteen. --- Schliesslich fand sich Vera auf einer Matratze wieder, neben ihr sass Mark und hielt in der Höhle seiner beiden Hände eine Zigarette, die er ihr hinhielt. Sie ekelte sich vor dem zungenfeuchten Papier und fragte, was das sei. --- Bist du unglücklich, macht es dich noch unglücklicher, bist du glücklich, macht es dich noch glücklicher, antwortete Mark, der entweder von der Zigarette oder vom Alkohol oder von beidem glasige Augen und eine schwer Zunge bekommen hatte. Und du bist doch lücklich? Mit Gadji? --- Sie nickte und zog an der krumpelig-selbstgedrehten Zigarette. Ihr fiel dieser Jospeh wieder ein. Es würde sie nicht wundern, tauchte der hier auch auf zwischen all den Typen, die Wert auf Zerschlissenheit und Rebellion legten und die, spürte sie, von einer trotzigen Traurigkeit umflort waren. Dieser Joseph sollte solche Zigaretten nicht rauchen. --- Und dann fragte Mark sie, ob er ihr Haar anfassen dürfte. Und sie nickte und gestattete es, obwohl sie die Frage befremdlich fand. --- Ich bade meine Hände in deinem Haar, sagte er; halb war er eingeschlafen, halb abgedreht. --- Warum? --- Weil ich sie beschreiben will, sagte er, ich muss fühlen, was ich beschreiben will. --- Vera gluckste. Alles? --- Alles. Die kleinste Muschel auf dem Grund des Ozeans und die Sonne im All. Meinen Fusspilz, wenn ich einen kriege, und das Herz in der Brust einer Jungfrau. Vom Sieg des Kommunismus, wenn er siegt, und von den Gräueln des Kapitalismus. Da musste Vera, nachdem sie einen zweiten, kurzen Zug genommen hatte, kichern. Ach, Viehweger, Viehweger! --- Kannst du dich noch an unser Programm erinnern? fragte er lallend, und Vera fragte sich, wie einer so schnell von einer Sache zur anderen springen konnte. --- Ist fünfhundert Jahre her. Ich glaube, ich bin jetzt achtzig Jahre alt. --- So weise, fragte Vera. Sie war auf einmal müde, nur noch müde. So alt, so riesig, ungeheuer, bonzenmässig malade. Mark sackte zur Seite und grunzte einmal laut und war eingeschlafen. Vera zog noch einmal an der Zigarette, die sie mit zwei spitzen Fingern hielt wie ein unbekannt-ekliges Insekt.
„He, Vera, was ist los?“ Sylvia sass neben ihr in der S-Bahn in Richtung Erkner. Fuhren sie nach Hause? Hoffentlich. Vera wollte nur noch Hause, in ihr Bett, schlafen, bis der Arzt kommt. „Fahren wir nach Hause?“, fragte sie. „Aber immer.“ Sylvia lachte und schmiegte sich an die Freundin. Ihnen gegenüber sass Peter Sandberg, die Augen geschlossen, ihm hing ein Speichelfaden aus dem linken Mundwinkel.
„Igititigitt! Freunde haben wir, nee, oder?“ Sylvia schüttelte sich, zog ein Taschentuch aus ihren Jeans und wischte des Knaben Gesicht behutsam sauber. Vera schaute zu, lächelte, ihr war warm und sie war – zufrieden. Peters Augenlider zuckten. Es schien, als blinzelte er mit dem rechten Auge. Es sah aus, als habe er alles gehört und gespürt.
Mittwoch, 10. Januar 1990
Zwei junge Menschen fuhren in die Stadt; so sagten die Leute, wenn sie aus Köpenick oder aus Karlshorst oder noch weiter weg aus Mahlsdorf oder Wilhelmshagen die S-Bahn nahmen, um in die Stadtmitte zu fahren. Der eine Mensch war eine junge Frau, die in Berlin geboren war; der andere Mensch war ein junger Mann, der 3.600 Kilometer weiter östlich in einer Stadt am Meer aufgewachsen war. Beider Menschen Wege kreuzten sich in einer Schule in Köpenick zu einer Zeit, als Wunder geschahen. Eine Mauer, die die Stadt geteilt hatte, war urplötzlich gefallen (und hatte verwirrenderweise dafür gesorgt, dass es zwei Stadtmitten gab). Eine Regierung war sang- und klanglos abgetreten, ihre Mitglieder mussten sich vor dem Volk, das sie einst gewählt hatte, dafür verantworten, dass sie nicht achtsam und klug das Land gesteuert hatten. Ausserdem zeigten allerlei politische und wirtschaftliche Ereignisse an, dass es bald ein geeintes Deutschland geben würde. Wunder über Wunder, aber das grösste Wunder blieb die Liebe,Vera und Gadji stiegen am Bahnhof Alexanderplatz aus. Dies hier sei das Zentrum meiner Stadt, hatte das Mädchen gesagt, und das will ich dir zeigen. Ausserdem hiess der Platz nach dem russischen Zaren Alexander, der Anno Piepeinmal vom Preussenkönig Friedrich Wilhelm III. zu Besuch empfangen worden war; aus diesem Anlass fand eine Parade auf dem Platz statt, und der erhielt dem Zaren zu Ehren dessen Namen. Vielleicht, sagte Vera grinsend, ist das eine Art Vorläufer der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Oder der Deutsch-Aserbaidschanischen? fragte Gadji. Obwohl ich glaube, damals gehörte Aserbaidschan nicht zum Reich der Zaren und später erst zur Sowjetunion? Das soll uns egal sein, sagte Vera, und griff nach seiner rechten Hand.
Gadji hatte seinen Kiez, seinen shiloyi rayon, noch nie verlassen, seit er im Sommer 1989 mit seiner Familie nach Karlshorst gezogen war. Es war nicht üblich, dass sich die Töchter und Söhne der sowjetischen Offiziersfamilien auf den Weg machten, die grosse Stadt zu erkunden. Sie blieben unter sich, und Vera hatte bisher nicht gewagt zu fragen, ob das ihre eigenen, persönlichen Entscheidung war – oder ein bindender Befehl „von oben“. Denn obwohl die Deutsch-Sowjetische Freundschaft bis vor kurzem noch zum Kanon der Erziehung gehörte (war sie inzwischen aus den Schulprogrammen und aus der Bewusstseinsbildung gestrichen?) –, vielleicht war es unschicklich oder als Fraternisierung unerwünscht, wenn sich Sowjetbürger und DDR-Bürger aufeinander einliessen? Es gab so vieles, das offiziell behauptet wurde, wie es so vieles gab, das entweder nur verzerrt oder überhaupt gar nicht so existierte, wie es behauptet wurde.
Vera und Gadji, Hand in Hand, umrundeten die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Wie immer waren viele Menschen hier, standen wartend oder liefen unruhig um die Uhr herum. Sie alle waren Sterne, die um andere Sterne kreisten – wie die Planeten-Kugeln des Sonnensystems auf ihren mit Stahl-Kreisen angebrachten Bahnen über der Uhr in jeder Minute rotierten. Oder zogen andere Sterne an, um mit ihnen gemeinsam die Zeit zu verbringen. Vielleicht ein Leben lang, vielleicht nur für einen Restaurantbesuch, vielleicht um gemeinsam einkaufen zu gehen.
„Baku“, sagte Gadji und zeigte auf den Stadtnamen, der in die Rotunde eingefräst war. „Hier ist jetzt 13.34 Uhr. In Baku ist es 15.34.“
„Hast du Sehnsucht?“, fragte Vera. Gadji zuckte mit den Schultern und sagte: „Wir werden im Februar nach Baku fahren. In den Winterferien. Doch, ich freue mich darauf.“
„Ich kann ja mitkommen?“, sagte Vera kokett und legte ihren Kopf an seinen rechten Oberarm.
„Eines Tages werden wir zusammen fliegen“, sagte Gadji ernsthaft. „Ich hoffe es.“
„Musst du eines Tages zurück? Ich meine, du und deine Familie? Das ist doch so mit Offizieren wie deinem Vater? Und mit ihren Frauen und Kindern?“ Gadji zuckte mit den Schultern und liess Veras Hand los. Als wollte er ein Stück von ihr abrücken. Das war die Zukunft, das war etwas, das kommt, unweigerlich, wie ein Schicksal. Das war etwas, über das Gadji nicht nachdenken wollte. Das würde kommen – wie ein Asteroid, der auf der Erde einschlägt. Und vielleicht brachte der Blumen mit.
Vera griff nach seiner Hand und schaute ihm in die Augen. „Ist noch Zeit bis dahin“, sagte sie. „Komm. Weiter. Ich will dir noch vieles zeigen.“
*
Am Vortag hatten die Kosmonauten Alexander Viktorenko und Alexander Serebrow die Raumstation „Mir“ verlassen und waren fast drei Stunden im freien Kosmos draussen. Sie legten 35 Meter zurück, brachten zwei Navigationsapparate an und „bargen von der Aussenwand Materialien, die über einen langen Zeitraum den Bedingungen des freien Weltalls ausgesetzt waren“.
Am gleichen Tag wurde der ehemalige DDR-Staatssekretär Dr. Alexander Schalck-Golodkowski aus der Justizvollzugsanstalt Moabit auf freien Fuss gesetzt. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort sei unbekannt. Der Bundesnachrichtendienst und Schalck selbst befürchten, dass dem Ex-Staatssekretär vor einem DDR-Gericht Landesverrat vorgeworfen werden könnte.
Am Sonntagabend gab der Rocker Udo Lindenberg ein Konzert in der Leipziger Messehalle 2. Zu den letzten Takten des Liedes „In fünf Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm“ marschierte die Big Band der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Uniform auf die Bühne, und am Ende des Konzerts holte der Säger Kinder aus Namibia, die in der DDR zeitweilig zu Hause waren, auf die Bühne und illustrierte damit den Titel „Bunte Republik Deutschland“.
Zum 100. Geburtstag Kurt Tucholskys veröffentlichte das „Neue Deutschland“ einen Text des „besten Chansonniers der Republik“, „Heute zwischen gestern und morgen“, in dem es heisst: „Denn wir leben, denn wir leben in einer Übergangszeit …“
Dem Vorsitzenden der neonazistischen „Republikaner“, Franz Schönhuber, wurde am Montag von Angehörigen der Passkontrolleinheiten die Einreise in die DDR verweigert. Der „Republikaner“-Chef wollte um 10.22 Uhr die Grenze am Potsdamer Platz passieren. In einem zehnminütigen Gespräch sei ihm die Zwecklosigkeit seiner Absicht "klargemacht worden“. Die UdSSR wird 1990 ihre Streitkräfte um 185.400 Mann reduzieren. Der Chef des Generalstabes der Streitkräfte der UdSSR, Generaloberst Grigori Kriwoschejew, erinnerte in einem TASS-Interview daran, dass die Sowjetunion ihren übernommenen Verpflichtungen nach bereits 1989 einseitig 265.000 Militärangehörige abgezogen hat.
*
Zwei junge Menschen liefen durch die Stadt. Hand in Hand. Nur manchmal lösten sie sich voneinander, wenn der eine Mensch dem anderen Menschen etwas genauer zeigen wollte, wenn der andere Mensch den einen Menschen umarmen und küssen musste. Und es gab auf ihrer tour de ville viel zu sehen, zu zeigen und zu küssen.
Von weit oben, wo die Vögel Roch, Greif und Phoenix kreisen, waren sie kaum auszumachen. Man brauchte das Auge eines Adlers, um im Gewimmel der Menschen auf dem Alexanderplatz grad und genau das eine Pärchen unter etlichen anderen, das eng bei dicht auf dem Rand des „Brunnens der Völkerfreundschaft“ sass, zu erspähen. Das dann weiterlief: unter der Brücke des Bahnhofs Alexanderplatz und unter den Beton-Faltdächern des Fernsehturms hindurch, an den Wasserspielen und an dem Brunnen mit dem gewaltigen Meeresgott Neptun, an der Marienkirche vorbei und in das Marx-Engels-Forum hinein.
Vera und Gadji blieben vor den Statuen von Karl Marx und Friedrich Engels stehen. Der eine sass auf einer Bank, der andere stand hinter ihm. --- Sie sehen aus, meinte Gadji, nachdem er die Urgenossen von vorn, von der Seite und von hinten gemustert hatte, als würden sie auf einen Bus warten. --- Oder auf die Strassenbahn, setzte Vera seine Beobachtung fort. Beide lachten. --- Vielleicht warten sie auf die Zukunft, sagte Gadji. --- Meinst du, die kommt einfach vorbeispaziert und nimmt sie mit? fragte Vera. Und wieder lachten sie, zwei Menschen, die mehr Zukunft hatten als die Spree, ach was, die Ostsee und das Kaspische Meer zusammen Wasser hat.
Zwischen dem Palast der Republik und dem Berliner Dom hinein in die Strasse Unter den Linden, die Prachtstrasse aus Preussens Königs-Zeiten bis heute. Die Humboldt-Universität, gegründet auf Anregung von Wilhelm von Humboldt („War das …?“, fragte Gadji; Vera antwortete: „ … der Bruder von unserem Alexander!“) rechterhand, dann auf der andern Strassenseite die Staatsoper. Prächtige Häuser, die eine Strasse, in deren Mitte auf dem Grünstreifen kahle Linden standen, säumten und die auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor endete. Bis hierhin reichte bis vor zwei Monaten Veras Welt. Ab hier ging es noch vor zwei Monaten für Spaziergänger, Reisende, Besucher in Richtung Westen nicht mehr weiter. Und auf dem Tor galoppierte Victoria, die Göttin des Sieges, in Richtung Osten durch die Stadt, wäre sie nicht zum Standbild aus Stein geronnen.
Dass der Pariser Platz bis vor zwei Monaten ein toter Platz war, ein Grenz-Gelände, auf dem sich die zwei Militärmächte NATO und Warschauer Pakt Nase an Nase, Rakete an Rakete, Stiefelspitze an Stiefelspitze gegenüber standen – das schien unendlich lange her zu sein. Jetzt drängten sich Stände und Tische, auf denen die Devotionalien der DDR, ihre Reliquien (als wäre sie die Katholische Kirche) ausgebreitet waren und den Touristen als Flohmarkt-Schnäppchen angeboten wurden. Uniformteile und Ausrüstungsgegenstände der Nationalen Volksarmee, Medaillen, Orden, Auszeichnungen jeder Art. Briefmarkensammlungen, Zeitschriften, aus der Mauer gehackte, gebrochene Stein-Brocken, manche bemalt, manche pur. Fahnen, Flaggen, Büsten von einstigen Politikern. Es war eine Freihandelszone entstanden, ein Terrain, auf dem jeder ohne Genehmigung verkaufen und kaufen konnte, was er anbot oder haben wollte. Niemand war verfügungsberechtigt, keine Ost- und keine Westbehörde konnte kontrollieren oder eingreifen, weil dieses Niemandsland ein Streifen des Grenzgeländes war, für das sich niemand mehr verantwortlich fühlte. Kein Bezirksamt, kein Tiefbauamt, keine Polizei und auch nicht die Grenzpolizei, die noch existierte. (Und was hätte eine Grenzpolizei ohne Grenze an dieser Stelle auszurichten gehabt?) Büdchen waren aufgebaut, aus denen Bockwurst und Coca Cola verkauft wurden, Saftpäckchen und Büchsenbier. Der gesamte Markt war eine einzige Leichenfledderei ohne Leiche, und an einen Trabant-Auto, das am Rand des Marktes stand, lasen sie Nie wieder Deutschland!
„Warum nie wieder Deutschland?“, wunderte sich Gadji.
„Ein geeintes Deutschland“, sagte Vera, „wollen viele nicht. Viele wiederum doch. Wissen wir, wie ein einziges Deutschland aussehen wird?“
„Ich wusste lange Zeit gar nicht, dass es zwei Deutschländer gibt“, sagte Gadji nachdenklich. „Für uns in Baku – für die meisten war Deutschland Deutschland. Ein Land. Weit weg.“
„Hattet ihr keine Landkarten im Unterricht?“ Vera versuchte zu scherzen.
„Ach, Geographie“, sagte Gadji; er verzog das Gesicht, als habe er mit einem Stück Würfelzucker gerechnet und stattdessen in ein Salzbröckchen gebissen.
Vera war nicht sicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Zwei Deutschländer, verschieden wie Hund und Katze, unverträglich wie Feuer und Wasser – damit war sie aufgewachsen. Konnte es sein, dass ein paar tausend Kilometer weiter weg entfernt von ihrem Leben, die Menschen ein geteiltes Deutschland gar nicht wahrnahmen? War es für viele Menschen in der Welt nur eine Bagatelle, eine harmlose Schürfwunde der Geschichte? (Vera erinnerte sich, dass Gadji ihr in einer der gemeinsamen Nächte von einem sonderbaren Mann erzählte. Er sass in einem Keller-Atelier in Baku und immerzu Porträt malte, immerzu das Gesicht eines Mannes: Adolf Hitler. Jedem, der ihn danach fragte, wer das sei – und die es wussten, fragten ihn, warum denn den? – denen antwortete er: Ist doch ein schöner Mann. – Vera hatte gelacht und konnte sich nicht einkriegen vor Lachen.) Wurden schicksalhafte Ereignisse, die Menschen leibhaftig betrafen, zu Klecksen für diejenigen, die weit, weit weg draufschauten – wie durch ein umgedreht gehaltenes Fernglas, das noch dazu trübe Linsen hatte?
Ach, Gadji! Vera umarmte ihren Freund, nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn rechts und links auf die Schläfen. Über seine Schulter hinweg sah sie, dass sie beide von einigen Asiaten gefilmt wurden, die aus einem Reisebus ausgestiegen waren. Sie stiess Gadji lachend von sich weg und rief: „Guck mal, die fotografieren uns! Liebspaar an ehemaliger Grenze. Eine Berliner Szene!“ Als Touristen merkten, dass das Mädchen sie meinte, liessen sie die Kameras sinken, lächelten und verneigten sich verlegen und höflich. Vera und Gadji gingen an den Menschentrauben, die sich um die Stände gebildet hatten, vorbei. All die Überreste einer Republik, all die Symbole, all die Fossilien einer Vergangenheit, die noch gar nicht vergangen war – kaufen wollten sie davon gewiss nichts.
Urplötzlich blieb Gadji blieb stehen und wurde kreidebleich im Gesicht. Er stand vor einer fahrbaren Garderobenstange, an der komplette Uniformen der Nationalen Volksarmee hingen. Dunkelblaue der Marine, graugrüne der Infanterie, Overalls der Luftstreitkräfte.
Vera, sie war ein paar Schritte voraus, wandte sich um und ging rasch zu Gaadji zurück. „Was ist los? Du siehst aus, als …“
Er fasste nach ihrer Hand und presste sie, es tat weh. „Gadji, he …?“
„Alles gut“, sagte er; er war kaum zu verstehen: „Ich habe mir vorgestellt, hier hängt die Uniform meines Vaters. Es war, als hinge er selber hier.“ Er schüttelte den Kopf, als ginge es, die Vorstellung sie auszuschütten; als wäre das Gehirn ein Eimer und die Gedanken darin Murmeln.
„Warum?“, fragte Vera hilflos. Woher sollte sie wissen, dass in den Familien der sowjetischen Armeeangehörigen – auch in der Familie Muuslimsade – Dispute stattfanden, in denen es um den Abzug der Roten Armee aus der DDR ging. Der würde sie alle betreffen. Etliche zehntausende von ihnen waren schon in Güterwaggons verladen und in die Heimat zurückgeschickt worden. Mitsamt den Panzern und Kanonen.
Aber es ging um mehr. Es ging um die Verteidigung des Sozialismus, der gerade unterging? Es ging um die schwer zu verstehenden Entscheidungen der Führung in Moskau, der Führung in Berlin, wer hatte gerade das Sagen, wer entschied über den Lauf der Geschichte – es ging um die Zukunft, nicht nur der eigenen, familiären, persönlichen. Wie würde die Welt beschaffen sein, wenn der sogenannte Kalte Krieg beendet wäre? (Waren diese Diskussionen nicht denen ähnlich, die erst vor einem halben Jahr in den Räumen der Kirchen, in den Wohnungen der Bürgerrechtler, an den Tischen der Kneipen geführt worden waren und noch immer im Schwange waren? Waren sie nicht ähnlich hitzig und deprimiert und hoffnungsvoll und spekulativ und unsicher? Bei den Russen wie bei den Deutschen?)
„Ich möchte zurück. Domoy.“, sagte Gadji.
„Es reicht auch“, sagte Vera. Sie drückte ihre Lippen auf seine. „Mir brennen die Füsse.“ Vera schob ihren rechten unter seinen linken Arm – als sie spürte, wie sich Gadjis ganzer Körper spannte. Wie in Gefahr, dachte Vera. Was …? Und da sah sie es auch. „Kommt der Esser nicht zum Berg, kommt der Sandberg zum Esser“, Peters Camping-Imbisswagen, daneben ein Tapeziertisch, auf dem Armeemützen gestapelt lagen. Aus dem Seitenfenster seiner Fress-Scheese reichte Sandberg eben eine seiner legendären (von der Mutter gebratenen) Bouletten. Als er Vera erblickte, winkte er sie fröhlich heran.
Hinter dem Tisch – stand Mark Viehweger, der eine Offiziersmütze auf dem Kopf trug und dabei war, zwei kichernden Mädchen Tschapkas aufzusetzen. Der Jungpoet erstarrte, als er Vera und Gadji sah, während Peter marktschreierisch rief: „Heranspaziert! Heranspaziert! Für Freunde nur der halbe Preis! Bouletten vom Hackfleisch Brandenburger Schweine! Die besten im ganzen Land!“
Gadji blieb stehen, wo er stand. Vera ging zu ihren Freunden hinüber.
„Hallo, ihr Händler und Halunken!“, grüsste sie.
„Hallo, du Schöne!“, grüsste Peter zurück. „Boulettchen gefällig?“
Vera schüttelte den Kopf und sah sich nach Gadji um. Sie spürte, dass er sich unwohl fühlte in der Rolle desjenigen, der es womöglich toll finden sollte, was seine Klassenkameraden betrieben. Handel mit den Insignien einer aufgelösten Armee, Bouletten für Schnäppchenjäger. Gadji stand wie eine Statue. Trüge er einen Vollbart, er hätte dem Mann, den sie vor einer Stunde besucht hatten, geähnelt: Karl Marx, und er, Gadji, die aserbaidschanische Ausgabe in jung.
„Danke“, sagte Vera. „Wir wollen nach Hause fahren. Wo habt ihr das Zeug her?“, fragte sie Mark und umfasste mit einer Handbewegung sein Angebot. „Ich wusste gar nicht, dass in dir auch eine Krämerseele steckt.“ („Nanana“, maulte Peter aus seinem Wägelchen heraus, während er zwei Deutsche Mark von einer hochgewachsenen Frau, die fast auf Augenhöhe mit dem höher platzierten Jungen stand, kassierte. „Handel und Wandel lassen die Welt erblühen!“)
„Kriegst fürn Appel und n Ei in jeder Kaserne. Bisschen Geld verdienen, schadet's wen?“
Der Ton unter seiner Frage war ein Akkord aus Trotz, Verlegenheit und Sichertapptfühlen.
„Habt ihr auch schon – sowjetische Sachen da?“
Mark setzte die Mütze ab, warf einen Blick rüber zu Gadji und sagte leise: „Ich kenne welche, die können sowas besorgen. Sind ja schon etliche von denen nach Hause. Die verscheuern alles Mögliche, um wenigstens am Ende auch was abzukriegen. Stell ich mir beschissen vor: Die Sieger von einst ziehen geschlagen dahin und fragen sich, was hatte ich davon? Da ist nicht mehr viel von ‚dem Morgenrot entgegen'.“
„Nicht mal n Appel und n Ei“, sagte Vera sarkastisch.
Mark zuckte mit den Schultern. Vor der Moral kommt das Fressen, Veralein. Haben wir doch gelernt. Haben wir immer klassenkämpferisch gesehen und die andere Seite gemeint, die kapitalistische. Müssen wir uns aber nicht wundern, wenn es im Leben tatsächlich zu jeder Zeit und überall so ist, oder? Ich habe nicht vor, als armer Poet in einer Dachkammer zu hausen, wenn ich mir eine Villa am Müggelsee zulegen kann. Er wendete sich von Vera ab und den zwei Mädchen vor ihm zu. Eines von ihnen hatte sich entschlossen, eine der grauen Wintermützen mit dem Staats-Emblem der DDR auf der Vorderklappe zu kaufen. Die war ihr 20 Deutsche Mark wert.
„Vielleicht will Gadji was essen?“, fragte Peter. „Oder ne Cola trinken?“
Vera winkte ab, sie stürzte ab. In eine Verwirrung, in einer Verunsicherung, die sie sich nicht erklären konnte. Peter und Mark – wie pfiffig! Oder sollte sie es moralisch verwerflich finden? Bouletten gingen ja noch, aber diese NVA-Sachen zu verhökern? Die Volksarmee war vor einem Monat aufgelöst worden, das schon. Und von irgendwem, der von Skrupeln nicht geplagt war, mussten sie die Sachen ja bekommen haben. Trotzdem.
Und dann – Gadji. Es war mit Händen zu greifen, dass ihn der Markt zuwider war und die beiden eifrigen Schulkameraden auch. Was hatte er vorhin gesagt? Dass er die Uniform seines Vaters hängen sah, in der Zukunft, bald. Als würde der Mann selber gehängt sein. „Bis morgen. In der Schule“, sagte Vera und hob die Hand zum Gruss.
„Wir werden sehen“, sagte Peter.
„Tschüs bis morgen“, sagte Mark.
Zwei junge Menschen fuhren in der S-Bahn in Richtung Süden. Sie sassen nebeneinander und schwiegen. Ihre Beine berührten sich, das linke des Jungen das rechte des Mädchens. Ihre Hände hielten sie bei sich, im Schoss die eine, in den Hosentaschen der andere. Sie schauten sich nicht an. Der eine schaute aus dem Fenster in die vorübergleitenden Strassen und zwischen die Häuser, die andere schaute nach rechts zu einer Mutter, die ihr Kind mit Keksen fütterte. Sie schwiegen und jeder war für sich. Bis Vera einen Seufzer von tief drinnen holte, ihn ausstiess und fragte: „Ist es wegen der beiden?“
Gadji zog seine Hände aus den Hosentaschen. Sie waren zu Fäusten geballt, die er entkrampfte, seine flache, warme Rechte legte er auf das Hände-Knäuel Veras. Er sah sie von der Seite an und schüttelte den Kopf. „Idioty!“, kam es aus zusammen gepressten Lippen.
„Sind sie“, sagte Vera lächelnd. „Aber schlecht sind sie nicht.“
„Sie verkaufen ihre eigene Vergangenheit“, sagte Gadji ernst. „Das verstehe ich nicht. Es ist – Verrat. Ich hasse Verräter. Ich hasse auch Feiglinge.“
Zu starke Wörter, fand Vera. Bouletten waren eher die Gegenwart, und Cola war die Zukunft. Und Geschäft war Geschäft.
Ausserdem war das alles – ein Spiel. Seit Wochen spielten sie es. Sie schlüpften in Rollen und probierten sie aus. Sie wühlten in einem Kostüm-Fundus, zogen das eine und das andere an, drehten sich vorm Spiegel, betrachteten sich von allen Seiten und hofften auf eine Antwort auf die Frage: Was wird aus mir? Wohin passe ich? Was will ich? Oder dass der Mensch im Spiegel was zu ihnen sagte, was Richtungsweisendes.
Vera war sicher, dass Gernot (wieso kam ihr Gernot als erster in den Sinn? war halt so) nicht am Anfang einer politischen Karriere stand, nur weil er als gewählter Schulratsvorsitzender am Rad drehte. Peter würde nicht ein Kaufmann werden, das glaubte sie ganz und gar nicht. Mark – würde seine Begabung versiegen, austrocknen, nur weil er am Geld schnupperte? Nein, entschied Vera. Will ich nicht, wird nicht so kommen.
Die Freundinnen kamen ihr in den Sinn. Sylvias Hostess-und-Callgirl-Phase würde vorübergehen, Maria würde aus ihrer Versunkenheit auftauchen und das werden, was sie wollte: Häuser entwerfen und bauen. Und sie, Vera, wo sah sie sich in diesem Spiel, das gerade lief, das keine Regeln zu haben schien, was aber ein Ende haben würde? Das so sicher war wie das Amen in der Kirche, und vielleicht käme es schneller, als alle ahnten. Enden in einem Land, das sie noch nicht kannten. Der einzige, der bei sich selber blieb, war Gadji, schien ihr.
Veras Herz begann zu rasen. Gadji würde bei sich selber bleiben, aber würde er überhaupt bleiben? Hier? In Deutschland? Bei ihr? Was würde aus ihnen werden? Lebten wir nicht in einer Zeit, in der Gewissheiten verschwanden, Beziehungen sich auflösten, neue Verbindungen geknüpft wurden? Der Markt, den sie gerade besuchten hatten, kam Vera auf einmal wie ein Menetekel vor. Ausverkauf der Heimat, die sie kannte. Geld ging über die Tische. Alles war in Bewegung geraten. Was gestern galt, galt heute nicht mehr, und was würde morgen gelten? Es mochte ja sein, dass gerade Geschichte geschah; aber wann geschah Geschichte nicht? Und dass wir in „historischen Momenten“ lebten – Gottchen ja, das konnte Politikern und Historikern die Hitze ins Gesicht treiben; uns, den Überwältigten, machte es frösteln?
Noch immer schwiegen sie. Doch auf dem Weg zum Bahnhof Friedrichstrasse war Gadji ausser sich geraten. Die Vorstellung, eines nicht fernen Tages könnte sich der „Flohmarkt DDR“ zu einem „Flohmarkt Sozialismus“ erweitern, machte den Jungen wütend. Und auf einem „Flohmarkt Sozialismus“ würde es etliche Stände für die Utensilien und Symbole der Roten Armee geben. Gadji wusste, was die deutschen Veras, Peters, Marks, Gernots vermutlich nicht wussten: Dass es sowjetische Offiziere gab, die Waffen und Benzin verscherbelten. Dass es Soldaten gab, die desertierten, und dass die jungen Rekruten von den länger gedienten Kameraden gequält wurden und zu wenig zu essen bekamen, seit langem schon, seit immer schon? Alles war in Auflösung begriffen, doch über allem knatterten noch die Transparente mit den Parolen vom Sieg des Weltsozialismus und flatterten die Fahnen mit den Köpfen Lenins, Marx' und Engels'. Unbeirrt wurde vor den politischen Führungen paradiert und unentwegt wurde im Polit-Unterricht der Truppen das Lied vom Klassenfeind und das Lied von den eigenen Siegen und Errungenschaften gesungen. Gadji schimpfte vor sich hin. Das alles sei so widerlich, so verlogen.
Vera versuchte ihn zu beruhigen. Ob er denn glaube, dass es ihr Freude mache zu sehen, wie alles den Bach runtergehe und verramscht würde. Aber es habe keinen Sínn, dagegen anzutoben.
Mochte sein, mochte nicht sein. Vielleicht haben wir alles verloren. Was? Wir? Die DDR? Den Sozialismus? Und wenn – es gäbe dostoinstvo i chest'. Man könne verlieren, aber man müsse aufrecht bleiben. Nicht als Verräter, nicht als Feigling, nicht als Gauner auf die Seite des Siegers wechseln.Chelovek ne sobaka, der Mensch ist kein Hund, der seinem Herrn die Stiefel leckt, wenn er geprügelt wird. Als sie auf dem Bahnsteig standen und die Bahn einfuhr, verstummte Gadji – erschöpft und mit sich im Unreinen?
Mein armer Gadji! War vielleicht nicht meine beste Idee, mit dir in die Stadt zu fahren. Vera lächelte ihm zu, nahm seine rechte Hand, hob sie hoch und rieb ihre Stirn an ihr. Sie schloss die Augen.
Gadji, wir haben uns. Lass geschehen, was geschieht. Es liegt nicht in unserer Macht, den Lauf der Dinge zu verändern. Es gibt welche, die glauben daran, Einfluss nehmen zu können. Sie träumen von einer idealen Welt, und sie fühlen sich berufen, sie zu schaffen. Meine Mutter ist so eine. Aber ebenso könnten wir Häuser bauen – auf einem Regenbogen. Das aber kann nur die Liebe, Gadji, nur Liebende wohnen im Regenbogen. Sie öffnete ihre Augen und blickte in Gadjis Augen. Endlich lächelte auch er wieder.
Sie wussten, wie sie wirkten, die drei grässlichen Kerle, die im Bahnhof Warschauer Strasse den Wagen betraten Sie betraten ihn nicht, sie rissen die Tür auf, sprangen hinein, einander an den Schultern rempelnd, dass das tonnenschwere Eisen-Gefährt schwankte. Sie trugen Springerstiefel, schwarze Cargo-Hosen, Bomber-Jacken und Tätowierungen, die ihnen aus den T-Shirts den Hals hinauf quollen. Die Köpfe kahlgeschoren, gedunsene, breit grinsende Gesichter und mit Augen, die flink waren wie die Augen kleiner Raubtiere auf der Suche nach Beute. Sie fanden, was sie suchten.
Links neben der Tür, in einer Ecke an der Schmalseite des S-Bahn-Wagens, sass eine Familie, die unverkennbar asiatischer Herkunft war. Die Mutter legte, als sie den stieren Blick eines der Glatzköpfe auf sich ruhen sieht, ihren Arm schützend um das Mädchen, das neben ihr sass, und zog es an sich. Der Vater, ihr gegenüber mit einem etwa zwölfjährigen Jungen an der Seite, deutete die Furcht in ihren Augen richtig; er drehte seinen Kopf über die Schulter und blickte in das hämische Grinsen des zweiten Jungnazis. Zwischen die beiden schob sich der dritte. Er hielt in der rechten Hand eine geöffnete Bierflasche, aus der er einen tiefen Zug nahm und abschliessend lauthals rülpste. „Fidschis!“, sagte er geniesserisch. „Was haben wir denn hier für Zigarettenschmuggler. Mit Nachwuchs, eieiei. Wir haben euch zum Fressen gern.“
„Irgendwie werden die immer mehr. Ey, die hecken wie die Kaninchen“, sagt der mit dem Glubsch-Blick; er schürzt die Lippen zu einem Luftkuss, den er der jungen Frau zuwarf.
„Auf Staatskosten dazu“, sagte die Bierflasche. „Was macht man mit Kaninchen?“
„Abschiessen!“, grölt das Grüppchen.
„Und wenn man kein Gewehr hat?“
„Aufklatschen! Aufklatschen!“
Sie waren eingespielt. Sie spielten ihr Spielchen nicht zum erstenmal. Einer von ihnen liess sich an einer Haltestange hängen, zog die Beine an und schaukelte hin und her. Er hustete dabei wie ein Affe.
„Zigarettenverkaufen, stimmt's. Pinke Pinke machen für die Oma in Hanoi!“
„Moped kaufen!“, feixt der Orang Utan. „Brrrrm durch den Dschungel!“ Er schaukelte noch ein bisschen und streckt das rechte Bein aus. Es fuhr um Zentimeter vorbei an der Schulter des Jungen, der sich angstvoll gegen den Vater drückte.
„Vorschlag“, sagte der Anführer, nachdem er einen nächsten Schluck aus der Pulle genommen hatte. „Ihr überlasst uns eure Zigaretten. Wir lassen euch am Leben. Ein bisschen.“
Vera und Gadji erging es wie den anderen Passagieren. Sie sassen wie gelähmt und schauten der Szene zu. Sie waren nicht die Akteure in einem schlechten Film, der schlechte Film lief vor ihren Augen ab. Vera wollte aufstehen, aber Gadji nahm ihr linkes Handgelenk und zwang sie, sitzen zu bleiben. Vera wollte sich losreissen und ihn anschreien. Spinnst du, ich gehe da jetzt hin und …
Als sie Gadjis Gesicht sah und die Spannung seines Körpers spürte, verstand sie. So konzentriert hatte sie ihn schon einmal gesehen. Als sie und ihre Freunde auf dem Weg zum Friedhof waren und Zeugen wurden, wie Gadji drei Angreifer ins Wasser beförderte. Mit Kampfbewegungen, die schneller waren als die Gothic-Traumtänzer gucken konnten. Gadji stand auf und ging lautlos den Gang entlang.
„Wir haben keine Zigaretten“, sagte der Vater. „Wir sind Studenten und das ist meine Familie.“
„Studenten! Intelligente Fidschis! Gibt's die, Kalle?“
„Kann nicht sein“, antwortete der Schaukler. „Wenn die intelligent wären, würden sie sich nicht in die Bahn trauen. Unter Deutsche.“
„Oder wären schon längst zurück im Dschungel“, quakte der dritte, der bisher noch nicht mit einer Dämlichkeit zum Zuge gekommen war.
„Also, was is? Zigarette oder …“ Er kam nicht dazu, die erpresserische Frage zu beenden, weil er am Boden lag, sich krümmte und wand. Die eine Hand presste er gegen den Bauch, die andere gegen die Gurgel. Er ächzte, bekam kein Wort heraus, aus dem Mund schoss ein Schwall Spucke und Bier.
Mit einem Schlag pflückte Gadji den Affen von der Stange und verpasste ihm, noch bevor er aufschlug, einen Gong gegen die Schläfe. Er polterte gegen die Rückwand der Bank, auf der der vietnamesische Vater und sein Sohn sassen, blieb sitzen und hielt sich den Schädel. Er glotzte irgendwohin und sah nur das grüne Geschlinge des Dschungels, in den er so gern die Familie geschickt hätte.
Die dritte Glatze hatte sich zur Seite gedrückt und streckte die Arme nach vorne. Nein, nein, nicht! Er wollte nicht wie seine Kameraden auf das klebrige Linoleum geschickt werden und auch nicht den Arsch versohlt bekommen wie ein widerborstiges, unbelehrbares, unerzogenes Knäblein. Gadji fasste ihn am T-Shirt, zwirbelte es zusammen und zog ihn an sich. „Idioty! Tupitsi! Idi k chertu!“ Dann stiess er ihn von sich wie einen Sack Abfall.
Inzwischen waren zwei Männer in blauen Arbeits-Overalls dazugekommen, sie standen hinter Gadji. Und Vera hatte sich neben ihn gestellt.
„Is noch wat?“, fragte der eine.
„Siehst so aus“, sagte der andere, „als müssten wir nur noch den Müll runterbringen.“
„Nächste Station. Jut jemacht, Junge.“
„Wo hastn det jelernt? Fallschirmspringer oder sowat?“
Die Bahn fuhr ein. Betriebsbahnhof Rummelsburg, noch eine Station bis nach Karlshorst.
Gadji öffnete zuvorkommend die Tür, pozchalysta! Platz für die Männer in Blau, die die Glatzen auf den Bahnsteig schoben. Ein passender Zufall, dass gerade zwei Transportpolizisten einsteigen wollten. Sie würden ein paar Züge später fahren und sich um die zwei Lädierten und den einen Furchtsamen kümmern. Wie Krankenschwestern schauten sie nicht drein. Für diesmal hatten die Glatzen ihr Spielchen verloren.
Auch die vietnamesische Familie stieg aus. Sie hatte ihr Fahrtziel erreicht. Zuvor hatte sich die Mutter vor Gadji verbeugt und Danke gesagt. Der Vater nahm die Rechte Gadjis zwischen seine Hände und drückte sie an sein Herz. Das kleine Mädchen stand scheu und ihn anstaunend vor ihm, als die Mutter ihr etwas in ihrer Sprache zuflüsterte. Es schüttelte unwillig den Kopf und fragte: „Bist du ein Türke?“ Gadji musste grinsen. Ihm fiel ein, dass er vor etlichen Wochen schon mal von einem Mädchen gefragt worden war, ob er ein Afrikaner sei. Nur weil seine Haut dunkler war als die der meisten Deutschen. Weder das eine noch das andere bin ich. Nur ein Mensch. Schon ein ausländischer, aber ein Mensch. „Nein“, antwortete er. „Aber von hier bin ich auch nicht. Wie du.“
„Aber ich bin von hier!“, protestierte das Mädchen und liess sich nur unwillig von ihrer Mutter aus der Bahn ziehen.
„Du bist mein Held“, sagte Vera und liess ein bisschen Spott einfliessen: „Mein Ilja
Murametz!“
„Ich weiss“, machte Gadji mit. „Ich bin ein Held der Sowjetunion und dein Märchenheld sowieso und sintemalen.“
„Sintemalen. Was du für Wörter kennst.“
„Ich habe auch deutsche Märchen gelesen.“ „Diese Schweine!“, sagte Vera grimmig.
„Deutsche Märchen?“ Er zog sie auf, ganz klar, Vera boxte ihm in die Seite. „Chto u trezvogo na ume, to u pjanogo na jazyke“, sagte Gadji.
Diese Sprache! Vera verdrehte die Augen und drückte sich an ihn. „Wenn du mir das bitte übersetzen könntest.“
„Vielleicht so: Was ein Nüchterner im Kopf hat, trägt der Betrunkene auf der Zunge?“
„Dann haben die echt viel Scheisse im Kopp!“, sagte Vera. Gadji lachte. Dazu war nichts weiter zu sagen, auf Russisch nicht und nicht auf Deutsch.
Die Bahn fuhr weiter. Vera sass neben Gadji, Gadji sass neben Vera. Sie schwiegen, sie hielten die Köpfe aneinander gelehnt, zusammengewachsen für den Moment. Sie horchte, vielleicht könnte sie Gadjis Gedanken hören? Hörte er, was sie sich fragte? Warum waren die beiden Männer nicht vorher eingeschritten, warum erst, als die ganze Kacke vorbei war?
Alles in allem – ein irrer Tag.
Samstag, 13. Januar
Vera nestelte an dem in einer durchsichtigen Folie verpackten Strauss lachsfarbener Rosen. Sie kam sich albern vor. Oder altmodisch; altmodisch war das treffendere Wort. War sie auf dem Weg zu einem Verlöbnis nach alter Sitte, oder war sie im Begriff, als zukünftige Braut ihren Schwiegereltern vorgestellt zu werden? Gadji und sie waren ein Liebespaar, unstrittig. Und dass sie es lange bleiben wollten –, war ihr Glaube und ihre Hoffnung. Lange, für ewig; aber ewig ist mal ein glatter, mal ein dorniger langer Weg, auf dem es Unwägbarkeiten, Überraschungen, Hindernisse geben würde; niemand war so blöd, das Selbstverständliche nicht zu wissenFür die Rosen war sie eigens in den Westteil der Stadt gefahren. Es war ein wolkiger Tag, aber nicht allzu kalt, und auf dem Fahrrad wurde es Vera schnell warm; und sie liess das lange blonde Haar fliegen. Ihre umtriebige Freundin Sylvia hatte ihr ein paar Tipps gegeben, wo es frische Blumen zu kaufen gab, die in Ostberlin – noch dazu im Winter – rar waren. Und so war Vera gestern am Nachmittag über Schöneweide und über Johannisthal in den Stadtbezirk Neu-Kölln durch die Strassen geflitzt, bis sie die Sonnenallee erreichte, zum klotzigen Bau des Rathauses mit seinem hohen Turm abbog und auf der Karl-Marx-Strasse nach einem Blumenladen Ausschau hielt.
Wieder war sie überwältigt worden und fühlte sich in die Enge getrieben – wie bei dem ersten Besuch in Westberlin zusammen mit ihrer Mutter – von der Dichte der Läden, Imbissbuden, Lokale, von den ausgehängten Textilien vor Mode-Geschäften und einer Musikalien-Handlung, von den ausgelegten Früchten vor Obst- und Gemüseläden. Für fünf D-Mark erstand Vera bei „Blütenreich“ den Blumenstrauss, mit dem sie nun neben Gadji vor der Haustür stand.
„Ich weiss nicht“, sagte Vera.
„Wo ist das Problem?“, grinste Gadji; er fand wohl, dass er eine sehr deutsche Frage stellte.
„Ich komme mir vor, als wäre ich eine – Braut, die in die Familie des Bräutigams eingeführt wird.“
„Wenn du eine Braut wärest und ich ein Bräutigam (das waren zwei Wörter, die ihm schwer über die Lippen kamen), dann wären wir bereits verheiratet. Vermutlich wüssten unsere Familien dann schon eine Weile davon, dass wir zusammen sind. Lass uns hochgehen.“ Vera zögerte. Zwei Begegnungen rasten im Zeitraffer durch ihren Kopf. Das überfällige Gespräch mit Gernot kurz vor Silvester 1989, in dem „die Fronten“ geklärt worden waren. Niemanden war verborgen geblieben, dass sie getrennte Wege gingen. Jeder in der Schule wusste, wie der Hase lief. Aber beide, Vera und Gernot, fanden es wichtig, dass sie den Schlussstrich zogen – und sich dabei in die Augen sahen, weil sie sich auch weiterhin in die Augen schauen wollten. Wie es sich für kultivierte Menschen gehört, sprach Gernot in dieser seltsam hölzernen Art und Weise, in der er,schon immer gesprochen hatte? --- Vera hatte genickt und gesagt, dass es ihr Leid täte, dass sie die Zeit mit ihm, Gernot, nicht missen wollte (o Gott, dachte Vera, dein Protokoll-Deutsch ist aber auch nicht von dieser Welt). --- Leidtun müsse ihr gar nichts, hatte Gernot erwidert. Ganz ein Mann von Welt, den eine Niederlage nur stärker machen konnte. Hauptsache, es tut dir eines Tages nicht Leid. --- Warum sagst du das? Es hört sich wie eine Drohung an. --- Nein, nein, nur es sei recht ungewöhnlich. Sie, das deutsche Mädchen, er – ein Russe. --- Gadji ist kein Russe! entgegnete Vera heftiger und trotziger als sie wollte. Und wenn!? Er sei Aserbaidschaner, und ober er noch nie was von Freundschaften, Lieben zwischen Deutschen und Ausländern gehört habe? --- Wie dem auch sei, er habe zurzeit sowieso Wichtigeres zu tun, als an Mädchen oder so Bindungskram zu denken.
„Wollen wir endlich?“, fragte Gadji.
„Gleich.“
Ihr war ein bisschen so zumute wie im Sportunterricht. Wenn Horst Kowalski die Mädchen aufforderte, auf der Matte ihre sportlich-künstlerischen Verbiegungen, Beugungen, Rollen, Radschläge zu einer nervenden Popmusik – etwa von Smokie, aber wenigstens nicht von Karat – vorzuführen, während die Jungs feixend in einer Ecke so taten, als trainierten sie mit Hanteln.
Und die Unterhaltung mit Sylvia ging ihr durch den Kopf. Guter Geschmack, attestierte die Freundin Vera. Aber ob das gutgeht auf Dauer? --- Komm, sagte Vera. Ich liebe ihn, er liebt mich. --- Ich hab gelesen, er kommt aus einer Gegend, in der die Männer ziemliche Machos sind. Irgendwie mohammedanisch. Wenn du da untreu bist, steinigen sie dich. --- Uhu! machte Vera. Aber wir leben nicht dort, sondern hier. Hier fallen die Steine grad aus der Mauer. Und was ist mit deinem Iwan? --- Ach, Iwan! Wir sind echt gute Freunde… --- Ich frag dich mal was, ja? hob Vera an. Schläfst du eigentlich inzwischen mit jedem Typen, den du kennenlernst? --- Sylvia lachte hell auf. Was bist du für ein Lamm, Vera? Es macht Spass, es tut nicht weh, und ich habe keine Lust darauf, mir irgendwas zu verkneifen. --- Und die Liebe? --- Das Gefühl habe ich jedes Mal. --- Aber … --- Ich weiss schon. Für immer und ewig und Schmachtschmachtschmacht. Du kommst mir vor wie ein Wesen von einem anderen Stern, Vera, Liebstes. Wohnst du neuerdings in einem Regenbogen? Kotte würde sagen: Diotima. Mehr so ein ätherisches Phantom. Der Traum eines Mannes … --- Quatsch mit Sauce, sagte Vera. Denkst du, ich habe noch nicht mit Jungs geschlafen? --- Zwei kenne ich, erwiderte Sylvia grinsend. Aber ich wünsche dir, dass es noch ein paar mehr werden, ehe du alt und runzlig wirst in der Ehe mit Gadji Muus … Ach, Scheisse, den Namen kann ich mir immer noch nicht merken! Die beiden Mädchen fingen an zu lachen, und die Welt war in Ordnung, so wie sie war.
Die kleine Nesgir hatte die Wohnungstür geöffnet und schaute Vera mit grossen Augen an. Sie sagte „U tebya wolos korolewuyy!“ wurde rot im Gesicht und flitzte in die Wohnung zurück. „I Ty knopka, kotoraya chitayet slishkom mnogo skask!“, rief Gadji ihr nach. Nesgir drehte sich um und fauchte: „I ty khuligan, kotoryy nikto ne lyubit!“ Beinahe wäre sie mit ihrem Vater zusammengeprallt, der aus der Stube in den Flur trat. Das Mädchen sprang ihm in die Arme und kuschelte sich an die Brust des Mannes. Hier war sie am sichersten Ort der Welt; aber ihren Blick konnte sie nicht von Vera lassen.
Vera schaute Gadji fragend an. Ihr Freund grinste breit und zufrieden. „Was hat sie gesagt?“, fragte Vera und fragte also auch, was er gesagt hatte. Doch Gadji antwortete nicht. Er strahlte und sagte: „Das ist meine Schwester Nesgir. Ich habe dir von ihr erzählt. Sie ist ein Teufel!“, fügte er stolz und liebevoll hinzu. „Sie gefällt mir“, sagte Vera. „Glaube ich.“
„Cherzlich willkommen!“, sagte der Vater. „Kommen Sie cherein!“ Es klang, als hätte er den Gruss lange geübt.
Nesgir schaute sie mit ihren Stauneaugen an, die ganze Zeit schon, seit sie am Tisch sassen. (Ein Tisch, der übervoll beladen war mit Geschirr und Bestecken, auch einige Schüsseln mit Gebäck und Nüssen standen da; Vera verlor die Übersicht und dachte, dass möglicherweise noch ein Dutzend anderer Gäste erwartet wurde. Hätte Gadji ihr doch sagen können?) Vera wurde es unter dem Blick der Kleinen mulmig.
„Du hast Haare wie eine Prinzessin. Du bist eine Prinzessin“, sagte Nesgir. Für sie bestand kein Zweifel am königlichen Blut, das durch die Adern und Venen der Deutschen floss. Zwischen jedem Wort, das Nesgir aussprach, hatte sie eine kurze Pause gemacht, in der sie nach dem richtigen, passenden Wort suchte.
Vera errötete und – fühlte sich geschmeichelt. Aber sie sagte: „Ich bin keine Prinzessin. Meine Mutter ist auch keine Königin, und mein Vater ist kein König. Und in einem Schloss wohnen wir auch nicht.“
Das waren sehr viele deutsche Wörter, denen Nesgir folgen musste. Aber sie verstand und sprach nach einem halben Jahr im fremden Land sehr viel und gut Deutsch. Sie war von einem Kindergarten mit einheimischen Kindern aufgenommen worden, worüber es zwischen ihrer Mutter und ihrer Vater und Gadji vorher einen Streit gegeben hatte. Mama Ludmilla war dagegen, der Vater verhielt sich unentschieden, Nesgirs Bruder trat vehement dafür ein. Er erinnerte die Mutter an seinen Deutsch-Unterricht, an seine Lehrerin Elisabeta Petrownaja, die die deutsche Sprache liebte und es verstand, sie ihren Zöglingen (jedenfalls Gadji, andere in seiner Klasse lernten eher unwillig die fremde Sprache, von der sie nicht wussten, wozu sie die in ihrem Leben brauchen würden) ans Herz und auf die Zunge zu legen. Ldmilla Muuslimsade gab nach: „Delayte chto khochete!“ Und sie machten nicht, was sie wollten, sondern was gut sein würde für Nesgir.
Nesgir glitt von ihrem Stuhl, lief um den Tisch und umarmte Vera.
„Weiches Haar“, sagte sie, ihr Gesicht vergraben in Veras Blond-Schopf.
„Hast du auch“, flüsterte Vera und pustete ihr durch die schwarzen Locken.
„Ich bin auch eine Prinzessin, sagte Nesgir. „Nur mein Haar ist wie Nacht. Dein Haar ist wie Tag. Passen wir zusammen. Alle Mädchen sind Prinzessinnen und Schwestern.“
Vera war sich nicht sicher, dass das stimmte. Eher nicht. Aber es war wunderbar eine Schwester zu haben, wenn man keine eigene Schwester hatte. Und es musste wunderbar sein, einen älteren Bruder wie Gadji zu haben. Vera musste schlucken, als ihr Bilck den Freund fand und sie sah, wie liebevoll er Nesgir anlächelte; und aus dem Augenwinkel sah Vera auch, wie andächtig Mama Ludmilla und Papa Dshantir der Verschwisterung der beiden Mädchen zusahen; es schien, als hätte sich Nesgir an Vera festgeklebt.
„Nesgir!“, rief die Mutter leise und wies mit dem Kopf auf den leeren Stuhl. Aber es sah bei aller Strenge nicht so aus, als würde sie bei einer Befehlsverweigerung die Höchststrafe aussprechen: Verzicht auf Pudding.
Dann verschwand Ldmilla Muuslimsade in der Küche, um mit einem Tablett voller Schüsseln zurückzukehren. Gadjis Vater stellte die Speisen vor. Gefüllte Pfannkuchen, Yantik; Manti hiessen die Teigtaschen, die mit Hackfleisch und Linsen gefüllt waren; Dolma, Paprikaschoten mit Reis und Fleisch; dazu gab es Pahlava und Baklava und Tee und Wein und Limonade. Wer sollte das alles essen? Das Essen und Trinken war eine Mischung aus Kaffeezeit und Abendessen, und es zog sich bis in den frühen Abend hin.
Einmal war während dieser Stunden der Engel durch die Stube geflogen. Der von irgendwoher aufbrach, um die Sorglosigkeit, die Fröhlichkeit, die Aufgeräumtheit zwischen Menschen zu unterbrechen und in Stille zu überführen. Sie musste nicht lange andauern. Aber sie genügte, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass Leben und Tod nur ein Herzschlag trennte.
Vera hatte die Fotografie auf dem Teetisch, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand, bemerkt, als Gadjis Mutter eine Rose aus dem Strauss genommen und in eine schmale Vase vor dem Porträt gestellt hatte. Eine Frau, nicht mehr jung, noch nicht alt, schaute mit wachen Augen jeden an, der sie anschaute. Sie trug ein buntes Band, das ihre schwarzen Haare bündelte. Über die untere linke Ecke des Fotos war ein schwarzes Band gelegt. Nesgir, die nicht von Veras Seite wich, die ihr immer wieder was zum Essen vorlegte, die sie fragte, ob sie nicht noch ein bisschen Wein trinken möchte – Nesgir hatte Veras Blick selbstverständlich bemerkt und sagte eifrig: „Das ist Tante Techmine. Sie … umera.“ Sie nickte traurig, für ‚umer' kannte sie das deutsche Wort ‚gestorben' noch nicht.
„Ne interesno!“ Der Vater schlug mit der flachen rechten Hand auf den Tisch und wiederholte, dass es nicht interessant sei, nicht wichtig, „ne vazhnyy!“ Jetzt nicht, hier nicht, nicht in dieser Runde. Er war entschieden, er war diszipliniert. Ein Offizier. Vera konnte ihn sich gut in einer Uniform vorstellen und in einer Situation, in der es auf eine eindeutige Entscheidung ankam; nur welche Situation könnte das sein, das konnte sich Vera nicht vorstellen. Wenn es für ihn keinen Grund gab, über Tante Techmine zu sprechen, dann gab es diesen Grund nicht.
Nesgir schniefte und senkte den Kopf; und die Mutter verliess das Zimmer, es war noch etwas aus der Küche zu holen.
Der Vater, schlank, weisses Hemd und tiefschwarzer Schnurrbart, eben noch hatte er die Stirn gerunzelt, stand auf, ging zu seiner Tochter und kniete sich neben ihr nieder. Er strich ihr über den Kopf und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das niemand hören und verstehen konnte, was nur für die Tochter gedacht war. (Für Vera sowieso nicht. Und sie dachte, was sie immer mal wieder während des Nachmittages gedacht hatte: Es ist eine Schande, wie wenig ich Russisch verstehe, obwohl ich es seit sieben Jahren in der Schule als Unterrichtsfach habe.) Als Dshantir Muuslimsade sich aufrichtete, hob Nesgir ihr Gesicht – und das Mädchen zog kurz die Nase hoch und strahlte wieder. Der Engel flog durchs Zimmer, vorüber, nach irgendwohin.
Vera wird sich später kaum noch erinnern, worüber zu Tisch gesprochen wurde. Gadji machte den Dolmetscher, Nesgir sorgte dafür, dass es zu keiner Verlegenheit des Schweigens kam. Quirlig, unbekümmert plapperte sie drauflos, spielte mit dem Essen und mit Messer, Gabel und Löffel, wurde scherzhaft ermahnt, die Hände still zu halten, hielt sich nicht daran, dann wurde gelacht, un Vera verstand nicht immer, worüber. Aber sie war von einer zufriedenen Zwanglosigkeit ergriffen; sie begriff, dass sie der Gast einer mit sich selbst einverstandenen Familie war.
Immerhin erfuhren die Muuslimsades, die zurückhaltend mit ihren Fragen waren, dass ihre Mutter als Hebamme arbeitete und sich gerade als Chefredakteurin erprobte. Daraufhin sprach Gadjis Mutter (und Gadji übersetzte), dass sie den Beruf einer Hebamme für nützlicher und menschlicher erachtete als den Beruf einer Journalistin. Vera empfand die Bemerkung, fast ein Urteil, als sehr direkt und sehr hart, aber sie nickte und stimmte zu. Es war das, was auch sie dachte. --- Es ist toll, sagte Gadjis Mutter, einer Frau dabei zu helfen, ihr Kind auf die Welt zu bringen. --- Woraufhin der Vater Dshantir bemerkte, dass es vielleicht auch ein Problem sei. Die Welt sei eine kriegerische, immer noch. --- Vielleicht, versuchte sich Vera in Philosophie, ist jeder neu geborene Mensche eine Chance mehr: auf Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt. --- Chesus Kristus? fragte der Offizier leicht spöttisch. --- Ich kenne ein paar Mädchen, die sagen, sie wollten nie Kinder haben. Es gibt zu viele Menschen auf der Welt, die Umwelt geht kaputt, und noch immer gibt es Kriege. --- Dshantir zitierte ein armenisches Sprichwort: Gott gibt es nur einen, Türen aber tausende. Er wolle damit sagen, dass die Menschen einen Ausweg finden werden. Und Kinder seien der wirkliche Reichtum dieser Erde.--- Ob sie, Vera, auch keine Kinder haben wolle? fragte Gadjis Mutter. Wieder zuckte Vera zusammen. Diese Ludmilla war sehr geradeaus mit ihrem Reden, sie hatte eine fast feindselige Art zu fragen. Dabei schaute sie ihr Gegenüber mit warmen, freundlichen Augen an. --- Darüber habe noch nie nachgedacht, antwortete Vera. Ihr Gesicht hatte sich gerötet: vom Essen, vom Wein, vom Gespräch. Und da sprang Nesgir auf und jubelte: „Gadji budyet otyets! Gadji budyet otyets!“ (Das war ein Satz, den auch Vera verstand.)
Gadji übersetzte hin und her, und Vera meinte zu spüren, dass er sich in dieser Rolle nicht wohlfühlte, ja sie verärgerte ihn zunehmend. Und als Nesgir auf dem Stuhl stand und sich freute, platzte ihm der Kragen: „Unfug! Bred kakoy to! Sidi i molchi!“ Aber ringsherum lachten alle; was der kleine Grünschnabel da so zwitscherte!
Schliesslich war es Abend geworden. Als Vera anbot, beim Abräumen und Abwaschen zu helfen, wurde sie entrüstet und fröhlich von Ludmilla abgewiesen.
Bevor Vera sich verabschiedete – sie war genudelt und benommen und wusste grad nicht mehr, worüber sie gesprochen hatten oder worüber Gadjis Familie palavert hatte – musste sie unbedingt Nesgir folgen. Das kleine Mädchen zog das grosse Mädchen über den Flur in ihr Zimmer.
Unter dem Hochbett hatte sich Nesgir eine Höhle, die von Puppen und Plüschtieren bewohnt war und in der ein Puppenhaus stand, eingerichtet. Mit einem Vorhang konnte sie sie öffnen und schliessen.
Vera erinnerte sich an das Mädchen, das sie gewesen war. Sie hatte den Vater gebeten, die kleine Speisekammer, ein von der Küche durch eine Rigips-Wand abgetrennter Raum, als ihr Zimmer benutzen zu dürfen. „Du hast doch ein eigenes Zimmer!“, hatte der gesagt. Vera aber wollte diese Höhle, sie wollte hineinkriechen, für sich sein; sie brauchte kein Fenster, kein Licht (ausser das der Glühbirne), warum, hätte sie nicht erklären können. Vielleicht, dachte Vera jetzt, brauchen Kinder nur wenig Platz, den aber für sich allein, den sie abschliessen können und für den Erwachsene keinen Zutritt haben. Ihr Vater hatte die Flaschen und Konserven in den Keller gebracht und Vera die Kammer überlassen.
Nesgir kletterte über die Leiter in ihr Bett, klemmte den Plüschelefanten unter den Arm und kletterte zurück. „Mein Elefant“ sagte sie. „Slon! Er schläft immer bei mir.“ So sah er aus. Der Rüssel angenuckelt, die Ohren eingerissen, ein Auge fehlte. Sie reichte ihn Vera, die Nesgir fragend anschaute. Ein Geschenk? Das geht nicht, nicht dein Schlaftier, Nesgir!
Ein solches hatte Vera auch. Ihr Schlaftier war ein Schaf, neben dem sie am Morgen ihres zweiten Geburtstags im Gitterbett aufgewacht war. Und sie hätte geschworen – wenn sie Schwüre schon gekonnt hätte –, dass das kuschlige Tier, das keinen Namen bekam, sondern einfach nur Mähmäh genannt wurde, am Abend davor noch nicht neben ihr gelegen hatte. Und sie hätte es nie, bis heute nicht, weggegeben.
„Anfassen!“, befahl Nesgir. Nur anfassen. Eine Verbindung zwischen ihr und der Liebsten von Gadji. Der Elefant würde die Berührungen spreichern und – gegebenenfalls abgeben. Als Wärme, als Vertrautheit, als Freundschaft. Davon war die Kleine überzeugt. Dafür haben die Kleinen ihre Höhlen und ihre Freunde.
„Spasibo!“, sagte Vera; und Nesgir klatschte in die Hände und rief: „Du kannst ja Russisch!“
Zum Abschied umarmte Ludmilla Vera, Dshantir drückte mit beiden Händen ihre Linke, und als sie sich zu Nesgir herunterbeugte, bekam sie einen limonadenfeuchten Kuss auf die Wange. „Moshno mne?“, fragte sie. Vera verstand und hielt still, als Nesgir ihre Hände in dem blonden Haar der Deutschen grub. Und zum Schluss sagte Dshantir Muuslimsade (was Gadji brav übersetzte): Du bist herzlich eingeladen, im Sommer nach Baku, Vera. „Ya provashnaya Veru“, gab Gadji seinen Eltern Bescheid.
Sie liefen schweigend und ohne sich zu berühren nebeneinander durch die Strassen. Vera ging ein Lied durch den Kopf; sie fing an, dessen Melodie zu summen, und in ihrem Kopf sang es: Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Da war es finster und ach so bitter kalt. Sie musste kichern, blieb stehen und stellte sich vor Gadji. Sie zwang ihn, innezuhalten. Sie kamen an ein Häsuchen von Pfefferkuchen fein, wer mag der Herr wohl in diesem Häuschen sein?
„So“, sagte Vera, sie schwankte ein wenig. „Ab jetzt möchte ich mit dir Hand in Hand weiterlaufen. Gib mir die Hand, mein schwarzer Bruder …“, kicherte sie und wollte Gadji umarmen und ihn küssen.
Sie hatte einen Schwips. Und warum auch nicht? Es war ein Nachmittag gewesen, vor dem ihr Bange gewesen war; es stellte sich heraus, dass diese klitzekleine Furcht völlig unnötig und dass es eine der schönsten Begegnungen ihres Lebens war. Gadji stand vor ihr wie ein Stock, wie eine Krücke, holla, die Waldfee mit einer Klyuka, die Hexe, die ihren gichtigen Zeigefinger krümmte und das Geschwisterpaar in ihre Hütte lockte … Ja, Vera hatte einen in der Krone, was sie gar nicht bemerkt hatte, als sie noch am Tisch und in der Wärme sass. Die feuchte Abendluft und ihre Schwerelosigkeit machten sie übermütig. Sie fasste nach Gadjis Händen, der liess es geschehen; aber als sie weiterliefen, trottete er wie ein alter Wolf neben ihr her.
„Nu lach doch mal!“ Vera stiess ihm in die Seite. „War ein schöner Tag – mit euch Russen!“ „Chachacha“, machte Gadji.
„Gaaaar nicht so schlecht. Für den Anfang. Das war, gemessen an deiner Föhlichkeit vorhin und so … hi … ein richtiges Gelächter.“
„Vera! Bitte! Komm!“
„Kannst du mir verraten, warum du so mürrisch bist? Habe ich was falsch gemacht, was Falsches gesagt?“
„Nein“, beschied er ihr.
Sie kamen am Tor einer Kaserne vorbei. Es wurde von zwei Lampen erhellt, und die roten Sterne, eine jeder stand auf einer der fünf Spitzen, auf den Torpfosten glänzten. In dem Wachhäuschen sass ein Soldat, der seine Tschapka aus der Stirn geschoben hatte. Sein Gesicht – eine weisse, konturlose Fläche. Er schrieb etwas, so sah es aus, und er unterbrach sich dabei, als er aufblickte und nach dem Pärchen schaute.
Schliesslich sagte Gadji: „Das waren nun meine Eltern und meine Schwester. Zufrieden?“ Als wärest nicht es du gewesen, der das Treffen vorgeschlagen und arrangiert hätte, dachte Vera. Ja, ich war neugierig, und ich habe mich darauf gefreut, deine Familie kennenzulernen. Aber wieso tust du jetzt so, als hätte ich darauf gedrängt und dich dazu gezwungen? Aber Vera wollte, was sie immer wollte: Friedlichkeit. Sie hatte partout keine Lust auf einen absurd-kleinlichen Streit. Hatte sie nie gehabt und stets darunter gelitten, wenn gezankt wurde, wenn es kleinkariert, wenn es unwürdig zuging. Kapierte Gadji das nicht?
„Ich mag deine Eltern“, sagte Vera ruhig. „Und Nesgiir – liebe ich. Glaube ich.“ Sie konnte es nicht unterdrücken, ein Kicksen, ein Klacksen, aus der Seele über die Gurgel hinaus in den Abend. Gadji brummte wie eine Hummel, und Vera – das kannte sie von sich – suchte nach einer Tür. Einen Zugang. Von denen gab es schliesslich tausende, und einen Gott gab es ihrer Ansicht nach nicht mal in einem einzigen Exemplar.
„Gut. Spass magst du also nicht haben. Das Essen deiner Mutter hat dir nicht geschmeckt. Kannst du dich vielleicht grad selbst nicht leiden? Was war das für ein Kuchen zum Schluss?"
„Kein Kuchen. Ptischna. Ist Gebäck.“
„Sind wir jetzt auf dem Weg zu einer richtigen Unterhaltung?“, fragte Vera und zog Gadji an seiner Jacke zu sich heran. Zwischen ihren Gesichtern wurden wurden die Atemwölkchen platt gepresst. „Du fragst mich, und ich antworte dir. Dann frage ich dich was, und du antwortest mir. Fein!“ Sie stiess Gadji sacht von sich und drehte sich hüpfend im Kreis; sie stolperte, beinahe wäre sie gefallen, wäre nicht Gadji gewesen, der sie hielt und an sich zog.
„Was soll ich dich fragen?“
„Ob ich dich liebhabe beispielsweise“, flüsterte Vera.
„Hast du mich lieb?“
„Nöööö!“, lachte sie und gab ihm einen Kuss auf die Nase.
„Jetzt fragst du mich.“ Gadj hatte sich entspannt und spielte mit.
„Mmmh“, machte Vera; dann fragte sie: „Was ist mit deiner Tante passiert? Techmine?“ Gadji erstarrte. „Sie ist tot. Erschossen.“
„Im Krieg?“
Er lachte kurz und bitter. „Im Krieg. Richtig, pravilno. Im Krieg, vor drei Wochen.“ „Aber in welchem Krieg denn?“
„Ich will nicht darüber sprechen.“
Sie standen im trüben Licht einer Haltestelle. Die Bahn nächerte sich, ihre Scheinwerfer stachen durch die Dunkelheit. Sie hielt an, die Türen öffneten sich automatisch. Niemand stieg aus, niemand stieg ein. Der Triebwagenführer wartete noch ein paar Sekunden. Ob das Pärchen da nun endlich einsteigen wollte, nein, wollte es offenbar nicht. Die Türen schlossen sich, die Bahn ruckte an und rauschte davon. Falls Bahnen sich ärgern können, dann war das eine von denen.
„Zuhause“, rang sich Gadji durch.
„Zuhause habt ihr Krieg?“
„Es interessiert mich nicht.“
„Ne interesnoo?“, fragte Vera.
„Das verstehst du nicht“, sagte er streng.
Vera trat so dicht an Gedaji heran, dass ihre Lippen sich beinahe berührten. „Du sagst, ihr habt Krieg, Tante Techmine wurde erschossen. Und du sagst, das interesiert dich nicht? Bist du es, Gadji, bist du der Gadji, den ich liebe? Oder bist du der Grosse Unbekannte?“ „Sie werden dafür büssen“, knurrte Gadji. In seinen braunen Augen, sah Vera, glühte ein Lagerfeuer, dessen Widerschein auf den Läufen von Gewehren glänzte.
„Was für ein Krieg, gottverdammte Scheisse noch mal!?“, schrie es in Vera; aber ihr Zorn kam kaum hörbar durch die zusammengepressten Lippen.
„Techmine war die Schwester meines Vaters“, sagte Gadji ruhig. „Sie lebte in Schuscha, Berg Karabach, wie ihr Deutsche sagt. Sie war Armenierin, wie mein Vater auch …“ „Ich denke, du bis Aserbaidschaner?“
„Natürlich bin ich Aserbaidschaner. Ich bin in Baku geboren, Nesgir ist in Baku geboren. Meine Mutter stammt aus Odessa, und mein Vater – ist sowjetischer Offizier. Ist doch alles klar wie …Pel'mennyy bul'on. Pelmenibrühe? …“
„Klossbrühe“, schlug Vera vor; und es lag am Wein, dass sie beinahe gelacht hätte.
„Karabach gehört zu Aserbaidschan“, hörte sie Gadji ernst und streng sagen. „Aber es gehört den Armeniern. Es heisst ‚schwarzer Garten', es ist sehr fruchtbares Land“, erklärte er – wie ein Sprachroboter.
v „Und wer hat nun die Tante umgebracht?“, fragte Vera leise.
„Aserbaidschaner.“
„Ich – verstehe nur Bahnhof.“
„So ist eben Krieg. Ich hab doch gesagt: Du verstehst das nicht.“
„Es ist Wahnsinn“, rief Vera. „Es ist Wahnsinn!“
Gadji zuckte mit den Schultern. Krieg, Wahnsinn – er hatte doch gesagt, dass es ihn nicht interessierte. Warum sollte es ein deutsches Mädchen interessieren?
„Gadji, bitte! Ihr seid Armenier, und ihr seid Aserbaidschaner. Okay. Und ihr bringt euch gegenseitig um? Ist das so? Geht das: dass man der eine ist und den anderen in sich tötet?“
Vera erschrickt, als sie sieht, wie schwarz Gadjis Augen auf einmal sind. Schwarz, bodenlos, ein Schacht. In dem es kein Feuer, kein Licht, keinen Widerschein gibt. Kalte Schwärze, keine Wärme.
„Gadji!“ Vera rüttelt am Kragen seiner Jacke. „Gadji!“ Als erwachte er: „Lass uns gehen. Nach Hause zu dir, Vera. Ich liebe dich, Vera.“ Setzen wir uns in die Küche hin, süss riecht hier das Kerosin – My s toboy na kukhne posodim, sladko pchnet beluyyy kerosin.
Montag, 15. Januar 1990
Am 13. und 14. Januar 1990 kam es zu Pogromen gegen Armenier in Baku, Xanlar, Schahumjan und Lənkəran mit mehr als 90 Todesopfern. Am 15. Januar wurde über Karabach und angrenzende Gebiete das Kriegsrecht verhängt. Nach Ausrufung eines Generalstreiks in Baku rollten zum 20. Januar sowjetische Panzer in die Stadt, es kam zu 150 Todesopfern und der Ausnahmezustand wurde verhängt. Daraufhin protestierten Nachitschewan und der Oberste Sowjet Aserbaidschans. Russische und armenische Familien flohen aus Baku, bis zu diesem Zeitpunkt flohen insgesamt 500.000 Menschen. Bis August kam es zu weiteren Übergriffen auf armenische und aserbaidschanische Dörfer, vorrangig durch paramilitärische Verbände. In Aserbaidschan erstarkten die OMON, Milizen des Innenministeriums, denen viele Flüchtlinge aus Armenien beitraten.*
„Das Neue Forum rief für den 15. Januar 1990 zu einer Demonstration vor der Stasi-Zentrale auf. Modrow-Regierung und Stasi-Generalität sahen die Chance, den Runden Tisch mit seinen Bemühungen zur Stasi-Auflösung ins Leere laufen zu lassen. Ein Täuschungsmanöver hob an.
Die Volkspolizei hatte im Dezember 1989 die Aussensicherung der Stasi-Zentrale übernommen. Die Entwaffnung der Stasi-Mitarbeiter war Anfang Januar 1990 erfolgt. Zum Objektkommandanten der Stasi-Zentrale war Volkspolizei (VP)-Major Rögner ernannt worden. In Hinblick auf die angemeldete Demonstration am 15. Januar 1990 verfügte er über insgesamt 250 Mann – eine Kompanie Bereitschaftspolizei, eine Kompanie Offiziersschüler der Polizei-Hochschule und drei Züge Schutzpolizei.
Angehörige von "Bürgerkomitees" wurden zum 15. Januar 1990 nach Berlin eingeladen – integre Personen und andere, unbekanntere. Sie trafen sich um 13.45 Uhr in der Stasi-Zentrale und hielten eine Beratung ab. Um jede Konfrontation zu vermeiden, sollten die Stasi-Mitarbeiter bis 15.00 Uhr den Komplex verlassen. Das kontrollierten "Bürgerkomitees" und Volkspolizei. Gegen 16.45 Uhr versammelten sich über 10.000 Demonstranten vor dem MfS.
Gegen 17.00 Uhr wurde in der Ruschestrasse rhythmisch gegen das Tor gedrückt. Die Volkspolizei war machtlos. Gegen 17.20 Uhr war das Tor ohne Gefahr für Leib und Leben der Demonstranten nicht länger geschlossen zu halten. Die Situation glich der des 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Strasse. Nach Rücksprache mit dem katholischen Interner Link: Pfarrer Martin Montag vom "Bürgerkomitee der Bezirke" liess Objektkommandant VP-Major Rögner das Tor von innen öffnen. Unklar ist nur, ob dies durch über das Tor gekletterten Demonstranten oder die Volkspolizei erfolgte.
Die Menge zog zum beleuchteten Versorgungstrakt. Es kam zu eher geringfügigen Beschädigungen, die allerdings in den parteinahen Medien der DDR am Folgetag und in der Fernsehsendung "Aktuelle Kamera" dramatisiert wurden. Stasi-Mitarbeiter aus der Abteilung Rückwärtige Dienste verfassten am 16.1.1990 sogar eine "Protestresolution" und verurteilten "aufs Schärfste die Ausschreitungen", verknüpft mit durchschaubaren Fragestellungen wie: "Welches Gebäude wird als nächstes gestürmt und demoliert?" oder "Wer gewährleistet vorbeugend staatliche Sicherheit"?
Dabei war am Vorabend so viel gar nicht passiert. Westwaren im Supermarkt wurden inspiziert, Büros der Poststelle durchwühlt, einige Räume der sensiblen Abteilung II (Spionageabwehr) wurden aufgebrochen; dort war aber nichts mehr zu holen. Ein Aushang an den Türen zur HVA "Auslandnachrichtendienst der DDR – Betreten verboten!" wurde respektiert. Wer durch den Keller dorthin gelangte, den stoppten HVA-Mitarbeiter. Gegen 19.00 Uhr trafen Politiker vom Zentralen Runden Tisch ein und sprachen zur Menge, darunter auch die prominente Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Gegen 20.00 Uhr zogen die meisten Menschen wieder ab.“
(aus: Der 15. Januar 1990 – ein Stasi-Erfolg?, Bundeszentrale für politische Bildung)
Dienstag, 31. Januar 1990
Gadji und seine Familie waren vor drei Tagen zu ihrer Reise nach Baku, in ihre Heimat, aufgebrochen. Die Winterferien würden zwar erst am 10. Februar beginnen; es war jedoch keine bürokratische Schwierigkeit, Gadji die letzten Schultage zu erlassen. Er war seit fast einem halben Jahr Schüler der Alexander-von-Humboldt-Oberschule – und er war doch nicht Gleicher unter Gleichen. Er war ein Schüler, wie ihn Lehrer sich nur wünschen können – und er war doch ein Ungreifbarer unter den Begreiflichen. Er war ein junger Mann, der ein Mädchen liebte, von dem er geliebt wurde – und er war doch ein Ausgeschlossener. (Aber sind Liebende das nicht immer? Im Kokon ihrer Liebe eingesponnen – unmöglich, unfähig, teilzuhaben am Leben der anderen? Weil sie sich haben, weil sie sich genügen, weil das Treiben der Welt sie nicht betrifft?)Sie hatten die letzte Nacht vor seiner Abreise gemeinsam verbracht.
Sie hatten miteinander geschlafen – und stundenlang miteinander geredet. Vera wusste inzwischen, dass die Muuslimsades in eine Stadt und in ein Land fuhren, in dem es Unruhen, Pogrome, Feindschaften gab. In einem Ausmass, das sie sich nicht vorstellen konnte, das sie beunruhigte und das mit ihrer „popligen DDR“ (so hatte der Spötter Peter Sandberg die wankende Heimat vor Kurzem genannt) nicht zu vergleichen war.
Gadji hatte versucht, die Freundin zu besänftigen. Es gab nicht viele Nachrichten aus Aserbaidschan und Armenien, und bei den Nachrichten sollte man sich immer fragen, wer setzte sie in die Welt, welche Wirklichkeit verbarg sich wirklich hinter Wörtern und Wörtern und Wörtern. Das sei doch in Deutschland und mit Deutschland (Vera korrigierte lahm, dass sie in der DDR lebten, nicht in Deutschland; ein Einwurf, den Gadji überhörte) nicht anders. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute prasselten Informationen auf die Menschen ein – es sei ein chernyy dozhd', ein schwarzer Regen, der auf die Menschen fiel.
Er, Gadji, würde nur glauben, was er mit seinen eigenen Augen sehe. Zum Beispiel habe er Peter und Mark auf diesem strannyy Markt erlebt. Und die blöden Faschisten in der S-Bahn. Und den Sportlehrer Kowalsik, den er gestern das erste Mal beim Boxen geschlagen hatte. Die gab es, das gab es, aber es gab auch Vera und ihre Liebe. Es gab diesen Deutschlehrer mit seinem Hölderlin-Spleen. Es gab Veras Mutter, die mit dem Idealismus einer … sumasshedshiye lyudi unterwegs war … Und es gab, es gab, es gibt, es wird geben – die Liebe zwischen ihm und ihr. Und immer einen Regenbogen nach dem Regen, so schwarz er auch sei.
Nein, Vera war nicht beruhigt. Sie lag neben Gadji auf der Matratze in ihrem Zimmer. Sie hatte sich auf die Seite gedreht, ihren Kopf in eine Hand gestützt, ihr langes Haar floss über das Kissen. Sie sah einem Jungen, einem jungen Mann, der bald aufstehen und wegfahren würde, beim Schlafen zu. Er atmete ruhig, zufrieden, sorglos, und als er auf einmal schnaubte, bewegte sich eine Haarsträhne auf seiner Stirn.
Vera sah sich selbst als ein Mädchen, eine junge Frau, die zurückbleiben und warten musste und warten würde.
*
Über all das sprach Vera mit ihrer Mutter nicht, als sie sich nebeneinander auf das Sofa fläzten, die Beine auf dem flachen Tisch, in den Händen ein Glas Wein und in Reichweite eine Schale mit Erdnüssen. Es war ihnen zum Ritual geworden, wenigstens einen Abend in der Woche die „Weiberstunde“ (die immer mehrere Stunden bis in die Nacht hinein dauerte und nicht selten damit endete, dass entweder Vera oder Victoria einschlief und die eine der anderen eine Wolldecke überlegte, damit sie schlafen konnte, bis sie aufwachen und in ihr Bett taumelte) einzuhalten –, um all das zu bekakeln, wozu sonst im Betrieb der Tage keine Zeit war.
Victoria wusste, dass Gadji seit Tagen fort war. Sie wusste auch, dass Vera im Sommer unbedingt nach Baku reisen wollte; Gadjis Eltern hatten sie eingeladen. Die Mutter würde es niemals offen eingestehen und ihr sagen –, aber sie bangte um die Tochter. War es hier und heute nicht schon unübersichtlich (bedrohlich gar?) genug, wie unvorhersehbar und chaotisch ging es in den Republiken der Sowjetunion zu? Genügend Berichte (und noch mehr Gerüchte) gab es über die Autonomiebestrebungen, über separatistische, nationale Bewegungen, über Attentate – über all das, was ein Riesenreich bedrohte, wanken liess, am Ende zerreissen könnte? Und es war erst Wochen her, dass viele Menschen befürchteten, die eigene Volksarmee würde im Verbund mit der Sowjetarmee einen Bürgerkrieg riskieren. Das Denkbare geschah nicht; es glich einem Wunder, fand Victoria.
In all dem Vera zu sehen, beunruhigte die Mutter zutiefst. Und die Liebe, die Liebe nun ja. Ein gläserner Palast, eine schillernde Seifenblase, ein Regenbogen. Da könnte ich aber Sachen erzählen, dachte sie grimmig. Aber wer will schon davon hören, wie zerbrechlich das ist, wenn man verliebt ist und von der bombenfesten Dauerhaftigkeit der Liebe überzeugt ist?
Aber Victoria wäre nicht Victoria, würde sie es nicht auf einen Versuch ankommen lassen.
„Auf dich, meine schöne Tochter“, sagte sie und stiess ihr Rotweinglas gegen Veras.
„Auf dich, meine schöne Mama“, antwortet Vera.
„Nun, wenn ich abends in den Spiegel blicke, mache ich ein Auge immer zu.“ „Und dann?“, lachte Vera. „Sehe ich ungefähr die Hälfte, die gute. Die andere, die schlechte, nicht.“
„Und das funktioniert?“
„Nein“, sagte Victoria. „Es funktioniert so wenig, wie es mit der Liebe und mir funktioniert.“ Sie seufzte und linste über den Rand des Glases zu ihrer Tochter. Ein taktischer Seufzer, aber nicht schlau genug, um nicht von Vera durchhört zu werden. „Und jetzt willst du wissen, wie es mit mir und Gadji steht.“
„Nee. Niemals würde ich dich plump fragen. Hör mal! Bin ich eine neugierige Trutsche?“ Vera lehnte ihren Kopf gegen die Schulter ihrer Mutter, grinste und antwortete: „Ja.“ „Also da hört sich ja alles auf!“ Victoria tat empört. Victoria musste sich eine Handvoll Nüsse in den Mund stopfen. Victoria stellte ihr Glas auf den Tisch; es knirschte. „Ach, Mama“, sagte Vera. „Mir geht es gut mit Gadji. Ihm mit mir auch, hoffe ich doch. Er wird mir jeden Tag aus Baku schreiben. Und wenn wir uns wiedersehen – es könnte einer der schönsten Tage meines Lebens werden.“
„Soll ich dir sagen, was der definitiv schönste Tag meines Lebens war?“
„Ich bin doch keine neugierige Trutsche …“
„Als du geboren wurdest. Als ich dich zur Welt brachte. Und ich dich im Arm hielt und dachte: Nicht du bist ein Glückskind, nein, ich bin ein Glückskind! Ich wünschte dir alles, alles Glück dieser Welt! Und ich fühlte: Ich hatte es eben erhalten.“
„Ich weine gleich“, sagte Vera leise.
„Soll ich den Fernseher anmachen?“, fragte Victoria.
„Du bist unmöglich! Mutter! Wie kann ein gescheiter Mensch die Wörter Glück und Fernseher so dicht an dicht stellen!“
„Ich bin kein gescheiter Mensch. Ich fürchte mich nur, Vera.“
„Vor den Geistern, die du riefst?“, fragte Vera aufgekratzt und zog eine Grimasse, die grauenerregend wirken sollte.
„Vor den Geistern, die ich niemals rief!“, antwortete Victoria.
Später sprang Victoria plötzlich auf, kniete sich vor das Bücherregal, in dem zuunterst einige Fotoalben vor sich hin staubten. Sie zog ein paar aus dem Stapel und setzte sich zurück auf die Couch in den Schneidersitz. Das Seidenpapier, das die Seiten trennte und die Fotos schützte, knisterte, als sie bei einem Foto innehielt; es zeigte Vera als Kind, das neben einem Teddybären sass, der sie überragte.
„Urlaub in Thüringen, Friedrichroda.“ Victoria tippte auf das Foto. „Du und dein Mischa-Bär.“
„Ziemlich fetter Brocken“, sagte Vera. „Ich – und der Bär.“
„Mal streckt der Mensch sich in die Länge, mal geht er in die Breite.“
„Uuuuh, meine Mutter, die Philosophien!“
Einige Seiten wurden überschlagen. Vera kannte sie; es war nicht das erste Mal, dass ihre Mutter nostalgisch gestimmt war. Fotos, auf denen sie mit Dominik in alberner, in ruhiger, in selbstbewusst schauender Zweisamkeit zu sehen sind. Damals, bevor Vera geboren wurde, waren sie auf einem Jawa-Motorrad durch die Welt gefahren, eine Welt, in der nicht Paris und nicht London erreichbar waren, aber die polnische Ostseeküste, Budapest, Prag und das Schwarze Meer. Und sie zelteten jedes Jahr mindestens für eine Woche im Sommer auf der Insel Usedom.
„Wie wenig wir gebraucht haben“, flüsterte Victoria; sie strich über eines der Fotos, das sie und ihren Ehemann zeigte.
„Es ist schade, dass ihr nicht zusammengeblieben seid.“
Weisst du, was ein Déjà-vu-Erlebnis ist? Weisst du, in welchem Film von Chabrol ein Hutmacher vorkommt?“, fragte Victoria verärgert – und leicht trunken.
„Muss ich das wissen?“
Victoria fährt stur fort: „Und was ein Zoom ist? Und dass Hitchcock der Erfinder von, wie heisst das gleich, Suspensorium … ist.“
Vera kichert und sagt: „Das glaube ich nun grade nicht.“
„Äh, oder … Suspense, ja, es heisst Suspense … Ausserdem musst du immer wie mit 20 oder höchstens mit 21 aussehen, wenn du einen Mann behalten willst, der Kamera kann und gut aussieht. Oja! Nimm lieber einen hässlichen, der Brötchen kann!“
„Trotzdem schade“, sagte Vera leise, und Victoria nickte und nickte und seufzte: „Klar, trotzdem schade. Immer schade, wenn was auseinanderbricht.“
„Kleine, weise, leidgeprüfte Mama.“ Vera schmiegt sich an und streicht der Mutter über die Schläfen.
„Du willst mich veralbern!“, ruft sie, und wieder einmal fliegen die Kissen. Sie balgen sich auf dem Sofa, bis sie, au0er Atem vor Lachen und Leibesertüchtigung, voneinander lassen. Puuuh! Und nach einigen Momenten der Stille fragt Vera:
„Kriegt eine Frau, die Hebamme ist, Kinder anders als andere Frauen?“
„Zwei Wochen über dem Termin! Ich habe zehn Stunden gebraucht, deine neun Pfund lilafarbenes Fleisch aus mich herauszupressen! Dominic“, sie unterbricht sich, „ach Scheisse, dieser Mistkerl immer! … Hat mir beigestanden. Die ganze Zeit. Die Kinder, die ich geholt habe, also die meisten, haben sich nicht so gehabt wie du!“ War lieb von dir, mich so lange behalten zu wollen. Vielleicht bin ich deshalb so ein Sonnenschein?“
„Bist du“, sagte Victoria. „Bist du. Ich habe mich in den letzten Monaten oft gefragt, wie du mit deiner Freundlichkeit und mit deiner Offenheit und mit deiner – wie soll ich es nennen? – Gutherzigkeit in dieser Welt bestehen wirst?“
„Ich bin Diotima“, sagte Vera.
„Fängst du an wie den Vater? Ist das ein Film? Eine berühmte Schauspielerin oder ein Fotomodell?“
Vera muss wieder lachen. Am liebsten würde sie immerzu lachen, auch wenn sie spürt, dass ihre Mutter ernsthaft um sie besorgt ist. Aber wie soll man ein Leben will, in dem es nur Bange gibt? „Ach“, sagte sie, „wenn du in den letzten Wochen an irgendwas oft gedacht hast, dann an deine Zeitung, an deine politischen Freunde, an die Entwicklung im Land.“ Vera legte ihren Kopf in den Schoss der Mutter, und Victoria strich ihr über Scheitel und Stirn. Beide schliessen die Augen; sie könnten stundenlang still so liegen. „Ich habe dich sehr lieb“, sagte die Mutter. „Ich mache mir eben immer Sorgen.“ „Worum denn?“
„Um dich. Um alles.“
„Ist das nicht ein bisschen viel: alles? Für mich bist du die garstigste Mutter der Welt!“ Sie seufzt. „Aber ich hab nun mal nur die eine.“
„Sag das noch mal!“, fordert Victoria sie auf.
„Für mich bist du die liebste und beste Freundin, die ich habe.“
„Noch mal.“
„Nö. Sonst hebst du ab wie ein Zeppelin.“
„Wollen wir in die Heia gehen?“, schlägt Victoria vor. „Ich muss früh raus.“
„Gute Nacht, Mama!“
„Willst du nicht auch schlafen gehen?“
„Später. Schlaf gut, Mama.“
Victoria Lothringen, geduscht und im Nachthemd, steckte noch einmal den Kopf ins Zimmer. Sie sah Vera am Fenster stehen und in den sternenlosen Himmel schauen. „Vera“, flüsterte sie. „Fliegst du schon?“
Vera nickte und dreht sich nicht um. „Ich freue mich auf mein Leben. Warum sollte ich nicht im Himmel leben können?“
Samstag, 10. Februar
Am Morgen startete die Boeing 707 der Flugbereitschaft mit der deutschen Delegation an Bord in Richtung Moskau. Der Bundeskanzler hatte sich intensiv auf das Gespräch mit dem mächtigsten Mann der Sowjetunion vorbereitet: ‚Es musste mir vor allem darum gehen, Gorbatschow die Lage in der DDR deutlich vor Augen zu führen. Er sollte wissen, dass wir nicht an einer Destabilisierung interessiert waren, jedoch in der DDR der Wille zur Einheit da sei. Im Übrigen wusste auch Gorbatschow, dass sich von den Warschauer-Pakt-Staaten die tschechoslowakische, die polnische, die ungarische, die rumänische und selbst die bulgarische Regierung für die deutsche Einheit ausgesprochen hatten. Dennoch sassen wir mit sehr gemischten Gefühlen im Flugzeug. Welche Pläne hatte Gorbatschow? Würde er uns seine Zustimmung zu Deutschlands Einheit um den Preis der Neutralität anbieten und uns damit in grösste Schwierigkeiten bringen? Eines schien mir gewiss: Ein so entspanntes Treffen wie im Juni 1989 in Bonn würde es sicherlich nicht werden, denn im Kreml türmten sich die Probleme. Die DDR war dabei aus sowjetischer Sicht nur eines, wenngleich ein besonders grosses. Auch in der Tschechoslowakei und in Rumänien waren gewaltige Umwälzungen im Gange. Im sowjetischen Vielvölkerstaat gärte es inzwischen an allen Ecken und Enden, einmal ganz abgesehen von den riesigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Diese zwangen Michail Gorbatschow zum Handeln, doch wer handelt schon gerne unter Zwang.(Quelle: Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996)*
Es war spät geworden, gestern Abend, ehe sie sich trennten und einzeln nach Hause gingen. Letzter Schultag vor den Winterferien – der musste gefeiert werden, und weil sie kein Lokal und kein Café kannten , in dem ein Open End geduldet war, hatten sie es sich in der Sporthalle gemütlich gemacht.
In der Sporthalle? Ohne Billigung Kowalskis, ihres gestrengen Boxmeisters a. D.? Nicht doch.
In der letzten Sportstunde am Mittwoch, als sie lose in Reihe und Glied vor dem Sportlehrer standlümmelten, ergab sich Verblüffendes.
Peter Sandberg hatte geulkt, dass er über die Ferien vermutlich zehn Kilogramm an Gewicht zulegen werde, weil er nicht vorhabe, sich auch nur einen Meter aus dem Bett zu bewegen; „bei dem Scheisswetter doch nicht!“ --- Zum Kühlschrank sind es aber auch ein paar Schritte, hatte Mark Viehweger geflachst. --- Bierflaschen heben, macht Armmuskeln, meinte Sylvia Hohberg. --- Und Gernot Klinkermann scherzte dazu: In einem trägen Körper wohnt ein träger Geist. --- Kann dir nicht passieren, Chefindianer Gojko Mitic! parierte Peter.
„Schluss, bitte, Herrschaften! Ihr Geschwätz in allen Ehren – ich wünsche Ihnen angenehme Ferien“, sagte Kowalski.
„Könnten sie werden“, sagte Sylvia Hohberg. „Mit einer schönen Anfangsparty“, seufzte sie, „nur wo kann man ungestört und endlos feiern?“
„Würde es sie überraschen, Fräulein Hohberg, wenn ich Ihnen die Sporthalleüberliesse? Für ihre überbordende Partylust?“
„Ordentliches Konjunktiv“, raunte Mark.
Sylvia, ein Körper verteilt auf standfeste knappe und feste 60 Kilogramm, wäre fast aus den Sportschuhen gekippt. Sie riss die Augen auf, schaute sich um, als schätzte sie die Halle in der Höhe und in der Breite nach ihrer Tauglichkeit für eine Fete ein, und fragte ungläubig: „Sie, ähm, Herr Kowalski, Sie bieten uns die Halle als Kneipe an?“
„Andere Zeiten, andere Sitten“, sagte er. „Ich möchte Sie nur bitten, hinterher alles wieder zu richten. Ordnung und Sauberkeit, Sie wissen. Im Übrigen erlauben Sie mir die Frage: Wo ist eigentlich ihr patenter Mitschüler abgeblieben?“
Alle Blicke richteten sich auf Vera. Sie wussten es alle selbst auch, aber Vera wusste es schliesslich am allerbesten, sie ging es am ehesten an, und sie hatte das erste Recht auf die Antwort. Ausserdem stand ausser Frage, dass Kowalskis Entgegenkommen etwas mit Gadji Muuslimsade zu tun hatte. Der alte Sportsfreund hatte einen Narren an ihrem Klassenrussen gefunden, und es hiess, dieser Narr sei noch gewachsen, seitdem Kowalski von Gadji beim Boxen zu Boden geschickt worden war. So ehrte der Unterlegene seinen Bezwinger, indem er ihm das Kämpfen beigebracht hatte.
„Er kommt wieder“, sagte Vera. „Nach den Ferien. Er ist nur ein paar Tage früher in die Ferien geflogen. Nach Hause.“
Horst Kowalski, der in diesen Momenten zum Lieblingslehrer der 12 d und damit in den Himmel der Pädagogik aufstieg, nickte. Er war mit der Auskunft zufrieden und erklärte, wo sie den Schlüssel ablegen sollten, wenn sie mit ihrer Party am Ende wären. Eine Bitte hätte er noch. Sie sollten rechtzeitig die Toiletten benutzen und auch diese Örtlichkeiten in sauberem Zustand hinterlassen.
Sie sassen und lagen auf den Turnmatten, saugten an Zigaretten und Flaschen. Zwischendurch hing sich Mark in den Stufenbarren und versuchte, im Schweinebammel aus einer Flasche Bier zu trinken. Ging schief, lief schief.
Gernot nahm sich einen Volleyball und schlug ihn gegen eine Wand. Der Ball sprang zurück, er baggerte ihn sich als Vorlage und schlug ihn wieder gegen die Wand. „Weisst du, was ich glaube?“, raunte Peter Sylvia zu – sie hatten ihren Kopf auf seinen Bauch gelegt und blies den Qualm einer Zigarette in die heilige Stätte der Gesundheit – „ich glaube, unser Weltmeister versucht's noch mal bei Vera. Rein showmässig.“
„Wie bescheuert ist das denn?“, lallte Sylvia.
„Gadji ist weg, sie ist noch da. Eins minus eins plus eins und trallala“, meinte Peter und langte nach einer Flasche im Kasten, der neben ihm stand. Den er sich zurechtorganisiert hatte. Wenn einer wusste, wo Barthels den Most holt, dann war er der Barthels, der wusste er, wo man das Bier holt.
Maria schwebte über das Stabparkett der Turnhalle. In sich versunken, vielleicht mit einem unsichtbaren Tänzer, den sie führte, liess sie sich von der Musik treiben.Now that I know that I'm breaking to pieces/I'll pull out my heart and I'll feed it to anyone. The Cure sang vom Kassettenrecorder.
Maria wiegte sich hin und her, sie bewegte sich nicht im Takt der Songs, sie bewegte sich in ihrem eigenen Rhythmus.Crying for comfort, crocodiles cry/For the love of the crowd and the three cheers from everyone/Dropping through sky, through the glass of the roof – ja durch den Himmel fallen durch das Glasdach, durch das Dach deines Mundes. Through the roof of your mouth, through the mouth of your eye/Through the eye of the needle, it's easier for me/To get closer to heaven than ever feel whole again - Durch den Mund deiner Augen/Durch das Nadelöhr/Es ist einfacher für mich/ Mich dem Himmel zu nähern, als jemals wieder vollständig zu sein …
Vera erhob sich aus dem Schneidersitz, in dem sie auf dem abgewetzten Leder eines Sprungkastens gesessen hatte, und ging tänzelnd durch die Halle. Auf Maria zu. Sie umarmten sich und tanzten zusammen. Jetzt, da ich weiss, dass ich zerbreche,/Wieder und wieder und wieder,/Werde ich mein Herz herausreissen und verfüttern an jeden./Aus Sympathie Krokodilstränen vergiessend … How the end always is/How the end always is/How the end always is/How the end always is/ How the end always is … - Yeah, I miss the kiss of treacheryThe shameless kiss of vanityThe soft and the black and the velvety … Maria und Vera tanzten Stirn an Stirn. Die Hände Veras lagen auf Marias Schultern; Marias Hände umfingen Veras Hüfte. Da verabschiedete sich einer im Lied von einer Frau, die er einst geliebt hatte; und von Verrat wird gesungen, von Betrug, und es fällt alles auseinander ringsum … Ein privates Unglück, wenn es einem wiederfährt, ist das Unglück einer ganzen Welt, ist das so? fragten sich die Mädchen lautlos. Aber niemand hat uns bisher verraten; warum fühlen wir uns verraten? Niemand hat uns betrogen; warum fühlen wir uns wie betrogen? Und wohin wollen wir gehen, nicht heute Abend, nicht morgen -, dann, nach der Schule? Ins Leben, in welches Leben? Hast du einen Plan, Maria? Nein, habe ich nicht, Vera, hast du einen?
Wie die Gedanken in ihren Köpfen, wie die Fragen in ihnen, so tanzten die beiden Mädchen nach einem Rhythmus, den The Cure nicht vorgab, nach einem Lied, das die Band nicht sang, aber sie tanzten nach einem Sound, der sie verrückt-traurig machte.
„He! Ihr zwei Hübschen!“ rief Peter aus der Ecke der Halle, die sie mit Matten, Kästen, Gymnastikbällen, Barren zur sportlichsten Kneipe ganz Berlins umgestaltet hatten. (Sylvia sass, schwankend doch beide Schenkel fest gepresst an den Corpus und sich festhaltend, auf einem Turnpferd und ritt an ihrem dienstfreien Nachmittag, auf den sie als Lieblings-Girl der Cowboys im Saloon ein Recht hatte, über die Prärie.) „He, kommt her! Redebedarf! Oder ich komme und hole euch, ich, der Spinnenmann! Yeah, and the Spiderman is always hungry!“, wiederholte Peter seine Forderung.
„Spinnermann, höchstens“, tönte Sylvia von oben herab. Halb glitt, halb rutschte sie vom Holzbein-Gaul. Der Rock rutschte ihr über die Hüfte bis unter die Brust; die Jungs pfiffen und applaudierten, und Sylvia zeigte ihnen den Mittelfinger: „Wichser, Voyeure!“, giggelte sie fröhlich-trunken.
Sie sassen beieinander, und jeder sass für sich.
Sie hatten über eine Stunde lang über ihre Zukunftspläne gesprochen; ein Sit in in eigener Sache, die aus einem zerrissenen, ausfransenden Netz aus Träumen, Vorstellungen, vagen Absichten, Unsicherheiten bestand.
Mark, Peter und Gernot waren sich in einem sicher: Es würde sie nach dem Abitur nicht in die Armee verschlagen. Wie es üblich war für die meisten Abiturienten; diese Pause, bevor sie studieren oder andere Wege einschlagen würden, würde es für sie nicht geben. Es sah so aus, als würde die Nationale Volksarmee nicht mehr lange bestehen.
Was verwirrend war. Müssten sie dann in die Bundeswehr einziehen? Wie sollte das funktionieren, Feuer und Wasser, Salz und Zucker, Freund und Feind? Würde die NVA Teil der NATO werden, wenn Deutschland sich wiedervereinigte? Einerseits waren sie froh darüber, wahrscheinlich in keiner Armee der Welt dienen zu müssen („Soldat sein, ist nicht mein Traum, nee, wahrlich nich“, meinte Peter), andererseits fehlte ihnen möglicherweise dieses Stück verordnete, gesetzliche Gewissheit im Lebenslauf. Gernot, der sich sogar für drei Jahre verpflichtet hatte, vor einem Jahr, als alles noch seinen sozialistischen Gang ging, sagte: „Ich hab's mir ganz gut vorgestellt. Drei Jahre, bisschen Geld, Zeit, um sich für später was zu überlegen.“
„Als wüsstest du nicht längst, was du mal machen willst“, stänkerte Mark. „Du wirst es nicht glauben“, konterte Gernot, der überraschen weich und zugewandt war (sollte Peter mit seiner Unkerei wegen des Buhlens um Vera richtig liegen?). „Ich weiss es tatsächlich nicht. Politiker? Keine Ahnung. Wie wird man Politiker? Und ehrlich mal: Wenn ich mir überlege, was Politiker machen können und wie schnell sie wieder weg vom Fenster sind …“
„Na unsere haben's ne ziemlich lange Weile gemacht“. flachste Sylvia.
„Und dann?“, fragte Gernot. „Schwupp über die Wupper.“
„Wuppertal“, trug Peter bei; und alle gähnten synchron und demonstrativ. Einschliesslich Peter.
„Ich werde Tierärztin“, verkündete Vera resolut.
„Ich wäre gern ein armer Hund, verletzt und arg geschunden, dann machte Vera mich gesund, und ich wär ihr ewig verbunden“, reimte Mark.
„Du wirst, was du bist“, sagte Gernot. „Ein Knittler vor dem Herrn!“
„Auch nicht sicher“, erwiderte Mark; auch er war seltsam weich und zugewandt. Als hätten sich die beiden nicht für immer verkracht? Einiges lässt sich durch den Weichspüler Wein und Bier und Eierlikör erklären – behutsame Annäherung auch?
„Denn gilt für die Poeten nicht auch, was für die Politiker gilt? Vielleicht ein kurzer Aufstieg, dann der Fall in die Vergessenheit?“
„Dann solltest du es erstmal mit dem Aufstieg probieren“, sagte Sylvia und setzte raunend-dunkel fort: „Ich werde deinen Weg verfolgen, Hölderlin! Egal, wo ich bin, meine Augen sehen dich.“
„Aus welcher Bar wirst du ihn sehen?“, fragte Peter.
„Manila. Quito. Reykjavik“, erwiderte Sylvia. „Im Ernst. Ich mache nach dem Abitur nichts. Ich reise durch die Welt, basta, chiquita, olé! Erstmal gucken, was anliegt.“ „Und du, Maria?“, fragte Vera.
„Weiss nicht“, antwortete sie. Maria schloss die Augen und wiegte ihren Kopf. Sie schloss sich wieder Mal weg. Das war für die Freundinnen und Freunde mittlerweile so gewohnt, dass niemand sie zu stören wagte. Wenn Maria wegdriftete – das war so, als stände sie an Deck einer Fähre, von der niemand wusste, von welchem Ufer zu welchem Ufer sie fuhr. „Was Menschliches machen“, sagte sie und verblüffte alle. Niemand hatte damit gerechnet, dass Maria die Frage vernommen, geschweige eine Antwort gegeben hätte.
„Wir sollten langsam Schluss machen“, schlug Gernot vor. Er runzelte die Stirn, so sehen Sorgenfalten aus, Leute, und schaute Vera an. In seinem Blick lag die Frage, ob er sie nach Hause begleiten dürfte. Vera verstand und schüttelte leise den Kopf.
„Langsam“, sagte Peter. „Gaaaanz laaangsam! Es ist noch Bier da!“
„Was übrigbleibt verstecken wir in einem Turnkasten“, schlug Sylvia vor. „Zum späteren Verzehr!“
„Zu was für einem Verkehr, bitte!“, fragte Peter, schloss die Augen und machte ein Kussmündchen.
„Zu einem, in dem dich der Bus rammt“, schlug Sylvia vor und schubste ihn zur Seite. Und irgendwann, eine weitere halbe Stunde später, standen sie auf. Sie verabredeten sich zum morgigen Vormittag, um aufzuräumen und die Turnhalle besenrein und stubenfein zu machen. Dazu seien sie grad nicht in der Lage, schätzten sie einhellig ihren Zustand ein. Und sie nickten weise, müde und sehr einverstanden mit sich mit den Köpfen.
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Bei einer Pressekonferenz übermittelte Helmut Kohl als Botschaft an alle Deutschen: "Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will."
Bereits Ende Januar hatte Gorbatschow eine radikale Kehrtwendung in der sowjetischen Deutschlandpolitik vollzogen. Gegenüber dem Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, hatte er am 30. Januar 1990 erklärt, die UdSSR ziehe die Vereinigung Deutschlands nicht in Zweifel. Die beiden deutschen Staaten sollten ihre Beziehungen zueinander zielstrebig ausbauen.
Auch die USA unterstützen Deutschland. In einem Brief unmittelbar vor Kohls Abreise nach Moskau schreibt der amerikanische Präsident George Bush Senior, die USA respektierten den Wunsch des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung. Die Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland könne von niemandem mehr bezweifelt werden. Er erwarte, dass auch das vereinte Deutschland Mitglied der Nato bleibe. Allerdings könne das Gebiet der DDR einen besonderen militärischen Status erhalten.
An den Verhandlungen zwischen Kohl und Gorbatschow waren auch die beiden Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und Eduard Schewardnadse beteiligt. Kohl erläuterte seinem sowjetischen Gastgeber, die Entwicklung in der DDR steuere seit der Maueröffnung unaufhaltsam auf die Wiedervereinigung zu. In der Frage der Bündniszugehörigkeit betonte Kohl, dass ein neutrales Deutschland für ihn unannehmbar sei. Die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion müssten natürlich berücksichtigt werden.
Gorbatschow befürwortet eine Blockfreiheit des wiedervereinigten Deutschlands. Er schlug vor, die Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands mit den übrigen Siegermächten und den beiden deutschen Staaten zu besprechen. Über die Einrichtung von solchen "Zwei-plus-Vier-Gespächen" hatte sich Gorbatschow bereits mit US-Aussenminister James Baker verständigt, der unmittelbar vorher am 9. und 10. Februar 1990 zu Besuch in Moskau war. Über das Ergebnis seiner Besprechung mit Gorbatschow war Kohl hochzufrieden: Moskau hatte das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung erstmals seit 1945 anerkannt. Das Gespräch war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung.
Ein sichtlich gutgelaunter Helmut Kohl stellte am Ende seines Pressestatements fest: "Dies ist ein guter Tag für Deutschland, und ein glücklicher Tag für mich persönlich."
Briefe aus Baku
Am Montag, dem 12. Februar traf der erste Brief aus Baku ein; seitdem steckte bis kurz vor das Ende der Winterferien jeden zweien Tag im Lothringischen Postkasten ein Kuvert mit Gadjis Handschrift. Er schrieb kein langen Texte. Er steckte jeweils ein Foto, das er mit einem kurzen Kommentar versah, in die Umschläge, und schrieb den immer gleichen Satz dazu: Ya tebya lyublyu, Vera.Auf dem ersten Foto standen zwei Jungs vor einer langen Brücke, die in ein Wasser führte; sie hielten vor den Bäuchen zwei Kalaschnikow-Gewehre und grinsten über alle Backen in die Kamera. Auf die Rückseite des Fotos hatte Gadji geschrieben: „Das ist Saur, mein bester Freund seit dem Kindergarten. Der andere bin ich (ha!). Wir stehen am Ufer des Kaspi-Meeres. Ya tebya lyublyu, Vera.
Ich dich auch, flüsterte Vera, auch wenn ich nicht verstehe, warum ihr euch augenscheinlich wunderbar amüsiert – mit zwei Gewehren vor den Bäuchen. Amüsiert ihr euch wegen oder trotz der Gewehre? Mich beunruhigt das, Gadji, Liebster. Sollte sie ihm das schreiben?
Sie entschied sich dagegen, weil die nächsten drei Foto-Briefe nichts Martialisches, sondern eher Matriarchalisches zeigten:
Gadji sitzt mit einer alten Frau im Kopftuch – sie sieht aus wie das Grossmütterchen, das am Anfang russischer Märchenfilme die Fensterläden öffnet und die Kinder begrüsst und zum Märchen einlädt; pralle Wangen, gutmütiges Gesicht, o, Vera hatte diese Filme als Kind geliebt – auf einer Bank vor einer Hütte. Auf der Rückseite des Fotos: „Das ist die Mutter meines Vaters. Oma Galja. Wir sitzen vor ihrem Haus in den Bergen bei Baku. Wenn du bessere Yantiki als von meiner Mutter essen willst, musst du sofort herkommen. Ya lyublyu tebya, Vera.“
Gadji hält eine ältere Frau, die eine Brille trägt und vor sich hin schmunzelt, in seinem rechten Arm und zeigt mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Brust der Dame: „Das ist Elisabeta Petrownaja. Sie war meine Deutschlehrerin. Sie kennt Hölderlin mindestens so gut wie Kotte. Und der andere Mensch, bin ich (ha!). Ya lyublyu tebya, Vera.“
Gadji steht an einem Lagerfeuer und hält an einem langen Zweig ein Stück Fleisch hinein. Im Widerschein des Feuers sind die Gesichter von vier Jungen aus der Nacht gestanzt. „Das sind meine besten Freunde. Saur kennst du schon. Und Ljonka, Wladim und Stjopa. Wir sind die Viererbande von Baku (ha!). Wir essen am liebsten gegrilltes Lammfleisch und gegrillte Paprika. Ya lyublyu tebya, Vera.“ Und Mädchen? dachte Vera zärtlich und ein bisschen eifersüchtig, Freundinnen habt ihr keine? Also die drei anderen, Gadji, die drei anderen, natürlich nur, meine ich?!
Jeden Mittag öffnete Vera den Briefkasten.
Jeden zweiten Mittag wurde sie fündig.
Sie konnte Nesgir anschauen, ein Schnappschuss, wie sie auf einem Karussell-Kamel reitet und Vera einen unbeschwerten Gruss zuwinkt.
Sie lernte eine Tante Dieundie und einen Onkel Derundder kennen – bis Vera Mühe hatte zu unterscheiden, wer nun die Frau mit der Battoulah vor dem Gesicht und wer die Frau in dem Mini-Kleid und mit den grell geschminkten Lippen war. Und welcher Onkel zu welchen Kindern gehörte: auf den Fotos, die Beisammensein und Geselligkeit auf Plätzen und in Innenhöfen zeigten. Dann wieder waren kahle, steinige Berge zu sehen, in denen Gadji, seine Familie oder seine Freunde mit einem Jeep unterwegs waren: Die Muuslimsades machten sorglose Ferien. Am Wichtigsten war YA LYUBLYU TEBYA, VERA.
Die Winterferien waren zu Ende, und Vera hatte seit sieben Tagen keinen Brief mehr erhalten. Die Fragen der Lehrer und ihrer Freundinnen und Freunde konnte sie nicht mehr hören. Wo bleibt er, der Gadji? Hat er sich abgesetzt, der Gadji? Warum meldet er sich nicht, der Gadji? Woher, verdammt noch mal, soll ich das wissen?
Einmal lud Gernot sie zu einem Kaffee ein. Sie hatten sich im Café gegenüber dem Tierpark verabredet. Sie solle das nicht missverstehen. Er wolle keinesfalls – na er habe nicht die Absicht – na er wolle ihre Lage nicht ausnutzen. Das wäre ja auch zu belämmert und zu schäbig, und sie würde das …
Ehrlich, er mache sich Sorgen um sie. Auch um Gadji. Aber dass der nicht wieder auftaucht, das könne tausend Gründe haben. Vielleicht musste sein Vater in einen anderen Einsatz, was es der Familie unmöglich machte, nach Berlin zurückzukehren. („Ich glaube, die haben mit ihrer Armee ein ziemliches Chaos zur Zeit“, sagte Gernot.)Vielleicht lagen irgendwelche sozusagen geopolitische Hindernisse im Weg. Was wissen wir schon, meinte Gernot, was in der Welt sonst so passiert? „Ist doch eine riesige Entfernung von hier bis nach Baku“, sagte er.
„Ich fühle mich wie auf einer Glasscheibe über dem Abgrund. Und die Scheibe ist mit Seife eingeschmiert.“
„Ich würde dich halten“, sagte Gernot vorsichtig. „Nur, dass du das weisst.“
„Danke“, sagte Vera.
Vera wartete. Sie betrachtete die Fotos, stundenlang. Sie las die vielen YA LYUBLYU TEBYA, VERA wieder und wieder.
Sie hielt es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg in das Wohngebiet der russischen Offiziersfamilien.
Nichts hatte sich verändert an dem verfallenden Gebiet, das im Gegensatz zu den sauberen, gepflegten Inneren der Wohnungen stand. Nur, dass vor einigen Hauseingängen Container standen, in denen Soldaten das Mobiliar ihrer vorgsetzten Offizieren verstauten. Die waren dabei umzuziehen.
Vera wusste, dass die Politiker entschieden hatten, die in der DDR stationierten Sowjettruppen abzuziehen. Für die heimkehrenden Offiziere und für ihre Familien würden in der Heimat Wohnungen gebaut werden; das war versprochen worden.
Vera betrat das Haus, in dem die Musslimsades wohnten. Ihr kam eine Frau entgegen, die das Mädchen kalt musterte, und sich vor sie stellte. Eine stumme Walze, an der niemand vorbeikam, ohne sein Leben zu riskieren. Vera hatte nicht den Mut, nach Gadji Muuslimsade zu fragen. Nach der Familie Muuslimsade. Sie drehte sich um und rannte davon. Einen Tag später klingelte sie Parterre. Ein Mädchen, acht, neun Jahre alt, öffnete. Vera fragte, ob sie wisse, wo Nesgir und ihr Bruder seien. Die Kleine antwortete nichts. Sie starrte die Deutsche nur an. War Veras Russisch so unverständlich?
Vera stieg die Treppen hinauf und klingelte an der Tür der Nachbarwohnung.„Izvinite, pozhaluysta“, stotterte sie. „U menya vopros. Gde sem'ya Muuslimsade?“
„Ne znayu“, antwortete die Frau, die ihre Hände an ihrer Küchenschürze abwischte und die Tür zuschlug.
Vera ging nach Hause. Vera ging in die Schule. Sie machte sich was zum Essen, sie legte sich schlafen, sie erwachte wieder. Sie stand auf und lief weiter.
Sie sprach mit ihrer Mutter, nein, ihre Mutter redete zu ihr, und sie antwortete. Aber worüber sie sprachen, vergass Vera sofort.
Sie sass im Unterricht zwischen den andern. Sie stand auf dem Schulhof zwischen den anderen. Sie hätte in einem Raumschiff unterwegs sein können – grösser konnte der Abstand zu den anderen nicht sein.
Und die anderen – liessen sie in Ruhe. Sie verständigten sich untereinander, wie sie mit der Freundin umgehen sollten. Sie kamen zu dem Schluss, dass es nichts nützte, Vera anzusprechen und zu versuchen sie aufzumuntern. Wie denn auch, wenn jemand an der Liebe litt? Welchen Trost gäbe es da?
Wenn doch endlich wieder ein Brief käme.
Anderthalb Wochen nach dem Schulbeginn, am 15. März 1990, entnahm Vera ein Kuvert aus dem Briefkasten. Ein Luftpostbrief, die Adresse in einer anderen Handschrift als die Gadjis darauf. Vera musste sich zusammenreissen, um den Umschlag nicht sofort aufzureissen. Sie setzte sich auf den Stuhl, der vor der Arbeitsplatte in der Küche stand – ein Foto fand sie diesmal nicht. Nach den ersten zwei Sätzen entglitt ihr das Blatt Papier, das zu Boden schwebte, und Vera erstarrte.
Liebe Vera, ich erlaube mir, Dir zu schreiben. Ich habe eine traurige Nachricht für Dich: Gadji ist tot.
Victoria Lothringen kam an diesem Tag überraschend früh nach Hause. Sie hatte einen Termin beim Friseur und wollte einen Umweg über die Wohnung machen, um sich frisch zu machen. Sie schloss auf und rief: „Vera, Verotschka! Nicht erschrecken: Ich bin's, deine Mutter!“ Keine Antwort. Vera würde noch in der Schule oder mit ihren Freunden unterwegs sein. Die Mutter wollte an der Küche vorbei ins Badezimmer gehen, kam an der offenen Küchentür vorbei und sah ihre Tochter steif und starr sitzen. „Vera?“, fragte sie. „Ich bin's.“
Keine Antwort. Victoria trat ein, machte ein paar Schritte und berührte ihre Tochere sanft an der Schulter. Vera rührte sich nicht. Sie war eine Statue, eine leblose, doch atmende Figur.
Victoria entdeckte den Briefbogen auf dem Boden, hob ihn auf und las den Text:
… Mein Herz ist schwer von Tränen. Gadji wird nie widerkommen. Er ist mit seinem Freund Saur in die Berge gefahren. Sie haben niemandem gesagt, was sie vorhaben. Aber jeder wusste, dass sie die Mörder der Tante Techmine gefunden hatten. Aber sie haben das nicht überlebt. Niemand weiss, wer sie erschossen hat. Es ist so furchtbar, dass ich Tag und Nacht weine. Um Gadji, um Saur, um Dich, Vera. Auch wenn ich nie das Glück hatte, Dich kennenzulernen. Gadji war so verliebt in Dich, ich habe gespürt, dass sein Herz für Dich schlug. Deshalb schreibe ich Dir. Wenn ich an Gadj und an Dich denke, hören die Tränen nicht auf zu fliessen. Ich bin froh, dass Du in Deutschland lebst, wo es friedlich ist. Wo nicht Brüder auf Brüder schiessen. Bitte, vergiss Gadji nicht. Ich werde ihn auch nie vergessen. Aber denke auch daran, Vera, das Leben ist eine lange Sache. Du musst überleben, Mädchen. Ich grüsse Dich mit wehem Herzen, ich umarme Dich, Elisabeta Petrownaja.
Epilog
Am 18. März 1990 wurde in der DDR die neue Volkskammer gewählt. Der mit grosser Leidenschaft und unter intensiver Beteiligung der westdeutschen Parteien geführte Wahlkampf war für die Menschen in der DDR eine ganz neue Erfahrung und eine organisatorische Herausforderung für die vielfach erst kurz zuvor gegründeten ostdeutschen Parteien.Neues Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte schlossen sich zum Bündnis 90 zusammen, das eine stufenweise Annäherung der beiden deutschen Staaten befürwortete. Die Allianz für Deutschland aus CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch plädierte für einen raschen Beitritt, ebenso der Bund Freier Demokraten. Demgegenüber wollte die SPD die Vereinigung in drei Stufen erreichen, an deren Ende eine neue Verfassung stehen sollte. Die SED nahm als PDS an der Wahl teil. Die ehemalige Staatspartei hatte inzwischen die Hälfte ihrer Mitglieder eingebüsst, die alte Führung wurde aus der Partei ausgeschlossen. Der Ausgang der Wahlen erschien ungewiss. In Bonn wurde mit einem schwachen Ergebnis für die der CDU nahestehenden Kräfte gerechnet, während die SPD auf ein sehr gutes Wahlergebnis hoffte.
Doch das Votum der Wählerinnen und Wähler fiel anders als erwartet aus: Die Allianz für Deutschland erreichte 48,1 Prozent der Stimmen. Sie hatte den strategischen Vorteil der politischen Nähe zu den Regierungsparteien im Westen für sich genutzt, denn vielen galt Bundeskanzler Helmut Kohl als Garant für Wohlstand auch im Osten Deutschlands. Nur 21,8 Prozent stimmten für die SPD, 5,2 Prozent für die Liberalen. Das Bündnis 90 - der Zusammenschluss verschiedener Gruppen der Bürgerbewegung - erhielt nur 2,9 Prozent, die PDS behauptete sich mit 16,4 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 93,1 Prozent. Das Wahlergebnis war ein klares Votum für eine rasche Vereinigung, eine Mehrheit für die Regierungsbildung brachte es aber nicht. Als stärkste Fraktion hatte die Demokratische Allianz das Recht, einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vorzuschlagen. (aus: Bundesarchiv)
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1996 promovierte Vera Lothringen als Veterinärmedizinerin. Drei Jahre später heiratete sie einen einstigen Kommilitonen, mit dem sie drei Kinder bekam. Die Ehe hält bis heute. Dr. Vera Lothringen-Walluf praktiziert in einem niedersächsischen Dorf nahe der Weser.
Veras Mutter Victoria gab Ende März 1990 ihren Posten als Chefredakteurin DER GANZEN ab und ging in ihren Beruf als Hebamme zurück. Der Rücktritt der gesamten Redaktion war das Ergebnis eines fundamentalen Streits zwischen der Zeitschrift und den Herausgebern von Bündnis 90/Grüne. Victoria zog sich weitgehend aus dem politischen Geschehen zurück, auch wenn sie noch ein paar Jahre lang als Bürgerrechtlerin etikettiert eine angesagte Person für Interviews und in Filmen als Zeitzeugin war. Den Sommer des Jahres 1990 verbrachte sie in Südfrankreich bei ihrem einstigen Freund Albert Mühsam; sie brauchte die Zeit und den Abstand zu einem „zusammenwuchernden Deutschland“ (O-Ton Victoria). Victoria heiratete 1998 einen Gynäkologen der Berliner Charité, und ihre Lieblingsrolle ist die der Grossmutter von Veras Kindern.
Albert Mühsam kehrte, soweit bekannt, nie wieder nach Deutschland zurück. Er heiratete in eine Winzerfamilie ein und wurde Vater von vier Kindern. Es ist anzunehmen, dass er weiterhin ein neugieriger und starker Leser von Literatur war und ist; soweit es die Zeit erlaubt, die einem Menschen mit Arbeit und grosser Familie bleibt. Über eigene literarische Ambitionen ist nichts bekannt.
Sylvia Hohberg ging nach dem Abitur für zwei Jahre auf Reisen um die Welt, um anschliessend an der Fachhochschule für Werbung und Gestaltung in Berlin-Schöneweide zu studieren. Nach dem Studium gründete sie ein eigenes Büro und eine Galerie, in der sie die Bilder (noch) unbekannter Maler und Malerinnen aus dem Berliner Raum ausstellte. Sie lernte einen Schweizer Galeristen kennen, der sich in sie (wie sie sich ihn) verliebte. Heute lebt sie als seine Gattin in Yverdon-les-Bains am Neuenburgersee, ist Mutter zweier Kinder und ehrenamtlich für den Naturschutz tätig.
Maria Breitling verliess im Frühling 1990 noch vor den Abiturprüfungen, die Schule und verschwand in der Welt. Ob sie noch lebt, weiss niemand aus dem Kreis der einstigen Freunde zu sagen. Die (vorläufig?) letzte Nachricht, die Vera Lothringen-Wallauf erhielt, stammt aus dem Jahre 20012. Eine Ansichtskarte aus einem chilenischen Ort unweit der Atacama-Wüste. Ihr gehe es gut, teilte Maria mit, sie lebe zwischen dem Ozean und der Wüste und sorge sich um den Erhalt der Schöpfung. „Und das als gelernte Atheistin“, hatte sie unter P. S. gesetzt: „Wenn das Lautengässer wüsste!!!“
Mark Viehweger veröffentlichte 1991 eine Sammlung mit Gedichten in einem Kleinverlag, es folgten in den Jahren 1994, 1998, 2002, 2006, 2012 und 2018 weitere Lyrik-Bände. Sie brachten ihm einige Preise ein, wurden aber nur selten besprochen und wenig gekauft. Mark hält bis heute den Kontakt zu Vera und hält sich gelegentlich für zwei, drei Wochen in dem grosszügig ausgebauten Bauernhof der Tierärztin und ihrer Familie auf. Dort, sagt er, könne er einerseits entspannen, andererseits erhalte er Inspirationen, die ihm das Leben in der Stadt verweigerten. Seine Spezialität sind „animalisch-floristische Gedichte mit ironischer, verschlüsselter Sicht auf die jüngere Geschichte Deutschlands“ (so in einer Rezension), die zu verstehen einem ungeübten Leser schwer falle. Viehweger hält bis heute auch Kontakt mit Peter Sandberg. Ihn hatte es nach dem Abitur für drei Jahre in das gastronomische Gewerbe verschlagen – in Ostberlin schossen Kneipen, Lokal, Klubs wie Pilze aus dem Boden –, bis er ein Schauspielstudium am Ernst-Busch-Institut in Berlin-Schöneweide anfing. Er und Sylvia sind sich in den zwei Jahren, die er es bei der Ausbildung aushielt, öfters über den Weg gelaufen. Eine Zeitlang waren sie in einer Beziehung. Sandberg brach das Studium ab, als er eine komödiantische Rolle in einer Fernseh-Serie angeboten bekam. Als er den Job loswurde – die Serie wurde nach acht Jahren eingestellt –, tingelte er durch verschiedene Rollen im Fernsehen und in Stadttheatern. Als sein Vater schwer erkrankte – die Mutter war bereits zwei Jahre zuvor verstorben –, war Peter 45 Jahre alt und übernahm ab 2016 die 24-Stunden-am-Tag-Pflege im Haus des Vaters. Der starb zwei Jahre später, Sandberg erbte das Haus, verkaufte es und kaufte sich in ein IT-Unternehmen ein.
Gernot Klinkermann ging nach dem Abitur nach England, arbeitete ein Jahr lang in einer Aussenhandelsfirma, bevor er ein Studium der Betriebswirtschaftslehre (Business Studies) an der University of Cambridge absolvierte. Nach erfolgreichem Abschluss konnte Klinkermann zwischen verschiedenen Job-Angeboten wählen. Er entschied sich für eine Anstellung beim Rat der Europäischen Union, die ihren Sitz als eine der wichtigsten EU-Institutionen seit dem Jahre 1993 (Maastrichter Vertrag) in Brüssel hat. Nach acht Jahren ging er zur Deutschen Bank, von der er 2012 in die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt am Main wechselte. Dort arbeitet er heute noch, ist verheiratet, Vater von vier Kindern und wohnt mit seiner Familie in Bad Homburg. Ob er in Kontakt steht mit Vera, Peter, Mark, Sylvia oder Maria, ist nicht bekannt.
Werner Kotte und Christa Schaffner heirateten ein halbes Jahr nach der Scheidung von ihrem ersten Mann (1993) und feierten 2018 ihre Silberne Hochzeit, zu der sie Vera Lothringen-Walluf und ihren Mann eingeladen hatten; die beiden kamen auch zur Feier und brachten Viehweger und Hoberg mit (Sandberg war verhindert, Maria nicht auffindbar). Kotte und Schaffner blieben, was sie waren: Lehrerin und Lehrer, angesehen und geachtet, bis sie beide im selben Jahr, 2020, in die Pension gingen und ihr Ferien-Hobby zum Lebensmittelpunkt machten: mit dem Reisemobil von Herbst bis zum Winterende durch die Welt – vornehmlich die wärmeren Länder – zufahren. Frühling und Sommer verbrachten sie in ihrer Drei-Raum-Eigentumswohnung in Berlin-Spindlersfeld mit Blick auf den Zusammenfluss von Spree und Havel zu geniessen.
Lehrer an der Alexander-von-Humboldt-Oberschule (jetzt: Gymnasium) blieb bis zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand im Jahre 2012 auch Horst Kowalski.
Dr. Erwin Lautengässer liess sich am Ende des Schuljahres 1989/1990 aus dem Schuldienst befreien, um eine hauptberufliche Tätigkeit als Berater und Historiker für die Partei SED-PDS, nachfolgend Die Linke, auszuüben. Er starb 2018 nach kurzer schwerer Krankheit und wurde nach seinem Tode in parteinahen Blättern als ein standfester, dialektisch denkender Bürger und Genosse gewürdigt.
Über das Schicksal der Familie Muuslimsade ist nichts bekannt.
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„Seit Jahrzehnten liegen die Länder im Streit, nun ist es an der Grenze von Armenien und Aserbaidschan erneut zu Gewalt gekommen. Die Attacken gelten nicht der umkämpften Enklave Bergkarabach.
Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan hat es am Dienstag erneut einen schweren Gewaltausbruch an der Grenze der beiden Länder gegeben. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig. Das armenische Verteidigungsministerium erklärte, Aserbaidschan habe armenische Stellungen nahe der Städte Goris, Sotk und Dschermuk mit Artillerie und grosskalibrigen Waffen angegriffen.
Aserbaidschan warf Armenien hingegen ‚grossangelegte subversive Handlungen' in Grenznähe und Beschuss seiner Militärstellungen vor. Dabei sind laut Verteidigungsministerium des Landes auch aserbaidschanische Soldaten gestorben.
Die früheren Sowjetrepubliken bekriegen einander seit Jahrzehnten wegen des Gebiets Bergkarabach. Allerdings trafen die Attacken dieses Mal nicht Stellungen in dem umkämpften Gebiet. Die Stellungen bei den Städten Goris, Sotk und Dschermuk liegen auf dem Gebiet Armeniens in der Nähe der Grenze zu Aserbaidschan.
Nach einem ersten Krieg in den Neunzigerjahren hatten sich Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 erneut einen Krieg um die umstrittene Region Bergkarabach geliefert. Völkerrechtlich gehört das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet zu Aserbaidschan, von dem es sich aber 1991 losgesagt hatte. Aserbaidschan hatte in dem Krieg, in dem mindestens 6500 Menschen starben, Territorium zurückgewonnen, das es in einem früheren Konflikt verloren hatte. Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt. Bei den sechswöchigen Gefechten wurden 6500 Menschen getötet, bis die Kämpfe durch ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen beendet wurden. Dabei musste Armenien grosse Gebiete aufgeben.
Im April 2022 hatten beide Länder erklärt, bei Friedensgesprächen nach dem Krieg in Bergkarabach einen Friedensvertrag unter Vermittlung der EU aushandeln zu wollen. Armenischen Angaben zufolge sollte auch eine Kommission eingerichtet werden, die sich mit Fragen der Sicherheit und Stabilität entlang der Grenze beschäftigen soll. Der Waffenstillstand wird von russischen Truppen überwacht. Anfang August dieses Jahres war die Gewalt neu aufgeflammt. Für Russland wird die Überwachung der Krisenregion zunehmend zur Belastung, denn Zehntausende russische Soldaten sind bereits im Krieg in der Ukraine im Einsatz.“ (SPIEGEL Ausland, 13.09.2022, 10.47 Uhr)
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