Von den 539 Titeln sind 345 für Oberschulen und erweiterte Oberschulen, 187 für Sonderschulen sowie 7 für allgemeinbildende Fächer der Berufsschulen bestimmt. 31 Schulbuchtitel sind Neuerscheinungen, darunter Biologie-, Geographie-, Geschichts- und Russischlehrbücher für die 6. Klasse.
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, 16. August 1989
Samstag, 2. September 1989
Bevor die Strassenbahn anhielt und sie aussteigen musste, erblickte Vera Lothringen die beiden Braunbären. Der eine hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und schien die Zuschauer schelmisch zu grüssen. Der andere stand vor dem Wassergraben, schüttelte immerzu den Kopf, als fragte er sich, wer ihn gefangen, aus dem Wald geschleppt und in das Gehege gesperrt hatte.Als Vera ausstieg sah sie sich für einen Augenblick als siebenjähriges Kind vor dem Eingang zum Tierpark stehen. Getrennt von den Bären – waren es noch dieselben wie damals? – durch eine niedrige Steinmauer und den Wassergraben, in den sich mitunter einer der Bären fallen liess und eigens für das Publikum herumalberte. Das taten sie mit Anmut und Würde und als wollten sie sich abgrenzen von den Grimassen und dem aufgeregten Winkewinke, mit denen die Menschen sich vor Käfigen oder Gehegen gerne zum Affen machten.
Das kleine Mädchen hatte sich nicht die Frage gestellt, die sie sich jetzt als sechzehnjährige Blondine stellte: Was dachten die eingesperrten Bären über die gaffenden Menschen? Wahrscheinlich dachten sie nichts; weil Tiere nicht denken können? Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Vera hatte eine Verabredung.
Sie wartete an der Ampel, bis das grüne Auge aufleuchtete. Als sie die Strasse überquerte und auf die elfstöckigen Neubauten zuging, sah sie ihn. Gernot. Den hoch aufgeschossenen, schlanken Gernot mit dem Lockenkopf. Ihren Gernot. Der sie noch nicht bemerkte, weil er eben einem Touristenpärchen – sie hielten einen aufgeschlagenen Stadtplan in den Händen – einen Weg erklärte. Doch dann schaute er auf, liess die beiden Fremden stehen und rannte auf sie zu. Auf Vera. Seine Vera. Die Touristen, leicht befremdet, lächelten, als sie erkannten, warum sie mit halber Information stehen gelassen wurden.
Dann standen sie voreinander. Vera sah, dass Gernot unverschämt braun geworden war. Sie hatten sich sechs Wochen lang nicht gesehen, fast die gesamte Ferienzeit über. Gernot war mit seinen Eltern ans Schwarze Meer gefahren, nach Jalta, während Vera mit ihrer Mutter, wie jeden Sommer, auf der Halbinsel Darss an der Ostsee war. Diesen Sommer das erste Mal ohne den Vater.
„Hei“, sagte Gernot. „Lange nicht gesehen.“ Wo er Recht hat, hat er Recht, dachte das Mädchen.
„Hei“, sagte Vera. „Du bist mächtig braun geworden.“ Wo sie Recht hat, hat sie Recht, dachte der Junge.
„Du aber auch. Steht dir gut.“
„Ich glaube, die Mädchen werden noch verrückter nach dir sein.“
„Ach, die Mädchen!“ Er seufzte theatralisch. „Was interessieren mich die anderen Mädchen!“
Wie sie da so standen. Scheu, befangen, verlegen. Sie fielen sich nicht um den Hals, obwohl sie sich nacheinander gesehnt hatten. Sie gaben sich nicht mal die Hände.
„Wohin wollen wir?“, fragte Gernot.
„Café?“, schlug Vera vor.
„Oder Tierpark?“
„Ist mir zu voll.“
Also ins „Café Am Tierpark“. Dort ist es am Samstagnachmittag auch voll. Aber sie konnten draussen sitzen und trotzdem für sich sein. So etwas gibt es. Dass zwei eine Insel sind inmitten eines plätschernden Ozeans. Erst als sie am Tisch sassen, schoben sich ihre Hände ineinander. Plötzlich beugten sie sich über den Tisch, ruckartig fast, und küssten sich. Beinahe hätten sie die Eisbecher, die grade die Serviererin vor sie stellen wollte, vom Tablett gefegt.
Alte Vertrautheit zwischen Vera und Gernot? Als wären sie seit zwanzig Jahren verheiratet! Immerhin waren sie seit über einem halben Jahr ein Paar, und sie hatten schon ein paar Mal miteinander geschlafen. Und jeder, der sie kannte oder nur ansah, fand, dass sie ein ideales Paar abgaben. So etwas gibt es. Da kommen zwei daher, eingehüllt in ein Licht, umgeben von einem unsichtbaren elektrischen Zaun. Vorsicht!, funken sie. Fasst uns nicht an!, blitzen sie. Unsere Freundschaft, unsere Zuneigung, unsere Liebe ist eine Kostbarkeit, der niemand zu nahe kommen darf. Jede Einmischung wird mit einem elektrischen Schlag bestraft.
Langsam kam ihre Unterhaltung in Schwung, als wären ihnen die Wörter während der Zeit der Trennung verloren gegangen. Und sie müssten ihnen erst nachlaufen und sie mit einem Kescher einfangen.
Aber es gab noch etwas anderes, das hinderte am Drauflosplaudern. Während Gernot vom Strandleben erzählte, von Melonen, die süss und riesig waren, von den Grillpartys, die es jeden Abend im Palmengarten des Hotels gab, schweiften Veras Gedanken immer und immer wieder zu dem Telefongespräch, dass sie erst gestern mit einem Klassenkameraden geführt hatte.
Was heisst Klassenkamerad! Wolfgang Kahnert gehörte zur Clique, seitdem sie vor zwei Jahren gemeinsam auf die Erweiterte Oberschule gekommen waren. Zwischen Vera und ein paar anderen hatte es sofort einen Draht gegeben. Wie selbstverständlich hatten sich sieben Schülerinnen und Schüler gefunden, die eine Gemeinschaft für sich waren. …
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Gernot und schaute Vera zärtlich an.
„Doch. Du hast mir gerade vorgeschwärmt, wie unglaublich hübsch die jungen Russinnen sind.“
Gernot zog den Löffel über die Zunge und sah verlegen aus. Spielte er gut, fand Vera.
„Von denen“, Gernot stach den Löffel als pädagogischen Zeigefinger in die Luft, „von all den Marusjas und Nataschas, die mich umschwirrten, habe ich noch nicht ein Wort erzählt!“
„Ach. Entschuldige. Ich musste gerade an Kahni denken.“
„Du sitzt mit mir zusammen. Wir haben uns seit Wochen nicht gesehen. Ich wäre fast gestorben vor Sehnsucht. Und du denkst an Wolfgang?“
„Er hat mich gestern Abend angerufen.“ Sie machte eine Pause. „Aus Hamburg.“
„Aus Hamburg?“
„Er hat gesagt, er kommt nicht mehr nach Hause.“
„Kahni ist abgehauen?“ Beinahe musste Vera lachen, zu blöd-verwundert schaute der Freund. Aber vielleicht hatte sie gestern Abend am Telefon genau das gleiche Gesicht gehabt.
„Und dass er nicht der einzige ist. Auch Karla ist im Westen.“
„Die Endlicher? Und Kahnert? Spinnen die?“
„Es ist eine Menge passiert im Sommer. Vielleicht hast du das in Jalta nicht so mitgekriegt.“
„Entschuldige mal! Jalta liegt nicht auf dem Mond!“
„Trotzdem“, bestand Vera auf ihrer Sicht. Sie wusste, dass Gernots Vater ein hohes Amt in der Regierung innehatte und dass die Familie Klinkermann ihre Ferien nicht in irgendeinem Hotel, sondern in einem Gästehaus der sowjetischen Regierung verbrachte. Vera war sich nicht sicher, ob man sich die Urlaubsstimmung am Schwarzen Meer verderben liess durch beunruhigende Meldungen über DDR-Bürger, die zu Hunderten in den Westen strömten. Und ob es in Jalta Westfernsehen gab? In einem Haus der Regierung – vielleicht.
„Ich bin nicht aus Dummsdorf!“, sagte Genrot verärgert. „Dass was im Busch ist, war schon vor den Ferien zu spüren. Aber dass … Kahni, ich glaub's nicht! Wenn einer zur Stange gehalten hat, dann doch er! Er wäre doch am liebsten morgen schon General geworden! Mann, ist der irre geworden? Ich – bin enttäuscht!“
Niemand kann in die Köpfe der Menschen hineinsehen. Nicht mal in die Köpfe von Freunden und Freundinnen. Manches behält man besser für sich. Es spricht sich früh genug herum, es zieht früh genug seine Kreise. Was einer tut, hat Folgen, die er nicht unbedingt voraussehen kann.
Auch Vera war - enttäuscht. Wolfgang sagte am Telefon, dass er ihr noch einen langen Brief schreiben werde. Er würde sich nicht rechtfertigen, glaube aber, dass die Freunde ein Recht darauf hätten, von ihm informiert zu werden und es nicht erst von irgendwem und irgendwann zu erfahren. Da würden sowieso nur entstellten Informationen verbreitet werden. Die Wahrheit, die Wahrheit … Er stockte beim Reden.
Als Vera den Hörer auflegte, raste ihr Herz. Sie war verstört. Sie verstand nicht. Und sie war enttäuscht, obwohl sie nicht genau wusste, warum. Hatte Kahnert sie und die anderen verraten? Ach, Verrat ist ein grosses Wort! Ein Hammerwort! Vielleicht war die Enttäuschung eine Enttäuschung darüber, dass Vera und die andern nichts von Kahnerts Absicht gemerkt hatten? Denkbar war auch, dass er spontan gehandelt hatte. Vielleicht eine Ferienliebe, vielleicht war alles ein Irrtum, den er einsehen würde. Und dann würde er zurückkehren, heimkehren, in die Clique zurück. Das alles ging Vera nach dem Telefonat durch den Kopf. Das alles kam am Café-Tisch wieder hoch. Und wie ist er nach Hamburg gekommen, und Karla nach Nürnberg?
„Lass sie doch!“, sagte Gernot schliesslich.
„Was meinst du mit ‚Lass sie doch'?“
„Es ist ihre Entscheidung. Du kannst nichts daran ändern. Ich kann nichts daran ändern. Jeder ist seine Glückes Schmied.“
Vera nickte und fühlte, dass es nicht richtig war. Das Nicken nicht. Und es war auch nicht, das Heimatland zu verlassen. Und erst recht nicht richtig war, was Gernot sagte. Aber Gernot war schon immer bestimmt, selbstbewusst und stark. Das schätzten alle an ihm. Manchmal waren seine Urteile zu schnell, zu hart, zu eindeutig. Immerhin waren Kahni und Karla nicht irgendwelche Fremde für ihn. Konnte auch sein, dass Gernot tiefer verletzt war, als er zugeben wollte. Lieber tat er schnoddrig, lässiges Abwinken, Augen zu und durch. So war er eben, und backen kann man sich einen Jungen nicht, schon gar nicht, wenn der wie ein Felsen ist.
Später, sie waren noch ins Kino gegangen, hatten sich „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und Tom Cruise angeschaut und mit einem langen, langen Kuss verabschiedet, lag Vera im Bett und konnte nicht einschlafen. Das neue Schuljahr stand bevor, übermorgen würde es anfangen. Es würde anders werden als die Jahre davor – spürte sie. Es lag ein Dunst über den letzten Wochen. Etwas Nebliges. Ein Schleier. Und es roch eigenartigerweise. Wie es manchmal am Strandufer roch, wenn Tang, Muscheln, bleiche Holzstücken in der Sonne trockneten und – stanken.
Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, warum es diesen Schleier gab. (Oder diesen Geruch, den sie sich einbildete?) Etwas lag über den letzten Wochen. Etwas, das durch den Anruf ihres Kameraden Wolfgang Kahnert ein Gesicht hatte. Etwas das sie sogar am Strand der Ostsee gefühlt hatte, als sie eine Ansichtskarte aus Nürnberg in der Hand hielt. Karla hatte zwei Sätze geschrieben, die nichts aussagten, Sommer, Sonne, gutes Bier; aber allein, dass sie in Nürnberg geschrieben worden waren …
Wenn die anderen am Strand zusammenkamen und sich um ein Feuer lagerten, in das sie Kartoffeln und Würste hielten. Wenn sie in den Sonnenuntergang schauten, Bier und Wein aus Flaschen tranken und davon sprachen, dass es im Lande gärte. Etwas hatte den Schleier gebildet, etwas anderes wollte ihn zerreissen.
Die an den Abenden sich trafen, die kannten sich seit langem. Es war eine Strandgesellschaft, die sich jedes Jahr im Sommer einfand, Volleyball spielte, Burgen aus Sand baute, die das Wasser des Meeres über Nacht rhythmisch wegleckte; die Suppe kochte, in den Wald hinterm Strand ging, um von den Bäumen gefallene Zweige und Äste zu sammeln; die Witze erzählte in unterschiedlichen Dialekten des Landes, und sich neckte und sich gut leiden konnte. Und die eine Familie kam aus Karl-Marx-Stadt, andere kamen aus Brandenburg und Görlitz und von sonst woher aus der Republik. Sie waren Ingenieure, Ärzte, Juristen und Metallfacharbeiter, Kinder, fast Erwachsene, ein Professor war unter ihnen, der den ganzen Sommer am Strand zu verbringen pflegte – selbst starken Wind und heftigen Regen trotzte er in seiner aus Ästen, Planen und Gräsern gebauten Hütte – und Feste für die Kinder ausrichtete. Kinder, die mit den Jahren herangewachsen waren. Wie Vera, die sich an Strandburgen erinnerte, an selbst gezimmerte Flösse, dann die ersten Male, die sie direkt vom Strand zur Disko nach Born oder Ahrenshoop gelaufen war.
All das ging Vera durch den Kopf, bis sie in den Schlaf fiel.
Montag, 4. September 1989
Am ersten Schultag nach den Sommerferien des Jahres 1989 trat der Deutschlehrer Werner Kotte vor seine Schüler, die er seit zwei Jahren mit mässigem Erfolg durch die Täler und über die Höhen der Orthographie, der Grammatik und der heimatlichen Poesien führte. Kotte, Ende Dreissig, blondes, kurz geschorenes Haar, würde das plötzliche Auftauchen eines Wales neben dem Müllhäuschen auf dem Schulhof ebenso wenig überraschen wie eine plötzliche Hospitation des Geheimen Rates Johann Wolfgang von Goethe. Kotte hatte zwei Ehen überlebt, war ein Freak Hölderlinscher Dichtkunst und hatte sich selbst in seiner Jugend als Poet versucht. Die Einsicht, dass bei fehlender Begabung auch ein enormer Fleiss nicht unbedingt die Türen zum Olymp der Literatur-Götter öffnet, schmerzte den Deutschlehrer gelegentlich; der Schmerz war im Laufe der Jahre abgeklungen und einer milden Selbstkasteiung gewichen. Gegebenenfalls, gewissermassen anfallartig, gab er sich die Aura des Mannes, der gedankenschwer durchs Leben geht, Geheimnisse hat und ein unausgefülltes Leben führt. Im Grunde war er mit sich einverstanden.Als er an diesem Septembertag das summende Klassenzimmer betrat, hatte er einen Jungen an der Seite.
Kotte sah sich um. Wartete, bis Stille herrschte. Sagte dann kurz und bündig: „Bitte!“ Er strecke den Arm aus, schwenkte die geöffnete Hand von dem Jungen in den Klassenraum hinein, um den Rest sollten die sich kümmern, die braun gebrannt aus den Ferien zurückgekommen waren und seiner festen Überzeugung nach auf ihren Luftmatratzen, in ihren Strandburgen, in den Dorfdiskotheken keinen deutschen Vers gelesen und die Bücher in den Kiosken der Meeres- oder Bergstädte für bunte Schachteln gehalten hatten.
Der Junge hatte verstanden, dass er sich vorstellen sollte. Er blickte in die Gesichter der Mädchen und Jungen, die so taten, als interessierte sie der Neue vorübergehend und nur mässig.
Der Fremde lächelte knapp und fuhr sich mit der Rechten durch das dichte, schwarze Haar. Mit einem Seitenblick registrierte er, dass der Lehrer in einem Buch blätterte und auch kein sonderliches Interesse zeigte. Weder an ihm, noch an der Klasse und am Verlauf des Unterrichtes auch nicht. Möglicherweise würde seine Aufmerksamkeit nicht mal durch die Kreuzigung Jesu oder durch das Auftauchen des Riesenaffen King Kong geweckt werden. Der Junge holte tief Luft und sagte: „Mein Name ist Gadji Muuslimsade. Ich bin Aserbaidshaner. Mein Vater ist Offizier der Roten Armee. Wir sind seit vier Wochen in der DDR.“
Die Klasse schwieg. Draussen, vor den Fenstern, im dichten Laub einer Linde schmetterte ein Vogel sein Lied, eine Folge von Tönen, die irre fröhlich klang; zu laut, zu übermütig, zu überdreht klang dieser Free Jazz, den nur Artgenossen verstanden, falls überhaupt.
Der Lehrer hatte gefunden, wonach er suchte, schaute hoch und deklamierte: „Mündig und hell vor euch steht der besonnene Mensch.“ Die Stille im Raum wurde durch ein kurzes Auflachen unterbrochen. Kotte runzelte die Stirn und fragte, zielsicher, er brauchte nicht zu schauen, wer da lachte: „Was lachen Sie, Gernot?“
Aus der letzten Reihe schraubte sich ein Bursche in die Scheitelhöhe von fast 190 Zentimetern. Halb stand er, halb liess er sich über den Tisch fallen. Er grinste triumphal, weil er sich der Sympathie der Klasse ebenso sicher war wie der Sympathie des Lehrers. Gernot war derjenige junge Mann, der selbst dann noch sympathisch wirkte, würde er Fliegen die Beine ausreissen oder auf dem Geländer einer Tankstelle ein Lagerfeuer entfachen. „Es muss heissen: der sonnengebräunte Mensch, Herr Kotte!“
„Sonnengebräunt“, nahm der Lehrer den Ball auf, „ist ein Wort wie eine schlecht gepflasterte Strasse. Wie ein Schlagloch im Asphalt. Gewöhnliche Menschen gebrauchen es, wenn sie aus den Ferien heimkehren und sich die Hunderte von Fotos anschauen, die sie im Urlaub gemacht haben. Sie langweilen sich, aber sie zwingen ihre Familie und ihre Gäste dazu, sie anzuschauen. Ein Dichter wie Hölderlin, Gernot Klinkermann, wäre über einem Wort wie ‚sonnengebräunt' in Ohnmacht gefallen und dem Wahnsinn noch früher als ohnehin verfallen. Stimmen Sie mir zu?“
„Normalerweise stimmte ich Ihnen zu“, entgegnete Gernot korrekt. „Heute indessen nicht.“
„Welch hoher Ton, den Sie anschlagen!“, sagte Kotte. „Warum heute nicht?“
„Gewöhnliche Menschen ziehen es vor, gar nicht erst aus den Ferien heimzukehren, Herr Kotte. Sie lassen ihre Autos an den Grenzen stehen und steigen in die Mercedesbusse, die sie in irgendein Kaff nach Bayern bringen.“
Ein Raunen in der Runde, dann angespannte Stille. Die Welt da draussen vor den Fenstern der Schule mochte aus den Fugen geraten sein, das war ihnen trotz der Ferienabneigung gegen das Getriebe der Welt nicht entgangen. Hatte sich deshalb etwas verändert zwischen Kotte und seinen Schülern, hatte sich irgendetwas an der Schule überhaupt verändert? Und der Junge mit dem unaussprechlichen Namen hätte in diesem Augenblick ebenso in jenem fernen Ort stehen oder schlafen oder Eis essen können, aus dem er kam. Gewiss trug dieser Ort auch einen Namen, den auszusprechen eine deutsche Zunge (nun ja, deutsche Zunge war auch nicht gerade ein Hölderlin-Wort, dachte Kotte), brechen würde.
„Ich verstehe“, sagte Kotte. „Sie sind kein gewöhnlicher Mensch. Sie waren gewiss auch in Ungarn ...“
„Jalta!“, sagte Gernot.
„Jalta“, sagte der Lehrer; wo liegt Jalta noch mal? am Schwarzen Meer, fiel ihm ein. Gab eine Konferenz da, kurz vor dem Ende oder kurz nach dem Ende des später so genannten Zweiten Weltkrieges? Eine Gegend, die ihn nicht interessierte. Hölderlin hatte seines Wissens nie auf einem Strand am Schwarzen Meer gelegen und sich in der Sonne brutzeln lassen.
„Egal“, fuhr er fort. „Sie haben sich die Sonne auf Bauch und Bregen scheinen lassen und es vorgezogen, doch wieder in das sozialistische Bildungs- und Erziehungssystem heimzukehren. Jedenfalls schliesse ich das aus Ihrer Anwesenheit.“
„Ich sollte für dieses Zeichen der innigen Verbundenheit meine erste Eins in diesem Schuljahr bekommen. Für Mitarbeit.“ Gernot grinste süffisant und schaute in die Runde der anderen süffisant grinsenden Gesichter. Auftritt Gernot Klinkermann, seiner Frechheiten und des Applauses sicher.
„Sie sollten sich“, sagte der Deutschlehrer, „hinsetzen und ein wenig nachdenken über die folgenden Zeile: ' … zu wild, zu bang ists ringsum, und es trümmert und wankt ja, wohin ich blicke …“
Gernot hatte sich hingesetzt, lehnte sich in den Stuhl zurück und klatschte ein-, zweimal in die Hände, um dann, gemeinsam mit den anderen Mädchen und Jungen der 12. Klasse der Erweiterten Oberschule „Alexander von Humboldt“ in einen rhythmischen Beifall zu fallen. Als wäre soeben Madonna aufgetreten und hätte „Like A Prayer“ gesungen.
Trümmerte und wankte es ringsum im Lande? War es wild und bang geworden, wohin sie blickten? Vor den Ferien waren sie 25 Schüler in der Klasse gewesen, heute sind sie vier weniger. Vier von ihnen sind in den Westen abgehauen, mit ihren Eltern oder allein, Genaues wusste niemand. Drehte sich die Welt deshalb andersrum? Dieses Jahr, fühlten sie, war anders als die Jahre davor. Aber wie anders? Warum anders? Etwas ging um, und das war gewiss nicht das Gespenst des Kommunismus. Oder war es gerade und genau das? Und was hatte es vor?
Kotte hörte jetzt, wie der Neue mit dem unaussprechlichen Namen flüsterte: „ 'Ach! wie ein Knabe, seh ich zu Boden oft, Such in der Höhle Rettung von dir, und möcht, ich Blöder, eine Stelle finden, Alleserschüttrer! wo du nicht wärest ...'“
Dem Deutschlehrer, den nichts erschüttern konnte, seit er beschlossen hatte, das Selberdichten sein zu lassen, klappte der Kiefer auseinander. Hatte dieser Knabe, der aus den Tiefen es Ostens gekommen war, Hölderlin in Deutsch zitiert? Wenn, dann war der Neuzugang gewiss ein Blöder nicht.
Kotte war verwirrt. Mit Unruhe und Albernheiten war zu rechnen gewesen. Niemand, der in den letzten Wochen vor dem Fernsehgerät sass und die Bilder von flüchtenden DDR-Bürgern sah, konnte annehmen, dass alles seinen sozialistischen Gang ging. Nach diesem Sommer, das wusste jeder, der Eins und Eins zusammenzählen konnte, war es auch möglich, dass die Summe Drei hiess.
Es war Unruhe im Land. Aufrufe und Flugblätter kursierten. Wie auch Gerüchte und Spekulationen. Mal hiess es, die Armee würde putschen. Mal hiess es, die Regierung erwäge, ins Exil zu gehen. Nichts davon war wahr, alles schien möglich zu sein, und es kostete Kotte Mühe, die Contenance zu behalten. Und nun noch dieser – Russe, der kein Russe war, sondern aus einem mittelasiatischen Land? Dieser Junge rezitierte Hölderlin aus dem Kopf? Kotte hätte einen Teil seiner Pension, falls er das Alter der Berechtigung erreichte, darauf verwettet, dass von seinen deutschen Schülern grad zwei oder drei ein paar Zeilen des von ihm verehrten Dichters aufzusagen wüssten. Und die würden sie zwei Tage später wieder vergessen haben.
Gadji Muuslimsade stand fremd und aufrecht vor der leeren Wandtafel. Sein Deutsch hatte er in Baku von einer Frau gelernt, die närrisch verliebt war in die Dichter Goethe, Hölderlin und Heine. Sehr verschiedene Dichter, wie Gadji fand. Und seiner Auffassung nach liessen sie sich höchstens vergleichen in der Liebe zu ihrer Muttersprache und im gekonnten Gebrauch derselben – da kamen ihm die Dichter fast so närrisch vor wie die alte Sarai, die ihre Familie im Grossen Vaterländischen Krieg verloren hatte und trotzdem meinte, zwischen den Führern eines Landes und dem Volk bestehe immer ein Unterschied. Kein Volk will Krieg. Es sind die Führer, die Krieg wollen und das Volk verführen. „Immer, hörst du, Gadj“, hörte er sie sagen, in diesem Klassenzimmer, das so hell war im Licht der Vormittagssonne. „Niemals darfst du glauben, dass ein Stalin oder ein Hitler, auch ein Reagan oder ein Gorbatschow, aus dem gleichen Holz sind wie das Volk!“
Das war verwirrend, schon daheim. Ein Krieg, den die Deutschen den zweiten Weltkrieg, seine Landsleute den Grossen Vaterländischen Krieg nannten, und den sie verloren hatten (die Deutschen), obwohl es schon seit Jahren so aussah, als seien sie doch die Gewinner, so reich waren sie, so gut ging es ihnen. Das war verwirrend erst recht jetzt, hier, in Deutschland. Dagegen war die Sprache Hölderlins einfach und klar.
„Setzen Sie sich, Gadji Mu … ähm“, sagte Kotte. „Es dürften ausreichend Plätze vorhanden sein.“
„Muuslimsade“, sagte Gadji weich.
„Setzen Sie sich, Müsli!“, rief jemand aus der Klasse. Niemand kicherte.
„Sie haben sich Ihren dummdreisten Humor offenbar während der Ferien nicht abgewöhnen können, Peter Sandburg!“, sagte Kotte. „Wie wäre es, wenn Sie allmählich das Stadium eines Zehnjährigen verliessen und immerhin am Rande der Pubertät Platz nähmen?“
„Echt mal, Peter“, sagte ein Mädchen, deren Haar knallrot gefärbt war und nach allen Seiten in gegelten Würstchen abstand. Das rechte Ohr trug schwer an einem Dutzend stählernen Ringen. Sie klirrten leise, als das Mädchen missbilligend den Kopf schüttelte und mehr metaphorisch und ein Stückchen doch von ihrem Banknachbarn, dem besagten Peter Sandburg, abrückte.
Sandburgs Kopf, rund wie eine Billardkugel, leuchtete rot auf. Es war die Farbe der Scham, es war auch die Farbe der Sturheit. Peter Sandburg war der Bursche, der seinen Holzkopf immer und immer wieder gegen die Wand schlagen würde in der Hoffnung, es gäbe ein Publikum, das darüber lachte. Oder es würde ein Funken aus dem Zusammenprall von Holz und Stein entspringen und ein Feuer entzünden: das Lachen der anderen. Er würde sein linkes Bein herschenken, wenn er dadurch Aufmerksamkeit auf sich zöge, Sandburg, der Klassen-Kasper.
Gadji Muuslimsade lief durch die Stuhlreihen. Sein suchender Blick wurde von Gernot erwidert. Mit einer Handbewegung lud er den Neuankömmling ein, neben ihm Platz zu nehmen. Gadji nahm das Angebot an und setzte sich.
Vor ihm sass ein Mädchen, dessen weizenblonde Mähne zu einem Zopf gebunden war. Dessen fasrige Enden breiteten sich auf ihrem Rücken aus, ein zartes Netz, das Gadji an das Haar seiner Mutter erinnerte.
Gadji holte tief Luft. Wie schweigsam sie geworden war, als sie erfuhr, dass ihr Mann in die DDR versetzt werden würde.
Sie, die fröhliche Ukrainerin, schlank und katzenäugig, zog sich in sich zurück. Oder sie nahm ihre Tochter Nesgir bei der Hand und machte lange Spaziergänge durch die Altstadt von Baku, besuchte Freundinnen, die Russinnen waren. Während sein Vater, Dshantir, der in den Hügeln um Baku aufgewachsen war, seinem Sohn die lange Reise nach Deutschland erklärte. Es sei komplizierter, als Gadji bisher gelernt hätte. Gewiss habe Deutschland den Grossen Vaterländischen Krieg verloren, aber es gäbe zwei deutsche Länder. Ein kapitalistisches und ein sozialistisches. Er – und mit ihm die Familie – würden an einer defensiven Aufgabe, an der Nahtstelle zweier Weltsystem arbeiten. Gewissermassen auf einem Vorposten zur Verteidigung der Sowjetunion, des Sozialismus auf der Welt. Das waren so Sätze. Schulmässig.
Gadji hörte kaum zu. Die Aussicht, in Europa zu leben, in einem Land der Dichter und Denker, faszinierte ihn – und zeichnete ihn vor den Kameraden aus.
Nie vorher hatte Gadji diese Spannung bemerkt: die zwischen seiner Mutter und dem Vater, Dshantir, die zwischen der Mutter und der aserbaidshanischen Verwandtschaft, die zwar noch zusammenhielt. Einige Onkel entdeckten jedoch ihre religiösen Gefühle, die einen als Christen, die anderen als Muslime, und der Atheismus seiner Eltern war noch ein Dach, unter dem alle zusammenkamen und feierten. Aber es schien, als würde das Dach löchrig werden und in das Familienleben strahlten die gefühllosen Sterne eines unfassbaren, unendlichen und sich ständig verändernden Universums.
Einmal war es zu einer Prügelei zwischen zwei Brüdern seines Vaters gekommen. Der hatte den Streit beendet, indem er mit seiner Maschinenpistole eine Salve in den Himmel über dem Kaspischen Meer feuerte und damit drohte, die nächsten Kugeln würden in die Füsse der Streithähne fahren, dass sie zu Tanzen anfingen wie die Esel unter der Peitsche.
Das alles ging Gadji durch den Kopf beim Anblick des Mädchenzopfes, das dem Zopf seiner Mutter ähnelte, wenn sie morgens vor dem Spiegel sich zurechtmachte. Und als hätte das Mädchen seine Gedanken gehört, drehte es sich um und lächelte ihn an. Ihn und dann Gernot, der zurücklächelte. Gadji spürte, dass es zwischen den beiden eine Vertrautheit gab, die über die Kameradschaft von Mitschülern hinausging.
„Wiewohl ich von der Sinnlosigkeit meines Tuns überzeugt bin, muss ich nunmehr auf den Beginn der Stunde drängen. Wie logisch ist das?“ fragte Werner Kotte.
„Völlig unlogisch“, sagte die rotmähnige Sitznachbarin Sandburgs. „Man is krank, wenn man weess, dass man Kokolores macht, und man macht't trotzdem.“
„Sie haben Recht, Maria. Aber Recht zu haben, bedeutet gar nichts. Abgesehen von ihrem Rotwelsch … Sie fangen das neue Jahr jedenfalls mit Schmackes an, Gnädigste.“
„Ick bin mir nich sicher“, entgegnete Maria, „ob ick det Jahr durchstehe. Wenn mich nich allet täuscht, jeht die Welt unter.“
„Das ist eine glänzende Überleitung zum Thema“, wich Kotte Marias Wahrnehmung, die von einem präzisen Realitätssinn zeugte, aus. „Aus aktuellem Anlass, den ich geschichtlich gesehen für nichtig halte, aber wer weiss das schon, wenn er mittendrin steckt im grossen Plan des Weltenschöpfers … ähm ...“
„Ähm“ kam es chorisch als Echo aus der Klasse.
„Denn es hat die Geschichte in jedem ihrer Augenblicke die Angewohnheit sich aufzublasen zu einer Bedeutsamkeit, die sie nicht wirklich besitzt … also möchte ich Ihnen ein Gedicht vortragen, 'Der Zeitgeist' von … „
„Hölderlin“, kam es aus der Klasse, teils gestöhnt, teils belustigt, teils gelangweilt, teils interessiert.
Die Klasse liebte ihren Lehrer. Die Mädchen und Jungen kannten ihren Kotte, wie er sie kannte; Kotte gehörte zu der Handvoll Lehrer an der Schule, die sie respektierten. Er liess sie weitgehend in Ruhe, verblüffte sie oft mit seiner Kenntnis deutscher Literatur und mit seinen Schlussfolgerungen aus einem aufgeschriebenen Damals in das heutige Leben; und er verlangte lediglich ein bisschen Verständnis für die Muttersprache, was ja wohl, meine Damen und Herren Oberschülerinnen und Oberschüler, nicht zu viel verlangt ist für die kommende Elite des Landes? Das konnte er haben – und seine Ruhe dazu. An Verständnis herrschte kein Mangel im Lande, allüberall. Davon gab's jede Menge, mehr als gute Rockmusik, Bananen und Reisefreiheit.
Und Kotte trug aus dem Gedächtnis vor: „Zu lang schon waltest über dem Haupte mir,/Du in der dunklen Wolke, du Gott der Zeit!/ Zu wild, zu bang ists ringsum, und es/Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke …“
Werner Kotte stand im Lehrerzimmer am Fenster und schaute auf das Gewimmel auf dem Schulhof. Ein Haufen, dessen Verkehrsregeln die Ameisen in jeder Pause neu erfinden. Allerdings waren ihre Wege wenig rätselhaft: Die Grösseren standen in Grüppchen in einer Ecke, die von einer Reihe Pappeln abgeschirmt war, und rauchten. Zwei Jungen umkreisten einander, schlugen sich spielerisch, indem sie die Posen irgendeiner asiatischen Kampfsportart imitierten. (Aserbaidshanisch?)
Kottes zielloser Blick blieb an Gadji Muuslimsade hängen. Der fremde Junge stand an dem Maschendrahtzaun, der das Schulgelände von der Strasse trennte. Er biss von einem Apfel ab und wirkte gelassen und selbstsicher, fremd und souverän.
„Hallo, Werner! Schön, dich wiederzusehen.“ Die Hand seiner Kollegin Christa Schaffner, Mathematik und Physik in Tateinheit mit Sport, legte sich auf seinen rechten Oberarm. Eine flüchtige Berührung, die als kollegial durchginge, wüsste nicht jeder andere Lehrkörper an der Schule, dass zwischen Kotte und Schaffner was lief. Lange schon. Die Schule ist ein Mikrokosmos, dessen Sterne zählbar und dessen Umfang begrenzt sind. Hier laufen sich die Sterne gegenseitig über den Weg, kreuzen sich, begeben sich auf eine eigene Umlaufbahn, um schliesslich wieder da anzukommen, von wo sie sich aufmachten: im Lehrerzimmer.
„Du siehst gut aus“, sagte Kotte. Ein Satz, der als unverfänglich und kollegial durchgehen konnte und sogar laut ausgesprochen werden durfte. Erstens stimmte es, die Schaffner sah übergut aus. Zweitens war es nicht verboten, einer Kollegin ein Kompliment zu machen.
„Nach den Ferien immer“, sagte Christa Schaffner. „Falls das ein Kompliment war und du mich tatsächlich in deiner lyrischen Versunkenheit wahrgenommen haben solltest ...“ Sie brach ab und sagte: „Ich will mit dir schlafen.“ Dieser Satz gehaucht, vom Gewicht eines Schmetterlings, unhörbar für alle anderen im Raum.
„Kannst du mir erklären“, sagte Kotte laut, „warum ich an jedem ersten Tag nach den Ferien Magenschmerzen kriege?“
Nach und nach trafen die Lehrerinnen und Lehrer ein. Sie öffneten ihre Taschen, stapelten Bücher auf den Tischen, klopften Papiere auf Kante. Sie begrüssten sich oder begrüssten sich nicht. Die Schule ist auch ein Mikrokosmos mit Himmelskörpern, die sich wechselseitig anziehen oder abstossen. Planeten, die sich seit Jahren und Jahrzehnten umkreisten. Sternenstaub, der sich bildete und verflog und zusammenklumpte. Und manchmal trat der Staub in die Erdatmosphäre ein, wo er verglühte.
„Magenschmerzen, die sich an jedem letzten Tag vor den Ferien verflümen?“, fragte Schaffner zurück.
„Ich wüsste gern, ob die Lehrer nicht jene Berufsgruppe ist, die in der Statistik der Magengeschwüre und Gastroskopien an erster Stelle liegt.“
„An dritter Stelle. Nach den Journalisten und Parteisekretären“, antwortete sie. „Ungefähr wie beim Alkoholkonsum.“
Und wispernd wollte sie wissen, ob er ihren Wunsch wenigstens akustisch verstanden habe. Den mit dem Schlafen, um dies zur Sicherheit noch mal zu wiederholen. Und leise wie der Flügelschlag eines Pirols klang ihre Beschreibung, dass sie braun gebrannt sei wie eine Tafel Milka-Schokolade aus dem Intershop, was er, Kotte, in wenigen Tagen nicht mehr sehen würde, weil ihre Haut die Angewohnheit habe, die sommerliche Bräune rasch zu verlieren. Es sei, wollte er Zeuge ihrer Eintrübung sei, Eile geboten. Und überhaupt..
„Wie geht's deinem Mann?“, fragte Kotte in einer Lautstärke, die den Raum nicht durchdrang, aber immerhin neutrales Interesse vortäuschte.
Christa Schaffner liess ihre Hände flattern. Sie sagte: „Fort ist das Vögelchen. Im Zugwind nach Westen.“
„Oh“, machte Werner Kotte. Er bereute die Frage - und die Lautstärke, mit der sie geantwortet hatte. Eine Lehrerin, deren Mann republikflüchtig war. Sie steckte in einer Bredouille, aus der sie kein Gott, kein Kaiser und kein Tribun erretten konnten. Nur sie selber. Und das liebte er an ihr, unter anderem: Christa liess sich kein X für ein U vormachen und zog es vor, die Gesellschaft und die Welt und das gesamte Brimborium des Lebens mit naturwissenschaftlicher Grandezza zu beurteilen. Sie lachte und sagte: „Ich höre, was du denkst! Ich höre, was alle denken! Du kuckst, als hättest du wirklich ein Magengeschwür! Ich habe keins.“
„Frau Schaffner“, sagte jetzt eine Frau, die eine geöffnete Stullenbüchse aus Blech vor sich auf dem Tisch hatte und eine belegte Stulle von allen Seiten betrachtete, „Sie sollten ein bisschen vorsichtiger sein. Niemand ist unersetzbar, wissen Sie. Ich meine, wir alle sind nicht sehr glücklich über die Entwicklung in unserem Land. Aber wie Sie über die Republikflucht Ihres Mannes Freude zu empfinden scheinen … Ich weiss nicht recht.“
Sie schaute auf die Stulle, misstrauisch, als läge unter der Scheibe Schnittkäse eine Landmine oder eine tote Schabe. Dann biss sie hinein und kaute griesgrämig.
Nur Kotte konnte die Veränderung in Christa Schaffners Gesicht wahrnehmen. Das Lächeln blieb, aber die Augen, grün mit bräunlichen Einsprenkeln, verengten sich zu den Sehschlitzen eines Panzers. Dann sagte sie eisig: „Glauben Sie, Frau Wolters, dass es irgendeinen anderen Lehrer an dieser Schule gibt, der den kleinen Lüstlingen und Ganoven die Integralrechnung beibringen kann? Ausser mir? Oder warum ein Apfel nach unten fällt, wenn er nach unten fällt? Und das tut er. Das tut er so gewiss, wie unser Land gerade eine bizarre Entwicklung durchmacht. Und wenn mein Mann, dieses Arschloch, meint, ihn erwarte im Westen das Paradies – o, Verzeihung, eine biblische Anspielung –, dann soll er es probieren. Aber als Adam hat er seine Eva verloren.“
Christa Schaffner spürte Kottes Hand; er hatte ihr linkes Handgelenk umfasst und drückte es. Sie wollte sich losreissen. Die Wut, die in ihr aufgestiegen war, drohte sie zu überfluten. Diese Wut würde jeden überschwemmen, auch Kotte. Was fiel ihm ein, sie gewissermassen zu fesseln?, als zum einen die Tür aufging und zum anderen Kotte ihr zuflüsterte: „Heute Abend.“
Doch, sie verstand Kottes Griff. Er war der eindrückliche Wunsch, sie möge ihre berechtigte Wut, ja, das fand er, und sie spürte seinen Beistand, für jetzt besser bezähmen.
Ein Mann war eingetreten und hatte sich an das Ende des langen Konferenztisches gestellt. Ein Haarkranz umkreiste seinen Kopf, sein glattes Gesicht und sein Lächeln verrieten, warum er den Spitznamen Artur der Engel trug: Er glich jener Zeichentrickfigur, die stets an einem Regenschirm zur Erde schwebte, höflich den Hut zog und aus Patschen und Bedrängnissen half. Allerdings war der Spitzname ironisch gemeint. Die Augen des Mannes waren kalt, was vielleicht an ihrem sehr hellen Blaugrau lag. Dieser Artur der Engel, Dr. Erwin Lautengässer, war eher ein Teufel, ein grosser Teufel von kleinem Wuchs, ohne Regenschirm und ohne Hörner.
„Sie haben völlig Recht, Frau Schaffner“, sagte er leise und langsam, während er aus seiner Aktentasche Bücher zog und sie vor sich auf dem Tisch ordnete. „Wir befinden uns in einer ‚bizarren' Entwicklung. Es ist beunruhigend, was um uns herum geschieht. Das gibt es ja immer mal wieder in der Geschichte, dass unzufriedene Elemente zusammenkommen und meinen, es gäbe ein Recht der Strasse. Aber es gibt nur ein Recht, das sozialistische. Und es gibt genügend Instrumente und Wege, die Unzufriedenheit, wenn ich mal so nennen soll, was in meinen Augen recht eigentlich Verrat ist … Nun gut, ich will nicht richten … Aber wir können alle auf die Staatsorgane vertrauen. Sie sind die Adresse für Vorschläge und Kritiken. Sie sind es auch, die die Ordnung im Lande aufrechterhalten. Auch wenn die Lage ‚bizarr' ist – wie Sie meinen.“
Dr. Lautengässer machte eine Pause und schien zufrieden mit seiner Suada zu sein.
Christa Schaffner hatte sich mit einem Ruck aus Kottes Griff befreit und sich umgedreht.
Sie stand mit dem Rücken zum Raum, in dem die Kolleginnen und Kollegen geschäftig zu Gange waren. Ihnen war nicht anzusehen, was sie dachten. Nur Frau Wolter nickte, kaute an der Stulle und nickte. Sie war in allem mit Lautenschläger einverstanden. Dann drehte sich Christa Schaffner wieder um, und Kotte sah, dass ihr Gesicht eine hölzerne Maske war, während ihr Körper bebte.
Sie würde explodieren, dachte er, und sein Magen zog sich zusammen. Sie war die Sachlichkeit der Mathematik und der Physik gewöhnt und hielt nichts vom Geschwätz der Politik, am wenigsten vom Geschwätz des stellvertretenden Schuldirektors Dr. Lautengässer, der zudem die Staatsbürgerkunde lehrte, Stabü, wie es in der Abkürzung hiess.
Wie ähnlich das klingt, hatte Christa mal zu Werner gesagt, Stabü und Stasi. „Dir als Gourmet der deutschen Sprache müsste solche Lautmalerei auf der Zunge wie Säure brennen“, hatte sie gespottet. Er hatte entgegnet, dass sie ein Lästermaul sei, und dass Lästermäuler früher, ganz viel früher entweder als Hofnarr zu Ehren kamen oder als Hexen auf dem Scheiterhaufen endeten. Geschichte wiederholt sich nicht, hatte die Geliebte gemeint. Was wissen wir schon, erwiderte Kotte. „Vielleicht geht sie im Krebsgang? Rückwärts? Vielleicht ist das, was neu scheint, etwas sehr Altes. Vielleicht …“
„Vielleicht benutzt du eine Lippen jetzt zum Küssen und Liebkosen meines Alabasterliebes, kleiner Philosoph und Weltenerklärer“, hatte Christa Schaffner das Gespräch beendet und ihren Liebhaber auf den Teppich gezogen, weil das Bett im Schlafzimmer stand, und das Schlafzimmer befand sich gerade in der Nähe des Äquators.
„Dabei fällt mir ein“, fing Lautengässer an: „Was macht unser Programm?“
Die Frage ging an den Deutschlehrer. Der schaute von Christa, die sich noch nicht entspannt hatte, zu Lautengässer und wieder zurück. Sein Gesicht nahm den Ausdruck an, den er bevorzugte: den des aus der Welt gefallenen Träumers, jenen Ausdruck der Zerstreutheit, hinter dem er sich und was er dachte verbergen konnte
Christa lachte kurz auf und sagte: „Die Republik wird Vierzig, Werner. Die Schule braucht ihre Festveranstaltung. Und was wäre eine Festveranstaltung ohne das von dir einstudierte musikalisch-literarische Potpourri aus den Teppichwebern von Kujan Bulak, Spaniens Himmel und Am Brunnen vor dem Tore. Und ein bisschen was von Volker Braun, weil wir ja kritische Menschen sind.“
Sie schüttete ihre Handtasche auf den Tisch, ein Lippenstift kullerte über die Platte und trudelte aus. Ein paar Schlüssel, eine Bürste, ein paar Münzen, auch ein Terminkalender, Kugelschreiber und Bleistifte – Lehrmaterial hatte die Tasche nicht enthalten, und was da kullerte, das durfte jeder sehen.
Christa Schaffner blickte auf und in die Runde. Das Schweigen stand wie eine unsichtbare Wand. Frau Wolter fielen in Zeitlupe ein paar Brotkrümelchen und Wurstfasern aus dem offen stehenden Mund, gewissermassen durchs Zahngehege in die Freiheit des Seins.
„Is was?“, fragte die Mathe- und Physiklehrerin und schaute von einem zum anderen.
„Ich glaube nicht“, sagte Lautengässer, „dass es irgendeinen Grund gibt, Kollegin Schaffner, sich über den vierzigsten Geburtstag unserer Heimat lustig zu machen.“
„Gewiss nicht, Kollege Lautengässer“, erwiderte sie. „Nur ist mein Fach das Rechnen. Ich beherrsche neben dem kleinen Einmaleins auch die Prozentrechung. Ich weiss, wie Kurven auf und ab gehen. Meinen für Sie natürlich irrelevanten Berechnungen nach könnte in fünf Wochen niemand mehr im Lande sein, der diesen Geburtstag feiert. Ausser natürlich Sie, die Partei- und Staatsführung und noch der eine oder andere. Wenn ich die Zahl der pro Tag Ausgereisten mit durchschnittlich fünftausend ansetze und sie ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setze ...“
„Falls Sie damit sagen wollen“, unterbrach sie Artur, der Teufel, „dass diese Massenflucht im Sommer ein Zeichen der Instabilität der DDR sei – eine ungeheure Behauptung! Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, werte Kollegin, dass es Kriminellen, Abenteurern und irregeleiteten Jugendlichen nicht gelingen wird, den Sozialismus auszuhöhlen!“
„Ich nehme alles zur Kenntnis, werter Kollege. Das heisst, ich würde alles zur Kenntnis nehmen, wenn ich wüsste, auch Sie nehmen etwas zur Kenntnis. Nämlich die Realität in diesem Land!“
Kotte sah Christas Halsschlagader pochte. Kotte sah die Knöchel der Finger, die sich in das Leder der Handtasche pressten, weiss werden. Dass zwischen dem Lautengässer und der Schaffner das Wetter eines eisigen, nassen Novemberabends in Berlin herrschte – das war weder ein Geheimnis noch neu. Doch diese Schärfe, diese Unbedingtheit, diese Offenheit … Es trümmert und wankt ja, wohin ich blicke, Hölderlin, mein Bester, war's zu allen Zeiten so? Irgendwie? Für die Empfindsamen unter uns?
Kotte räusperte sich. „Ich glaube“, sagte er ruhig, „Frau Schaffner will zu Verstehen geben, dass es tatsächlich fragwürdig ist, ob die Festveranstaltung stattfinden kann.“
„Wie?“ Lautengässer schoss das Fragewort in den Raum.
„Nun, nicht weil das Land bis dahin untergegangen ist, gewiss nicht, so schnell geht ein Land nicht unter“, fuhr Kotte fort. „Aber drei meiner Akteure sind nicht mehr zum Schuljahr angetreten. Es könnte sein, sie sind lediglich krank. Andererseits meine ich gehört zu haben, auch wenn es vielleicht nur ein Gerücht ist, dass die drei, zwei darunter sind hervorragende Interpreten mit Talent zum Sprechen und der Bühne, mittlerweile in der BRD sind.“
„Wer?“, schoss Lautengässer wieder.
„Karla Endlicher und Wolfgang Kahnert. Und Klaus Rohlicht.“
„Was?“ Lautengässers Gesicht lief rot an.
„Bei Wolfgang Kahnert handelt es sich, wenn ich nicht irre, um einen Ihrer gelehrigsten Schüler“, schob Kotte nach.
„Wollte der nicht Offizier werden?“, fragte Christa Kotte; so unschuldig kann nur eine Mittdreissigerin fragen, die ihre Unschuld vor einigen Jahren verloren hat, und Fragen, süss wie Salpetersäure, stellen konnte „Und Karla, sie wollte Lehrerin werden?“ Unglaublich, unfassbar, wie die Unschuld einen Menschen ergreifen kann!
Dr. Lautengässer schwitzte. Der Stabü-Lehrer pumpte. Er hätte theoretisch über die Gelassenheit eines Mannes verfügen können, dem aus der Kenntnis der Geschichte die Einsicht erwachsen ist, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. Auch die Einsicht, dass es nur sehr bedingt im Willen des einzelnen Menschen liegt, den Verlauf der Geschichte zu beeinflussen, weil der einzelne Mensch ja kaum in der Lage ist, seine Launen zu beherrschen geschweige denn entscheidend am Rad der Geschichte zu drehen; meistens hatte er die Hände voll mit anderen Dingen zu tun. Gewiss gab es Ausnahmen. Aber wenn man diese betrachtete, wieder vom Standpunkt des Historikers, dann konnte man auch nur heiter schlussfolgern, dass all die Neros, Christusse, Napoleons, Marxe und Lenins doch mehr oder weniger Produkte des Zufalls waren. Schnittstellen im Schnittmusterbogen der Menschheit, gewissermassen. Lautengässer war entschieden kein Nero, kein Marx, kein Christus, kein Napoleon.
Aber ungefährlich und ohne Einfluss war er auch nicht.
„Wie ich erfahren habe“, sagte er leise, „hat Ihr Mann die Republik verlassen. Er ist ‚ausgereist', wie sie die Flucht vermutlich verharmlosen. Und natürlich haben Sie davon nichts gewusst!“
Lautengässer lauerte; er hatte sich hingesetzt und lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch. Seine Halbglatze schwitzte.
Christa zog kaum hörbar Luft, und Kotte hörte, wie ihre Zähne knirschten. „Es steht gewiss nicht in Ihrem Funktionsplan, Herr Doktor Lautengässer, dass Sie sich um mein Privatleben zu kümmern haben.“
„Ich äussere lediglich meine Bedenken“, sagt Lautengässer milde, „ob es Ihnen zusteht, in Ihrer gewiss misslichen privaten Lage Zweifel am Fortbestand er DDR zu äussern. Das haben schon ganz andre getan. Und sie haben dafür grade stehen müssen, Frau Schaffner. Das wissen Sie doch gewiss. Es wäre ratsam, wie heisst es: vor der eigenen Türe zu kehren.“
„Ein Apfel, der fällt, fällt immer nach unten“, entgegnete Frau Schaffner.
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Schwerkraft. Simpel, aber nicht zu überlisten.“
„Die Politik funktioniert nicht nach den Gesetzen der Natur. Wie auch die Psychologie nur bedingt. Wir Menschen machen sie.“
„Das ist vielleicht das Unglück“, erwiderte sie. „Funktionierte die Politik nach den Gesetzen der Natur, sie wäre kontrollierbar, verstehbar, einsehbar. Das wäre doch gewiss in Ihrem Sinne. Da können sie den Menschen hinein- und herausschrauben, wie sie passen. Das sollen sie doch, oder?“
„Der einzige Grund, der für Sie spricht“, schnaufte Lautengässer und schraubte sich in die Höhe, indem er sich mit beiden Händen vom Tisch abstützte, „kann nur der sein, dass Sie nicht wissen, was Sie reden! Sie sind aus der Bahn geworfen. Der Verlust Ihres Mannes, seine Republikflucht, dieser Verrat ...“
Sehr, sehr ruhig sagte Christa Schaffner: „Wissen Sie, was ich tat, als er aus München anrief? Ich lachte. Zum ersten Mal seit ich weiss nicht wie vielen Jahren lachte ich so, dass meine Nachbarin klingelte und mich besorgt fragte, ob etwas passiert sei? Und wissen Sie, was ich antwortete? Ich sagte: Mein Mann glaubt, er sei frei, dabei bin ich jetzt frei! Und das, Herr Doktor Lautengässer, hat mit Politik nichts zu tun! Gar nichts!“
„Das ist doch …!“ Lautengässer konnte nicht mehr sagen, was das sei. Die Schulglocke gellte durchs Haus. Die Lehrer standen hastig auf und verliessen den Raum. Schneller als sonst, aber es war auch alles anders als sonst.
Christa Schaffner hatte es nicht eilig. Als sie zur Tür ging, begegnete ihr auf halber Strecke Lautengässer. Er drückte sich an ihr vorbei. Christa blieb in der Tür stehen und wendete sich um. Sie sah, wie sich Lautengässer zu Kotte beugte und etwas sagte, was sie nicht hören konnte. (In der Nacht würde Werner ihr davon berichten. Lautengässer habe versucht, ihn, Kotte, auf seine Seite zu ziehen. ‚Sie haben das alles gehört, Herr Kotte', habe der kleine Doktor gesagt. ‚Es ist unser beider Pflicht, derartiges defätistisches Reden zu verhindern. Daraufhin habe Kotte geantwortet, dass es doch unter uns bleiben könnte. ‚Warum eine Staatsaffäre aus einem Streit, aus den Missverständnissen machen. Zur Zeit sind alle so aufgeregt.' – ‚Und was hat Lautengässer erwidert?', fragte Christa, die aus dem Bett gestiegen war und so nackt im Mondlicht stand, dass Kotte wiederum sehr aufgeregt wurde. ‚Vorausgesetzt das Programm zum 40. Jahrestag der Republik komme zustande, liesse sich über ein Schweigen reden.' Das hatte Lautengässer noch gesagt. Aber wie wir beide wissen, fuhr Kotte fort, ‚hat das Schwein gelogen! Und dich angeschissen!' – ‚Uuuh, Gottchen, Kottchen, welche Wortwahl! Spricht die Gosse aus dir?' - ‚Muss eben raus, manchmal', sagte der nackte Deutschlehrer daraufhin. ‚Immer nur schweigen! Das zerreisst einem das Gedärm!' – Gut', sagte daraufhin Christa. ‚Dann lass uns beide trotzdem jetzt von dem Müll schweigen, und ich zeige dir noch eine Stelle meiner Ferienbräune, von der du bisher gar nicht wusstest, dass es sie überhaupt gibt.' – ‚Wen gibt es nicht? Die Bräune?', fragte Kotte zurück.)
Gadji Muuslimsade verliess das Schulgebäude, überquerte die Strasse und ging zur Strassenbahnhaltestelle. Er studierte den Fahrplan. Immerhin würde er in diesem Schuljahr beinahe jeden Tag diese Strecke bis nach Karlshorst in die Hermann-Duncker-Strasse fahren, um nach Hause zu kommen. Nach Hause, domoij – nein, er war hier nicht zuhause, er kam nicht nach Hause, indem er in die Strassenbahn stieg und ein paar Stationen fuhr. Die Brust wurde Gadji eng.
Er hielt Ausschau nach der Bahn, als er den Blick eines Mädchens spürte. Es stand rechts hinter ihm und starrte ihn von unten an. Gadji wendete sich ihm zu und schob fragend die Augenbrauen hoch.
Das Mädchen, es trug einen bunten Schulrucksack und war höchstens zehn Jahre alt, hielt seinem Blick stand und fragte plötzlich: „Bist du ein Neger?“
Auf Gadjis Gesicht erschien ein Grinsen. War aus seinem Inneren aufgestiegen und hinausgeflattert auf seine Lippen. Hatte auf dem Weg nach draussen die Klammer in seiner Brust zersprengt.
„Weil ich so – dunkel aussehe?“
„Du sprichst ja Deutsch“, sagte das Mädchen und steckte sich den rechten Zeigefinger in ein Nasenloch. „Du bist ein Neger, der Deutsch spricht.“
Jetzt musste Gadji lachen. So hellhäutig wie die meisten Deutschen war er nicht, wohl wahr. Schliesslich war sein Vater ein Asiate, und seine Mutter verglich ihn oft mit dem jungen Alexander Puschkin. Ein Dichter, dessen Urgrossvater ein Mann aus Abessinien war und als Mohr am Hofe des Zaren Peter des Grossen gedient hatte und dafür geadelt wurde. Bes arabski, hatten die Freunde Gadji oft gerufen, arabischer Teufel, so wie auch Puschkin oft genannt wurde. Und jetzt, nach zweieinhalb Monaten der Sommersonne, war Gadji noch dunkelhäutiger als sonst. Und sein Haar war gewachsen zu langen Locken, die sich schwarz und glänzend über Schläfen und Stirn legten. ‚Gewöhnlich wurde der junge Neger wie ein Wunder angestaunt', fiel Gadji ein Satz ein, den Puschkin in einem Roman über seinen Urgrossvater mütterlicherseits geschrieben hatte.
„Ich habe Deutsch gelernt“, sagte Gadji. „In Baku.“
„Dann bist du ein Bakunese?“
„Die gibt es nicht“, antwortete Gadji. „Ich bin halb Russe und halb Aserbaidshaner.“
Der Zeigefinger des Mädchens hatte das Nasenloch verlassen und war im Mund gelandet. Sie kaute darauf und dachte nach.
„Aserbai … was?“, fragte sie nun.
„Wo ich geboren wurde, da gibt es ein grosses Meer. Und viel Njeftj“, erklärte der Junge; die Plauderei amüsierte ihn.
„Ich war im Sommer am Meer. Ostsee“, sagte die Kleine. „Das Wasser war kalt. Es gab Feuerquallen. Und ich hatte einen Sonnenbrand.“
„Das klingt nicht erfreulich“, sagte Gadji.
„Nee.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte: „Meine Haut war rot, ganz, ganz rot.“
„Deine Haut ist zu weich“, schlug Gadji vor.
„Denkst du, ich habe keine Muskeln?“
„Natürlich hast du Muskeln. Du bist ein grosses, starkes Mädchen. Nur deine Haut ist sehr empfindlich.“
Wieder versank das Mädchen in ein kurzes Nachdenken und fragte dann: „Was ist Njeftj?“
„Öl“, sagte Gadji, „Erdöl.“
„Öl?“
„Es kommt aus dem Meer. Aus dem Kaspischen Meer. Es gibt lange Brücken ins Meer hinein und am Ende der Brücken wird es aus dem Meer gepumpt.“
„Warum heisst es dann nicht Wasseröl?“, wollte das Mädchen wissen.
Gadji lachte. Die Kleine hatte Recht. Es könnte auch Wasseröl heissen, obwohl es aus dem Grund des Meeres, also doch aus der Erde, genommen wird. Solange, bis die Erde hohl ist wie ein Fussball?
„Es gibt auch Olivenöl“, sagte Gadji.
“Sehr witzig!“, sagte das Mädchen. „Und du kommst nicht aus Aserbeidingsdabum, sondern aus Olivien. Jedenfalls siehst du so aus!“
„Du bist ziemlich frech“, sagte Gadji heiter. „Weisst du, was Oliven sind?“
„Fische“, antwortete die Kleine selbstbewusst.
Aus Gadjis Grinsen wurde ein breites Lächeln. Die Ernsthaftigkeit und das Heimweh waren aus seinem Gesicht gewichen und hatten der Fröhlichkeit Platz gemacht. Die Strassenbahn kam und hielt an. „Ich muss jetzt einsteigen“, sagte er.
„Schade“, sagte das Mädchen. Gadji reichte die Hand hin. Das Mädchen zögerte, nahm sie und musterte sie. Gadji sah, als er in der Bahn sass und losfuhr, wie das Mädchen die Hand hin- und herwendete und dann mit der Zunge ableckte. Wollte sie herausbekommen, ob die Farbe seiner Haut auf ihre Haut abgefärbt war? Gadji schüttelte den Kopf, grinste, wollte lau loslachen, als ihm das Pärchen in den Blick geriet.
Bevor die Bahn um die Ecke bog, sah er das blonde Mädchen, das in der Klasse vor ihm gesessen, und Gernot Klinkermann, den Jungen, mit dem sich der Lehrer Kotte einen verbalen Schlagabtausch geliefert hatte. Sie gingen nebeneinander auf dem Bürgersteig an den Schaufenstern der Läden vorbei. Sie passten gut zusammen. Dwa Sapoga – para, zwei Stiefel bilden ein Paar, zwei, die sich gesucht und gefunden haben, dachte Gadji abwechselnd auf Russisch und auf Deutsch.
Gernot liess beim Laufen einen Ball auf einem Tennisschläger hüpfen, während er lächelnd mit seiner Freundin redete. Die lachte und warf ihren Kopf zurück. Dabei entdeckte sie Gadji, der seine Nase an die Scheibe gedrückt hielt. Das Mädchen hob die Hand und winkte ihm zu, Gernot, dessen Blick der Geste gefolgt war, grüsste ebenfalls. Ein Berg kommt nicht mit einem anderen Berg zusammen, aber ein Mensch mit einem anderen, dachte Gadji ein russisches Sprichwort, diesmal nur auf Deutsch und – in einem Anflug von Neid.
Nach zwanzig Minuten stieg Gadji aus und lief durch die Strassen, die ihm mittlerweile fast vertraut waren. Zwei Monate war seine Familie jetzt in der DDR, zwei Monate in Berlin, zwei Monate in einem Stadtbezirk mit dem Namen Karlshorst. Ein grosses Gebiet darin nahmen Mehrfamilienhäuser und alten Villen ein, in denen die sowjetischen Offiziere mit ihren Familien wohnten und die Rote Armee ihr Hauptquartier in Deutschland hatte. Seit langem, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Es hatte eine eigene Logik, dass sich genau hier die Zentrale der Sowjetarmee befand: Hier steht die Villa, in der in der Nacht vom achten zum neunten Mai 1945 Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterschrieben hatte. Wilhelm Keitel wurde im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 gehenkt. Seitdem befindet sich in der Villa das so genannte Kapitulationsmuseum, in dessen Vorgarten eine Kanone und ein Panzer stehen. Beide Kriegsgeräte scheinen seit dem Kriegsende nicht sonderlich gepflegt worden zu sein. Das Haus und das Gelände ringsum bilden das Zentrum von Klein-Moskau, wie die deutschen Einwohner ringsum das Territorium nannten, das von den Angehörigen der Roten Armee bewohnt wurde. Ausserdem gab es eine weitläufige Kaserne und ein Krankenhausanlage, die von prächtigen Häusern aus der wilhelminischen Gründerzeit geprägt waren. Es war fremdes Land für die Deutschen, dieses Klein-Moskau.
Gadji hatte die breite Hermann-Duncker-Strasse verlassen und war in die Strassen geraten, die urdeutsche Namen tragen: Ehrenfelsstrasse, Loreleistrasse, Drachenfelsstrasse. Er würde sich noch erkundigen, welche Bedeutung diese Namen haben. Bisher war er nicht dazu gekommen.
Die meisten Häuser waren in den Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut worden, zur der Zeit, als Hitler in Deutschland herrschte. Sie beherbergten einst Beamte und ihre Familien, bis das Dritte Reich zusammenbrach und die Sowjets einzogen. Die Fassaden blätterten ab, die Fensterrahmen hätten dringend eines Anstrichs bedurft, die Fenster in vielen Wohnungen waren zerborsten und das Glas durch Pappe und Zeitungen ersetzt worden. Die Haustüren standen offen, oder es gab sie nicht mehr.
Gadji berührte das nicht. Gadji nahm es zur Kenntnis. Wie er auch die anderen Häuser, die am Rande von Klein-Moskau standen, wahrnahm. Sicher, die Deutschen sorgten sich um das Aussehen ihrer Häuser und Vorgärten und Treppen. Aber so abschätzig und hinter vorgehaltener Hand sie von Klein-Moskau sprachen, so wenig wussten sie von Moskau oder von Baku. Und sie wussten nichts vom Himmel über der Heimat, nichts vom Licht, das vom Kaspischen Meer in die Stadt reflektiert wurde. Die Wolken über Berlin sind nicht die Wolken, die über Baku dräuen, wenn sich ein Sturm über dem Kaspi-Meer zusammenbraut; wie schimmernder Stahl liegen sie tief, als wollten sie auf die Stadt fallen.
Jetzt lief Gadji nicht durch Karlshorst, sondern durch die Altstadt von Baku. Wo die Häuser sich ineinander verschachteln und die Hügel hinaufklettern, ein für den Fremden unübersichtliches Labyrinth. Staubig ist es, die wenigen Bäume werden in Töpfen gezogen und stehen in den schattigen Innenhöfen.
Gadji lief durch Gassen, in denen die Wäsche an Seilen, die von Haus zu Haus gespannt sind, trocknet. Aus einer der Hütten treten zwei Männer, deren Haupthaar straff nach hinten gekämmt und pomadisiert ist. Sie tragen blütenweisse Hemden und Schlipse und Anzüge aus einem leicht schimmernden Stoff. Gestikulierend und lachend und sich gegen die Schultern boxend laufen sie ein paar Meter, um sich in einen fabrikneuen Lada zu werfen und davonzubrausen. Fast scheint es, als liesse der Wind, denn die Wichtigtuer machen, die Wäsche über ihren Köpfen flattern.
Nein. Gadji lief durch das Viertel, das seit zwei Monaten seine Heimat sein sollte. Rodina, das Vaterland, würde es nie sein, niemals, nikogda.
Von der Ladefläche eines olivgrünen Ural-LKW wurden Kartoffeln verkauft. Eine Schar Kinder stob über die Strasse, mit Peng-Peng- und Stoij!-Rufen gewannen sie eine imaginäre Schlacht in einem Krieg, der grade nicht stattfand. Denn dafür seien sie in Deutschland, hatte der Vater ihm erklärt, dass nie wieder ein Krieg beginnt. Nie wieder ein Weltkrieg.
Zwei beleibte Frauen hielten im Gespräch inne, als Gadji an ihnen vorüberging. Ihr Duft stieg ihm in die Nasse, das fruchtige Parfüm, die Zwiebeln in den Einkaufstaschen und das Leder ihrer mongolischen Lederjacken.
Gadji trat durch das Halbdunkel einer Tordurchfahrt und gelangte auf den Hof, der ein verwilderter Park war. Auf einer Bank sassen zwei Männer und spielten Domino. Gadji entdeckte seine Schwester, die mit einer Katze im Arm über den Hof flanierte, als befände sie sich auf der Uferstrasse von Baku.
„Nesgir“, rief Gadji, „gdje Mama?“
„Nje snaju“, antwortete Nesgir. Sie streichelte die Katze, die sich anschmiegte und schnurrte. Die wüsste auch nicht, wo sich Gadjis Mutter sein könnte. Wahrscheinlich beim Einkauf? „Ja dumaju, ona w magasinje.“
„Tuij jedina?“
Nesgir nahm die Katze zwischen die Hände und legte sie sich über die linke Schulter. Da hing sie mit schlaffen Pfoten und hielt die Augen geschlossen, vergnügt, träge und weich.
„Nje odna!“ schimpfte die Schwester. „U menja jestj eta koschka!“
Das war bis zu dieser Sekunde richtig. Jetzt nicht mehr. Jetzt müsste Nesgir sagen, dass sie eine Katze gehabt hatte, denn die stiess sich plötzlich von ihrer Schulter ab, mit einer Kraft, die das Mädchen ins Taumeln brachte. Nesgir verlor das leichte Gleichgewicht ihrer fünf Jahre, fiel auf die Knie und fing an zu schniefen. Die Tränen, die flossen, waren weniger die Tränen des Schmerzes als die Tränen des trotzigen Ehrgeizes, mehr zu wollen, als sie schon konnte. Gadji wollte ihr aufhelfen, aber Nesgir stiess seine Hände beiseite.
„Koschka, koschka!“ rief sie bittend dem davonflitzenden Fell-Knäuel nach.
Gadji musste lachen. „Kak grjasnaja wjedma!“
Die Schwester rappelte sich auf, klopfte ihre blossen Knie ab und schniefte noch einmal in die Armbeuge. Sie schaute den Bruder trotzig und listig an, kratzte sich am Kopf, sehr ernst und sehr bedeutend, dann sagte sie: „I tuij, tuij drowosjek!“
„Drowosjek?“, fragte der Bruder. „Potschemu?“
„Potschemu nje drowosjek!“ * triumphierte Nesgir, lachte laut auf, drehte sich blitzgeschwind um und war fort.
Gadji schaute ihr lächelnd nach. Kakaja aktjora, kakaja koschka! Was für eine Schauspielerin, was für eine Katze sie doch war! Ob sie durch die Höfe in Berlin flitzte oder durch die Gassen von Baku. Ihr war die Welt ein Spielplatz, ein grosses Abenteuer! Am Montparnasse oder in Brooklyn, Baku oder in Karlshorst – Nesgir wäre überall die gleiche freche, verspielte Katze.
Gadji liebte seine Schwester Nesgir, er war stolz auf sie, und wenigstens war Heimat immer dort, wo Nesgir, die Mutter und der Vater waren.
Das Getrappel und Gelärme des Schultages war lange verklungen, als Werner Kotte im Korridor vor dem Sekretariat auf einer Holzbank sass. Ihre hohe, senkrecht stehende Lehne drückte in sein Kreuz. Es war keine Bank, die zum Verweilen einlud; der Lehrer wartete bereits seit zwanzig Minuten. Er schaute jenem Mann in das Gesicht, dessen Büste in einer Mauernische gegenüber platziert war: Alexander von Humboldt, der preussische Gelehrte und Entdeckungsreisende, nach dem die Schule benannt war.
Kotte konnte eindringlich schauen, Kotte konnte Fratzen machen, Kotte konnte dem Burschen in der Nische die Zunge rausstrecken – der reagierte nicht und blickte aus seinen marmornen Augen und liess den Betrachter wissen: In die Unsterblichkeit entrückt, geht mich deines Tages Mühsal nichts an. Unerreichbar ist mir, dem in die Ewigkeit umgezogenen Geist, deine Gegenwart. So wie dein lebender Geist gegenwärtig ist und die Vergangenheit niemals erreichen wird.
Endlich öffnete sich die Tür. Dr. Lautengässer stürzte aus dem Büro und rannte an Kotte vorbei. Klackklackklack hallten seine Schritte durch das leere Schulgebäude, klackklackklack, dann schlug die breite, gläserne Eingangstür in ihre Schloss.
Werner Kotte hatte nur Augen für die beiden, die jetzt in der Tür standen und ein ein bisschen verstört oder verlegen wirkten.
Christa Schaffners Gesicht war hochrot. Der vierschrötige Mann neben ihr verbeugte sich leicht, als er sich verabschiedete. „Seien Sie ein bisschen dezenter, Frau Schaffner“, sagte er. „Ich bitte Sie darum. Ich brauche Sie. Als Lehrerin sowieso. Und als – Mensch.“ Für einen Moment sah es aus, als wollte er die Hand der Frau küssen. Eine etwas lächerlich wirkende, unentschiedene Grandezza, fand Kotte. Nicht, dass er dem Direktor einer Schule wie dieser ein gewissermassen altmodisches und trotzdem reizendes Gebaren nicht zutrauen würde. Aber Erhard Eberlein gehörte Kottes Ansicht nach eher dem Kumpel-Typ an, der andere Menschen mit einem schweren Schlag auf die Schultern begrüsst und verabschiedet. Auch war Eberlein einer der Lehrer, von denen gesagt wurde, sie seien vom „alten Schlage“. Nach dem Zweiten Weltkrieg schnell zu Neulehrern ausgebildet, gingen sie ihren Berufsweg bis hin zum Posten des Direktors. Was weder im Guten noch im Schlechten etwas aussagte über ihre pädagogischen oder menschlichen Fähigkeiten. Viele von diesen Pädagogen gab es ohnehin nicht mehr, und ob man sie respektierte oder belächelte – Erhard Eberlein war von grundtiefer Anständigkeit.
„Sie werden erwartet“, sagte Eberlein. Er hatte Kotte bemerkt und sich gegen einen Handkuss entschieden. Vielleicht war ihm eingefallen, dass er noch nie einer Frau die Hand geküsst hat, ausser der eigenen. „Es ist gut, wenn man jemanden hat.“
„Sie haben Ihre Frau“, antwortete Christa.
„Sicher, sicher, ich habe mein Glück“, sagte der Direktor und schon im Umdrehen: „Auf Wiedersehen!“
Christa und Werner fielen sich in die Arme. Um diese nachmittägliche Zeit war weit und breit niemand zugange, der ihnen zuschauen könnte. Kotte spürte, wie seine Geliebte zusammensackte, schwer wurde in seinen Armen; die Anspannung fiel von ihr ab. Als es vor Stunden hiess, sie möge sich zu einem klärenden Gespräch mit Eberlein und Lautengässer einfinden, hatte sie trotzig gesagt: „Jetzt wird das freche Mädchen bestraft! Mal sehen, ob es bei fünf Peitschenhieben auf den nackten Arsch bleibt oder ob sie mich nach China ins Kohlebergwerk schicken!“
Kotte hatte entgegnet, dass sie manchmal aber wirklich übertreibe. Woraufhin sie ihn ansah und fragte, ob er, der grosse Lyrikfreund, vergessen habe, was eine Metapher sei oder was das stilistische Mittel der Ironie vermöge, etwa einen Umstand verdeutlichen könne, der … Ach, Schnickschnack, alles Schnickschnack jetzt! „Ich brauche einen Kognak“, flüsterte Christa.
„Auf denn“, sagte Kotte.
„Frag mich, wie es war!“, sagte sie.
„Wie war's?“
„Ekelhaft.“
„Du schweigst und duldest, und sie verstehn dich nicht“, sprach Kotte mit Hölderlins Zunge. Das war falsch, das war genau das Falsche. Christa stiess den Mann von sich und sagte wütend:„Quatsch mit Sauce! Ich schweige nicht. Ich dulde nicht. Und die haben mich sehr wohl verstanden. Du schweigst. Du duldest, Du verstehst dich nicht! Es wäre lieb von dir, du würdest mich, wenigstens jetzt, mit deinen Gedichten verschonen.“
Hilflos antwortete Kotte: „Es sind nicht meine Gedichte, es sind die von ...“
Christa Schaffner stöhnte auf. Von von von! Sie wusste schon, von wem. Jeder wusste es schliesslich, jeder, der auch nur eine Viertelstunde mit diesem Lyrik-Monster verbrachte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, hakte sich unter und sagte: „War ein bisschen viel für mich!“ Sie lachte, ein bisschen verkrampft, auch ein Lachen braucht Zeit, sich auf den Weg zu machen und anzukommen. „Kiekense nich so jeklatscht, Herr Kotte! Die haben mich weder gevierteilt noch vergewaltigt. Nur diesen ganzen ideologischen Kram, dieses Gewäsch von der revolutionären Wachsamkeit und der Richtigkeit des Weges – Herrgott, wie satt ich das alles habe!“
Sie verliessen das Schulgebäude und setzten sich in Kottes Wartburg, der unter dem Blätterdach einer Platane im Schatten stand; Kotte öffnete der Freundin die Tür und verbeugte sich, immer ihr Chauffeur, Gnädigste. Christa liess sich in den Sitz fallen, presste den Kopf gegen die Nackenstütze, seufzte und schloss die Augen. Kotte sah sie an. Er liebte sie, er liebte diese Frau über alle Massen. Er hatte auch schon andere Frauen geliebt. Und er glaubte nicht von sich, dass er allzu viel von Frauen verstand. Aber die Schaffner, die liebte er sehr.
Sie hatte seinen Blick bemerkt, die Augen geöffnet und lächelte ihn an. „Kottchen, ach Kottchen!“, sagte sie. „Kennst du den Unterschied zwischen einem Gedicht und einer werktätigen Frau?“
„Wird das ein Witz?“, knurrte er. Er hatte sich hinter das Lenkrad gesetzt und startete den Wagen noch nicht.
„Aber die Gemeinsamkeit kennst du? Zwischen den beiden?“
„Hör auf“, sagte er. „Ich habe auf dich gewartet. Ich will dir beistehen. Und du verscheisserst mich.“
„Die Gemeinsamkeit, um damit anzufangen“, fuhr sie fort, „besteht in der Form, in der Eleganz. An einer Frau darf weder zu viel noch zu wenig dran sein. An einem guten Gedicht auch nicht. Man könnte sagen: Eine Frau ist ein Gedicht.“
„Ich hab' gern ein bisschen mehr, mehr so Ballade?“, sagte Kotte. „Können wir jetzt fahren?“
„Der Unterschied besteht in der Interpretation des Inhalts. Beziehungsweise darin, dass ein Gedicht auseinander genommen und ausgelegt werden kann. Eine Frau nicht.“
„Dafür kann man sie hinlegen“, sagte er, drehte den Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und fuhr los. „Warum machst du nicht meinen Unterricht, und ich mache deinen?“, fragte er.
„Weisst du mit schiefen Ebenen Bescheid? Weisst du, wo ein Hebel anzusetzen ist, um mit minimalem Kraftaufwand etwas, sagen wir: die Welt, aus den Angeln zu heben?“
„Kleinigkeit“, antwortete Kotte. „Es braucht keinen Hebel. Ich muss nur warten, bis sie sich von selbst aus den Angeln hebt.“
„Wohin fahren wir?“, fragte Christa.
„Du wolltest doch zunächst einen Kognak trinken ...“
„Zunächst? Und dann?“
„Die Welt aus den Angeln heben, dass sie quietscht?“
Von ihrem Tisch im Café aus konnten Christa und Werner den Ausgang einer U-Bahn-Station betrachten. Im Fünf-Minuten-Takt stiegen Menschenmassen aus der Erde. Christa meinte, dass sie gern einmal in Paris sitzen würde. Mit einem ähnlichen Ausblick. Morgens. Vielleicht würde es sein wie in diesen leichten französischen Filmen. Jemand schiebt eine mobile Garderobenstange, an der Anzüge hängen, über die Strasse. Ein geschäftiger Mann hetzt zu einem Termin und verdrückt im Laufen einen Croissant. Im Café würden sie in Zweierreihen vor dem Tresen stehen und hastig aus kleinen Tassen starken Kaffee schlürfen. Und auf der Kreuzung würde ein Verrückter stehen, der den Verkehr regelt, während ein Gendarm heranschlendert, um ihm klarzumachen, dass er auf verlorenem Posten stehe. Nicht er, der Verrückte, sei für den reibungslosen Verkehr zuständig, sondern er, der Flic. Wir werden uns Paris anschauen, sagte Kotte, das weiss ich. Wenn ich Rentnerin bin, seufzte Christa. Schliesslich fragte Kotte:“Was wollten sie?“
„Ist nicht wichtig. Ich habe ihnen gesagt, dass sie keinen anderen haben, der unseren Idioten den Lehrsatz des Pythagoras erklären kann.“
„Und Lautengässer?“
„Hast ihn ja gesehen. Husch husch, weg war unser kleiner Dogmatiker. Nachdem er sich aufgeblasen hatte wie ein Luftballon beim Kindergeburtstag.“
Kotte lachte. „Die Luft war jedenfalls raus … Und Eberlein?“
„Der ist anders. Der ist nicht beleidigt wie ein Gartenzwerg, dem man die Schubkarre geklaut hat. Der kommt nicht gleich mit Landesverrat und Republikflucht und mit dem Wie-der-Herr-so-das-Gescherr-Gequatsche. Während Lautengässer ...“ Jetzt ahmte sie den Stabü-Lehrer nach, indem sie den Ton eines Kastraten traf: „'Es ist unverantwortlich, die Pädagogin Schaffner unseren Zöglingen zuzumuten.' Unseren Zöglingen! Warum sagte er nicht Sklaven? Oder Untertanen? Unverantwortlich ist es, diesen ideologischen Kasper vor die Mädels und Jungs zu lassen.“
„Und Eberlein?“
„Er versuchte, Lautengässer zu besänftigen. Vorsichtig, klar, immerhin. Er, Lautengässer, sei doch ein dialektisch denkender Mensch. Als solcher wisse er doch, dass Zeitungsberichte nicht das Nonplusultra der Wahrhaftigkeit seien. Niemals und nirgendwo. Gewissermassen.“
„Das hat Eberlein gesagt?“
„Und Lautengässer wieder: 'Zügellose Hetzkampagne der BRD! Roll back des Sozialismus! Genüssliche Frontberichterstattung der Ewiggestrigen!' Tja. Und Eberlein stand pötzlich auf, Tränen in den Augen, und trat ans Fenster. Und dann sagte er leise, sehr leise: 'Meine Tochter ist in Stuttgart. Seit drei Tagen.'“
„Nee?!“ Kotte verschluckte sich am Kaffee. „Tatsache?“
„Wunderst du dich?“
„Nein. Doch. Janeinjanein“, antwortete er. „Ich brauche jetzt auch einen Kognak.“
Christa sagte, dass es verboten sei, alkoholisiert Auto zu fahren. Es sei manches verboten, erwiderte er, zum Beispiel sei es verboten, die Republik unerlaubt zu verlassen. Nicht, dass du unter die Anarchisten fällst, flachste sie. Es genüge, entgegnete er, dass sie, die Naturwissenschaftlerin, wisse, wie man Molotow-Cocktails bastle. Das sei ein Leichtes, meinte sie, jedes Kind könnte das.
Eine Stunde später lagen sie nebeneinander und zogen abwechselnd an einer Zigarette. Kotte hatte anerkannt, dass Christa nicht gelogen hatte: Sie war überall am Körper braun wie Kakao. Sogar an Stellen, an die die Sonne nur gelangen konnte, wenn sie ihre Beine … Wie? fragte sie zurück. Du meinst, wenn ich sie in einem Winkel von so und so viel Grad spreize beziehungsweise krümme … So ungefähr, stimmte Kotte zu, und die beiden wiederholten das Spiel, das mit den Kommentaren Christas ein erfolgreiches physikalisch-chemisch-mathematisches Experiment wurde. Die Liebe hebt, die Liebe fällt, um zween Hintern dreht sich Welt, was nicht Friedrich Hölderlin reimte, sondern ein gewisser Werner Kotte, da er jung war und in der Postpubertät steckte wie ein Regenwurm am Angelhaken. Zwei Zeilen, die knapp aber hinreichend das Liebesspiel beschreiben, dessen Regeln die beiden Nackten erneut und neu aufstellten.
Dienstag, 5. September 1989
Der Sportlehrer Horst Kowalski, Ende Vierzig, der es beinahe einmal zu einer Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in der Disziplin Boxen (Bantamgewicht) gebracht hätte, war der festen Überzeugung, dass die Jugendlichen von heute verweichlicht waren. Wörter wie Disziplin und Kondition könnten die zwar schreiben, ansonsten. Kowalski wusste, dass seine Kolleginnen und Kollegen über ihn lächelten, wenn er, die Trillerpfeife am Band und um den Hals (wie eine eben erhaltene Medaille), das Lehrerzimmer betrat. Laut und fröhlich pflegte er „Sport frei!“ statt „Guten Morgen!“ zu rufen. Ein Ritual. Manchmal kam ein lahmes „Sport selber!“ zurück. Oder irgendjemand stöhnte und meinte, dass ein Mann, der sein Leben im Trainingsanzug verbrachte, eine optische Folter sei. Und dann schlug sich Kowalski vor die enorme Brust, dass es klang wie Paukenschlag, und sagte, dass es ihm oder ihr nicht schaden würde, wenigstens einmal in der Woche in einen Trainingsanzug zu steigen. Zwei-, dreimal in der Woche Sport, das würde Luther heute sagen, wie er ja auch gesagt hatte, dass es in der Ehe gut sei, zwei-, dreimal in der Woche beieinander zu liegen.Am liebsten blieb Host Kowalski sowieso in seinem Kabuff. Abgetrennt von der Turnhalle war die Luft in dem kleinen Separee durchtränkt vom Schweiss etlicher Schülergenerationen und vom Mief, der aus den in einer Ecke der Halle gestapelten Ledermatten stieg. Auf den Sonnenstrahlen, die durch die mit Gittern geschützte Fensterfront fielen, tanzten Staubflocken. In einem selbst gezimmerten Regal standen die Pokale, die Kowalski während seiner leistungssportlichen Laufbahn gewonnen hatte, daneben hingen die Urkunden dazu.
Das Regal war sein Altar. Vor dem stehend wartete er, bis die Schülerinnen und Schüler sich auf dem Parkett versammelt hatten, um dann elastischen Schrittes vor den Haufen der mehr oder weniger gelangweilten Mädchen und Jungen zu treten und zu verlangen, sie mögen sich gefälligst in Reih und Glied aufstellen. Dann trat Kowalski zwei Schritte zurück und schmetterte sein „Sport frei!“. Ein Ritual, das auch nach diesen Sommerferien stattfand. Dienstag, fünfte Stunde, vor der grossen Pause, Sport.
„Sport frei!“ kam das Echo schlaff. Peter Sandburg, der mit seiner vorwitzigen Klappe unbedingt vergessen machen wollte, dass er mit seinen 1,68 Metern der Kleinste der Klasse war, musste sagen: „Möchte mal wissen, was Sport mit Freiheit zu tun hat.“
„Sie werden das nie kapieren, Sandburg“, winkte Kowalski ab. „Weil sie nie in die Verlegenheit kommen werden, sich zu verausgaben. Zu merken, von welcher Lust der Schmerz der Muskeln sein kann. Zu spüren, wie die Lunge bebt, wenn die Luft scharf eindringt!“
„Übertreiben Sie nicht ein bisschen, Herr Kowalski!“ rief jemand aus der schief stehenden Formation.
Wieder winkte Kowalski ab. Wozu reden. Wer sich nicht nach körperlicher Betätigung sehnt, der soll doch lahm bleiben und schwitzen, wenn er nach drei Treppenstufen ächzend Halt machen muss. Auf dem Ohr war er taub. Kowalski hatte es sich längst abgewöhnt, von den alten Athenern zu schwärmen, von olympischen Idealen und von der Einheit eines gesunden Körpers und eines gesunden Geistes. „Volleyball!“, befahl er knapp. „Sandburg, Viehweger, Schulz und Schmidt spannen das Netz auf! Die Mädchen treten nach hinten weg und schnappen sich die Seile und Gymnastikbälle!“
„Nicht die eigenen!“, quakte Peter. „Hahaha!“ machten die Mädchen und verdrehten die Augen. „Pass nur auf deine Balls auf!“, rief eines der Mädchen, das ihren Arm gehoben hatte und mit zwei Fingern als Schere in die Luft schnitt, bevor sie ihren Arm hob, und mit den Fingern schnipste, um den Lehrer auf sich aufmerksam zu machen.
Kowalski wusste, was kommt. „Bitte!“, sagte er. „Ich höre.“
Das üppige Mädchen – zwei-, dreimal Sport in der Woche usw. wäre von hohem Nutzen – gab ihm den Bescheid, dass sie heute nicht könne. Niemand kicherte, weil dieses Spielchen nicht nur Kowalski kannte, sondern alle anderen auch. Horst Kowalski, ein Feind des weiblichen Geschlechts seit den Wochen, die er als Knabe in Trainingslagern verbrachte und die wechselseitige Gier der grad erwachenden Geschlechter abscheulich fand (weil sie von angestrebter Höchstleistung ablenkte), sagte gelangweilt: „Sie sollten im Guiness-Buch der Rekorde stehen, Fräulein Hohberg. Meines Wissens gibt es kein weibliches Wesen, das jede Woche dienstags die Monatsblutung hat.“ Der einstige Fastolympionike musste sich anstrengen, um bei dem Wort Monatsblutung nicht angewidert das Gesicht zu verziehen.
Sylvia Hohberg klapperte mit den Augendeckeln, zog die Schultern hoch, liess sie schicksalsergeben fallen. Was soll ich da machen, Herr Kowalski. Sie betrachtete sich als vom Sportunterricht befreit – reine Routine die ganze Nummer – drehte sich um und ging mit schlingernden Hüften zu den Matten in der Ecke. Einer der Jungs pfiff dem Mädchen hinterher. Widerlich, fand Kowalski, widerlich diese saftlose Kraftmeierei! Und er meinte beide: das Mädchen und den Jungen
Die Reihe löste sich auf, jeder wusste, was er zu tun hatte und was er nicht tun würde. Die meisten in der Klasse meinten ohnehin, dass Sport Mord sei und Schweiss das übelst riechende Deodorant der Welt.
Gernot Klinkermann teilte die Mannschaften ein. Das war seine Rolle, schon immer. Er war auf die Welt gekommen, um ein Anführer zu sein. Ein Alpha-Tier. Was er sagte und tat, war und würde immer sein: von der ausschliesslichen Bestimmtheit und von dem Magnetismus desjenigen, der berufen ist, später eine wichtige Position in Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur einzunehmen. Eine selbstverständliche Führungsrolle. Einer von denen, in deren Wiege alles gelegt worden war, was die Natur üblicherweise auf mehrere Menschen verteilte. Er war ein guter Sportler, er spielte in der Schulband Saxophon, er sah gut aus.
Als die Mannschaften gebildet waren, blieb ein Junge übrig. Gadji Muuslimsade. Er stand am Rande des Spielfeldes.
„He, Gadji“, rief Gernot, „geh auf die Zwei. Position Zwei.“
„Da stehe ich!“, beschwerte sich Peter Sandburg, der seinen Platz vor dem Netz eingenommen hatte. Ausserdem stand er nicht mal in Gernots Mannschaft, sondern beim Gegner.
„Bis eben“, sagte Gernot.
„Du kannst nicht einfach ...“
„Zwei Argumente, nein drei. Erstens hast du sowieso nicht wirklich Lust aufs Spiel. Zweitens ist Gadji fast zwanzig Zentimeter grösser. Und drittens – sind wir gastfreundlich oder nicht?“
Gadji zögerte. Er schaute zu Peter, zu Gernot. Er kannte die Rollen, die jeder spielte, noch nicht; er konnte sie noch nicht kennen.
„Worauf wartest du, russischer Freund“, plärrte jetzt Sandburg. „Befehl vom grossen Natschalnik Klinkermann!“ Peter trat zurück und machte Platz für den Neuen. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, seinen Platz am Spielrand als Einwechselspieler zu kommentieren: „Kennen die Russen überhaupt Volleyball?“
Der Sportlehrer war auf einen Hochstuhl geklettert und pfiff die Partie an.
Gernot hatte die erste Angabe. Er tippte den Ball ein paar Mal aufs Parkett, fing ihn wieder auf, fixierte das Feld jenseits des Netzes. Warf den Ball hoch, beugte sich im Kreuz, federte in den Knien und schlug ihn hart übers Netz.
Niemand der Jungs in der Gegenmannschaft gab sich ernstlich Mühe, das Geschoss anzunehmen. Jeder wusste, Gernots Aufschläge zertrümmern einem beinahe die Handgelenke, und der Ball würde, wenn ihn jemand abgefangen, irgendwohin fliegen, nur nicht dahin, wo ein Mitspieler ihn erreichte.
Im Nu stand es Vier zu Null für Gernots Mannschaft. Niemand regte sich darüber auf. Das war das Spiel, solange sie Volleyball spielten und solange Gernot mit dem Spüiel Ernst machte.
„Hehe!“, rief der Sportlehrer. „Pennt nicht ein!“ Auch diese Aufforderung gehörte zum Spiel, tausendmal gehört und nie gestört. Gernots Mannschaft zog unaufhaltsam davon.
Auf beiden Seiten des Netzes pritschten, baggerten und schmetterten die Jungs den Ball.
Doch das Spiel kippte, fast unmerklich. Ein paar Mal ging ein Raunen durch die Mannschaften: als Gadji nach einem für unerreichbar gehaltenen Ball hechtete, seine Arme unter ihn und zurück ins Spiel brachte.
Als Gadji hochsprang und den Ball ins gegnerische Feld schmetterte: aus einem schier unmöglichen Winkel. Auch wenn der Ball die Netzkante berührte, er prallte aufs Parkett des Gegners. Und jedes Mal war Gadji blitzschnell auf den Beinen, gab präzise Pässe, wenn er nicht in der Angreiferposition war, auch wenn die Mitspieler davon überrascht waren und unbeholfen mit dem Ball umgingen.
Beim sechsten Aufschlag Gernots hatte sich Gadji zurückgezogen. Zwischen Position Eins und Position Sechs federte er hin und her. Als der Ball kam, baggerte er ihn sofort ins gegnerische Geld zurück. In eine Lücke. Niemand in Gernots Mannschaft hatte damit gerechnet, dass der Aufschlag abgenommen und so genau zurückkommen würde. Aufschlagwechsel. Endlich hatte die Mannschaft, in der Gadji spielte, Aufschlag.
Und Gadji war es, der den ersten Punkt einfuhr. Als Gernot aufstieg, um den Ball übers Netz zu schmettern – standen Gadjis Hände wie ein Brett überm Netz. Der Ball, abgeblockt, schlug scharf und schnell beim Gegner ein. Die Jungs und der Sportlehrer trauten ihren Augen nicht. In der Folge gewann Gernots Mannschaft den ersten Satz mit Siebzehn zu Fünfzehn. Aber sie hatte mehr Mühe als jemals zuvor.
Als die Mannschaften die Seiten wechselten, streiften sich beim Feldwechsel Gadji und Gernot beinahe. „He“, meinte Gernot, „Respekt, Alter!“
Und Kowalski fragte: “Wo haben Sie das gelernt?“
„In einer Sporthalle“, antwortete Gadji gleichmütig. Vielleicht glaubten die Deutschen, dass es weit im Osten nur Steppe, Wölfe, saures Gras und krumm wachsende Birken gab, aber nicht Sporthallen und Volleybälle.
Der zweite Satz. Langsam wurde es allen klar: Das wurde nicht das übliche Spiel wurde. Gadji hechtete. Gadji sprang. Gadji schmetterte. Er riss die Jungs in seiner Mannschaft mit. Selbst Sandburg, der Kleinste unter ihnen, trug dazu bei, dass die Mannschaft den zweiten Satz gewann. Es braucht beim Volleyball nicht nur die langen Burschen. Es braucht auch die, die schnell am Boden sind, die wieselflink nach Bällen laufen und passen können.
Kowalskis Kopf ging hin und her. Was war in die Kerle gefahren? Sie würden sich noch die Knochen brechen bei diesem Einsatz. Als Sandburg nach einem Ball flitzte, den ein Mitspieler unglücklich auf die Unterarme bekam und weit in die Turnhalle abprallen liess, als Sandburg nach ihm rannte als wäre der seine entweichende Seele und sogar so zurückbaggern konnte, dass Gadji den Ball mit einem Schmetterschlag zum Sieg im zweiten Satz verwandelte – da gerieten die Jungs ausser Rand und Band. Sie hüpften um sich herum. Sie schlugen sich auf die Schultern. Sie boxten sich vor Begeisterung vor die Brust. Gadji klatschte Peter mit der Hand ab und sagte: „Molodjez!“ Und Peter stand da wie ein Bengel von sechs Jahren, den der Vater das erste Mal in seinem Leben lobte, dass er endlich seine Schnürsenkel allein binden konnte.
„Gratuliere!“, sagte Gernot, als er an Gadji vorbei unter dem Netz die Seite wechselte.
Horst Kowalski, der einstige Boxer und kein genialer Psychologe, gab seinen Senf dazu. „Tja, Klinkermann! Jeder Champion findet mal seinen Meister!“
„Sie müssen das ja wissen“, entgegnete der Schüler.
„Ärgern Sie sich etwa?“, fragte Kowalski zurück.
„Falls Sie das für eine Art Motivationstraining halten“, erwiderte Gernot und führte den Satz nicht zu Ende.
Die Mädchen waren auf das Spiel aufmerksam geworden. Sie liessen die Bälle und Reifen fallen und lagerten sich um das Spielfeld. Selbst Sylvia Hohberg, die Bathseba des Abiturjahrgangs mit allwöchentlicher Menstruation, zeigte sich interessiert.
Gernots Freundin, die blonde Vera, tuschelte mit einem der Mädchen. Sie lachten leise über etwas, das sie mehr zu beschäftigen schien als ein blödes Volleyballspiel. Aber auch sie schauten zu, als der dritte Satz begann.
Verbissen kämpften jetzt die Jungs. Es war das erste Mal, dass eine Mannschaft, in der nicht Gernot spielte, eine Chance hatte. Und diese Chance hatte sie wegen dieses Russen oder Halbchinesen bekommen. Er war Gernot ebenbürtig. Sogar besser, vielleicht?
Während Gernot das Spiel immer nur auf sich bezog, verteilte Gadji die Bälle klug. Er verstand es, seinen Mitspielern zu ziegen, was sie zu tun hatten. Und sie verstanden ihn. Vor allem Peter Sandburg, der während des Spiels um einige Zentimeter zu wachsen schien.
Die Mädchen waren unparteiisch. Sie beklatschten jeden gelungenen Ball. Sie begeisterten sich an der Leidenschaft der Jungs, die auf eine bisher ungekannte Weise entfesselt spielten. Sie waren wie Kinder – die Mädchen, die Jungs, es war ein unschuldiges Spiel, in dem es nur darum ging, sich geschmeidig zu bewegen, ernsthaft interessiert zu sein, ein bisschen ehrgeizig auch, aber vor allem – einen Spass zu haben, der niemanden verletzte, niemanden einschränkte, niemanden dastehen liess als Verlierer. Auch wenn eine Mannschaft am Ende verlieren musste.
Nur Vera spürte, dass da noch was anderes war. Mal lag eine Mannschaft zwei Punkte zurück, mal hatte sie aufgeholt. Hin und her ging es. Das Spiel wurde, spürte Vera, mehr und mehr zu einem Duell zwischen Gernot und Gadji. Alle anderen mochten klatschen, Ah und Oh schreien und diese Angelegenheit allgemein betrachten. Vera kannte Gernot seitdem sie in der neunten Klasse in der Erweiterten Oberschule in dieselbe Klasse kamen. Vera und Gernot – das war ein Pärchen, das zusammengehörte, seitdem der eine auf die andere, die eine auf den anderen getroffen waren.
Vera betrachtete das Spiel anders. Konkreter. Sie spürte, dass Gernots Mannschaft am Verlieren war. Sie spürte, dass Gernot am Verlieren war. Eine ungewöhnliche Situation für ihn, gewissermassen die Nummer Sieben in einem Spiel, die keine Position Sieben kennt.
Es klingelte zur Pause, doch niemand hörte auf. Es stand Fünfzehn zu Fünfzehn, es stand Siebzehn zu Siebzehn. Bis Gadji auf der Position Eins seine Anschläge machte. Was das Spiel für ihn bedeutete, hätte niemand zu sagen gewusst. Sie kannten ihn nicht. Nur Peter Sandburg stand da, hatte die Unterlippe zwischen die Zähne genommen und wirkte angespannt wie ein Kind, das auf den Weihnachtsmann wartet. Er hatte eine Rechnung offen – mit dem Grossen Meister auf der Gegenseite.
Gadji beendete das Spiel! Er schlug zwei Angaben hintereinander in das Feld der anderen, ohne dass irgendwer an den Ball herankam. „Mann, ich glaub's einfach nicht!“, rief Sandburg, ging in die Knie und stiess die linke Faust in den Hallen-Himmel.
Gernot nahm den Ball und trat ihn wütend gegen das Hallendach. Dann zerrte er sich im Gehen das Trikot vom Leib und verschwand zur Dusche. Auch die anderen machten sich auf den Weg, ihre Kleidung zu wechseln. Zwei Unterrichtstunden gab es noch. Staatsbürgerkunde und Russisch.
Plötzlich standen Vera und Gadji allein in der Halle. Kowalski hatte sich in sein Kabuff verdrückt, wo er entweder seine Urkunden zärtlich abputzte oder eine Stulle mit Leberwurst ass.
„Guter Spieler“, sagte Gadji verlegen. „Dein Freund.“
„Er verliert nicht gern“, sagte Vera.
„Wer verliert schon gern?“
„Kann nicht jeder gewinnen ...“
„Mal so, mal so“, sagte Gadji. „Ich muss jetzt duschen. Wie sagt man: Ich ...“
„Schwitze?“, hilft Vera.
„Totschno. Genau. Ich schwitze.“ *
Kurz vor sechzehn Uhr schloss Vera die Wohnung auf. Es war fast ein Jahr her, dass der Vater ausgezogen war. Das Mädchen hielt jedes Mal, bevor sie durch den Flur ging, für einen Moment inne, weil sie einen Ruf, ein Geräusch, die Töne einer Musik erhoffte. Irgendein akustisches Signal, dass jemand zuhause war. Jemand? Der Vater. Aber da war nichts, fast nichts.
Vera sog den Geruch der Wohnung ein. Jede Wohnung hat ihren eigenen; die Räume, in denen sie und ihre Mutter seit zwei Jahren ohne den Mann wohnten, war durchdrungen von einem Gemisch aus einem zitronigen, rauchigen Shampoo, von vor Stunden gebratenem Fleisches, von aufgeschnittenen Äpfeln und Zwiebeln; Luft, die eben frisch vom Balkon aus die Zimmer durchwehte, und eine Wolke, die aus gewaschenen und gebügelten Stoffen aufgestiegen war und sich ausgebreitet hatte; bis in jede Ecke.
Vera liess das Schlüsselbund auf die Kommode im Flur fallen und nahm den Zettel, der auf der Marmorplatte lag, in die Hand. „Mach dir die Suppe warm“, stand darauf. „Es wird spät. Kuss auf dich, Mama“. Vera verdrehte die Augen; Mama!
Sie ging in ihr Zimmer und heftete den Zettel zu den vielen anderen in einen Ordner. Den hatte sie angelegt, weil sie eines Tages – vielleicht, wenn sie selber Mutter sein würde oder vielleicht auch nur, um die Nachrichten der Mutter zu einem runden Geburtstag zurückzuschenken –, eines Tages, war Veras Idee, würde sie in diesen Meldungen blättern und sich erinnern, wie das Leben gewesen war. Teilweise. Und die Verständigung zwischen ihr und ihrer Mutter. Auch teilweise.
In den letzten drei Monaten hatte die Zettelwirtschaft zugenommen, weil ‚Mama' fast jeden Tag zu irgendwelchen Treffen lief. Es müsse sich im Lande was ändern, hatte sie erklärt. Die Zeit sei reif. Es gäbe genügend Menschen, die inzwischen ihr Herz in die Hand nehmen und Widerstand leisten und die Verhältnisse verbessern wollten.
Ob das nicht ein bisschen sehr pathetisch sei, hatte Vera gefragt. Herz in die Hand! Besser, so ein Herz bleibt in der Brust und schlägt kräftig und viele Jahre! Und Widerstand – wogegen denn, Mama?
Ich sag's mal anders, hatte die Mutter geantwortet. Nennen wir es nicht Widerstand, nennen wir es Protest. Oder Forderung. Forderung für. Für wirkliche Meinungsfreiheit. Für Reisefreiheit. Dafür, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, wie und wo er leben will.
Vera wollte davon nichts wissen. Sie fühlte sich nicht unfrei. Dass die Zeitungen logen, dass das Fernsehen log, dass Doktor Lautengässer, ihr Stabü- und Geschichtslehrer, ein Arsch mit Ohren war – Gottchen, ja, so war es eben. Aber wer regte sich darüber auf? Kriegte man nicht Pickel, wenn man sich zu sehr aufregte? Oder einen Herzkasper?
In ihrem Freundeskreis war niemand, der sich sonderlich für Politisches interessierte. Ausser vielleicht Gernot. Es war doch klar, dass überall geschwindelt wurde. Überall auf der Welt. Vielleicht gab es Stämme in Afrika oder im südamerikanischen Urwald oder bei den Eskimos, wo es Sünde war und bestraft wurde, wenn jemand flunkerte. Aber hier, mitten in Europa – na halloballo!
Was soll's! Vera warf den Rucksack aufs Bett, schnappte sich eine Kassette und legte sie in den Recorder. Guns N' Roses spielten. Patience. Was a time when I wasn't sure. Vera drehte auf, volle Pulle. Girl, I think about you every day now/I'm still alright to smile. Mochte der alte Burchardt in der Wohnung über ihnen schimpfen. Der Alte drehte selber am Rad, wenn er vor dem Fernseher sass und das Geseiere nur verstand, wenn er aufdrehte bis zum Anschlag.
Vera ging in die Küche. Sie schnupperte am Topf, der auf dem Herd stand. Bohnensuppe. Tolle Suppe. Ihre Mutter konnte kochen, richtig gut kochen, überhaupt. Aber Vera wollte keine Bohnensuppe. Sie schaute in den Kühlschrank, nahm eine Britzer Wurst raus und schnitt sich ein paar Scheibchen ab. Sie hörte die Musik. If I can't have you right now, I'll wait dear/Sometimes, I get so tense/But I can't speed up the time, während sie durch die Wohnung lief. Wenn ich dich jetzt nicht haben kann, werde ich lieber warten. Sie kaute auf der Wurst, während sie ins Wohnzimmer lief und das Fernsehgerät einschaltete. Ich kann die Zeit sowieso nicht beschleunigen. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines Brillenträgers. Der Mann schaute ernst und sagte grade:
„ … angesichts der wütenden Anti-DDR-Kampagne ist es allerdings schwer vorstellbar, dass jene, die sie entfesselt haben, an der Bewahrung oder gar am Ausbau des Erreichten interessiert sind. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Und die Gründe dafür kann man weder konstruktiv noch realistisch, noch vernünftig nennen …“ Blablabla! Vera schaltete um.
Euphorisierte Menschen kamen auf einem Bahnsteig an, machten mit den Fingern das Victory-Zeichen und stammelten in die Mikrofone „Wahnsinn! Wahnsinn!“, als wären sie von einem Bakterium befallen, das ihnen den Wortschatz weggeknabbert und nur dieses eine Wort übrig gelassen hatte. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, kein Mensch auf der Welt, dass das Wort 'Wahnsinn' in diesem Jahr 1989 noch eine Wahnsinnskarriere machen würde.
Vera ging durch den Kopf, was ihre Mutter ihr erst vor ein paar Tagen gesagt hatte.
Sie fürchte sich davor, dass die meisten Menschen in der DDR nur eine Sache wollten: Bananen, Barbie-Puppen, ein schnelles Auto, Sangria saufen auf Mallorca. Dass sie ihre Heimat aufgeben würden für Materielles, und dass der Westen niemals eine Alternative sein könnte, das müsste doch jeder wissen, der ein bisschen nachdenkt.
Das seien immerhin schon vier Sachen, hatte das Mädchen ihr selber entgegnet. Und schlimm könnte sie es auch nicht finden, dass die Leute in ihrem Leben das haben wollten, was ihre deutschen Nachbarn schon lange hatten. Auch sie würde lieber daheim bleiben, fände es aber nicht übel, könnte man beispielsweise Platten von Guns 'N Roses kaufen und müsste die Musik nicht aus dem Radio aufnehmen. Ausserdem spreche sie, die Mutter, ja genau so wie Doktor Lautengässer. Der habe denselben verachtungsvollen Ton in der Stimme, wenn er über die Verräter spreche, über die gesellschaftlich Desinteressierten, als wären die Flüchtlinge nicht auch Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen mit Sehnsüchten und Träumen. Oder ob sie, Victoria Lothringen, liebste Mutter mein, etwa meine, dass die Träume des einen wertvoller seien als die Träume eines anderen.
Vera wusste, dass ihre Mutter ausflippen würde, wenn die Tochter sie mit Lautengässer vergliche. Alles, was die Enddreissigerin verachtete, verkörperte dieser Lehrer in ihren Augen. Die Weltsicht einer Bulldogge. Die Engstirnigkeit eines Regenwurms. Die Sturheit eines Esels. Die Aggressivität eines Skorpions. Es war seltsam, fand Vera, wenn sie es recht überlegte, dass die Mutter und der Lehrer fast die gleichen Wörter gebrauchten, obwohl sie doch etwas völlig anderes meinten. Es war seltsam, dass die beiden Erwachsenen gleichermassen für das Land DDR eintraten – nur dass Victoria Lothringen gewiss eine andere DDR meinte als Doktor Lautengässer. Und welche DDR ich meine, dachte Vera grimmig, das interessiert keine Sau. Need a little patience, yeah/Just a little patience, yeah. Ausserdem weiss ich es selber nicht. Just a little patience, yeah.
Das Telefon klingelte. Vera wischte die Finger an der Jeans ab und griff nach dem Hörer. „Lothringen“, meldete sie sich. Ihr Gesicht hellte sich auf, sie sah es im Spiegel, der über der Kommode hing.
„Ach, Gernot … Warte mal. Ich nehm dich mit aufs Sofa.“ Die Schnur war lang genug, Vera konnte in die Stube gehen und sich auf die Couch legen. Sie stellte den Apparat auf ihren Bauch und entgegnete auf eine anzügliche Bemerkung ihres Freundes: „Grosses Ferkel Gernotchen … Nein, ich will heute früh ins Bett ...“ Sie errötete leicht und kicherte. „Blödmann!“ Ein Weilchen hörte sie zu, schüttelte den Kopf, nickte, um schliesslich zu sagen: „Gut, ich komme. Aber du weisst, dass ich es ziemlich albern finde. Ausserdem gruselt's mich. Okay, bis gleich!“
Vera ging in ihr Zimmer und kleidete sich um. Ein Chor sang zu Phil Collins Oh, think twice/It's just another day for you in paradise/Oh, think twice/It's just another day for you/You and me in paradise. Das Mädchen tauschte die Jeans gegen schwarze Pantalons, die knallgelbe Bluse gegen ein schwarzes Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Dann legte Vera ein Makeup auf, das aus dem frischen, hellen Gesicht die bleiche Larve einer schwerkranken, blutarmen Bettlägrigen machte. Das blonde Haar häufte sie auf und versteifte ein paar Strähnen mit einem Gel, sodass sie zu Stacheln wurden. Während sie sich verkleidete, übte sie Grimassen. Am besten, fand Vera, gelang ihr der Ausdruck tödlicher Tristesse. Als sie mit ihrem Outfit zufrieden war, zog sie aus dem Schrank einen Schlafsack, nahm dem Kühlschrank eine Konservendose mit Rotwurst weg und verliess die Wohnung. Nicht, ohne vorher der Mama einen Zettel auf die Flur-Kommode hinzulegen. „Komme später, warte nicht auf mich. Suppe esse ich morgen, Küsschen, das Kleinkind“. *
Sie waren kaum wieder zu erkennen. Vera, Gernot, Peter Sandburg, Sylvia Hohberg, Mark Viehweger und Maria Breitling – die Clique. Zu der gehörten auch Karla Endlicher und Wolfgang Kahnert. Die aber fehlten, entschuldigt oder unentschuldigt – sie waren grad nicht erreichbar. Sie waren aus den Sommerferien nicht heimgekehrt; sie waren über Ungarn in den Westen gegangen. Und so zogen die sechs Hinterbliebenen als bleiche, krumm und kraftlos schleichende Gespenster durch die Strassen Karlshorsts, bis sie den Rand des Friedhofes erreichten und durch einen Zaun schlüpften. Der Weg führte sie an einem kleinen See vorbei. Am anderen Ufer lag das Gelände mit der Kaserne und einem Übungsplatz der Roten Armee.
Sie liefen in Gänsereihe, schweigend und die anbrechende Dunkelheit und den Duft des Mischwaldes mit allen Poren einsaugend. Sie hatten sich gehäutet. Sie hatten sich in Wesen verwandelt, die die Nacht trinken und den Mond essen wollen.
Die Tage waren kürzer geworden, erstes Laub raschelt unter ihren Füssen. Oder ist es das Laub des vorigen Jahres, des vorvorigen Jahres? Plötzlich stockte die Kolonne. Gernot, an der Spitze laufend, hatte die Rechte erhoben und zeigte auf etwas, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte und ihn innehalten liess: Gadji, dieser Muuslimadse, stand, scharf konturiert gegen das Licht der Abendsonne, auf einem Steg. Zu seinen Füssen ein Eimer, in seinen Händen eine Angel. Aber da waren noch drei andere Jungs. Die liefen über den Steg auf Gadji zu und bauten sich vor ihm auf.
„Russen?“, fragte Peter leise.
„Pscht!“, machte Gernot.
Sie hatten seit sieben Jahren Russisch-Unterricht und verstanden trotzdem nicht ein Wort von dem, was zwischen den vier Jungmännern auf dem Steg verhandelt wurde. Eine friedliche Angelegenheit war es nicht, das konnten sie sehen. Augenscheinlich wurde von Gadji verlangt, dass er seinen Fang herausgibt, oder sie wollten irgendetwas anderes von ihm.
Gadji schüttelte den Kopf. Er würde nichts hergeben, was auch immer es sei. Einer der Jungs griff nach Gadjis Hemdkragen, Gadji wich zurück, soweit er konnte, bis an den Rand des Stegs. Er schüttelte wieder den Kopf. Von ihm würden sie nichts kriegen, schon gar nicht gezwungenermassen.
„Was wollen die von ihm?“, fragte Maria, deren rote Mähne unter einem Turban versteckt war und ihren Kopf in einen Glatzkopf verwandelt hatte.
„In Russland herrscht Hunger“, gab Peter zur Antwort. „Fische klauen und den Verwandten schicken, schätze ich mal.“
„Du bist wirklich ein Arschloch!“ Ob als Banknachbarin in der Schule, ob am Abend als Grufti – unreife Knaben brauchen nun mal Jahre, ehe sie als vollwertige Partner in Betracht gezogen werden können. Falls überhaupt jemals, und wenn sie nicht noch ein paar Zentimeter wachsen, gingen ihre Chancen ohnehin gegen Null.
„Ich glaube, Gadji braucht Hilfe“, sagte Vera. „Gernot?“
Der sah seine Freundin an, schaute zum Steg, schüttelte den Kopf. Was da geschah, war deren Angelegenheit. Russen, Mongolen, Kasachen, Asiaten – weiss der Kuckuck, woher die kamen! Er hatte in den Ferien an der Küste das Schwarzen Meeres zweimal erlebt, wie schnell die sich prügelten. Wie rasch Messer gezogen wurden und es überhaupt nicht klar war, wer Schuld war oder worum es überhaupt ging. Nein, sie würden sich nicht einmischen.
„Ein Messer?“, sagte Sylvia Hohberg erschrocken.
„Die machen den alle“, sagte Peter.
„Ich geh da jetzt hin!“
„Du bleibst hier. Wie wir alle. Hörst du, Vera? Das ist nicht unser Ding!“
„Ich guck doch nicht zu, wie einer abgestochen wird“, riss sich Vera von Gernot, der sie am Ärmel des teerschwarzen Hemdes festhielt, los.
Aber sie mussten nicht eingreifen. Blitzschnell hatte auch Gadji ein Messer gezogen, liess es, fast spielerisch, artistisch, von einer Hand in die andere gleiten, nahm es an der Spitze und warf es an den drei Angreifern vorbei. Zittern blieb es in der Rinde eines Baumes stecken.
„Der ist verrückt“, murmelte Sylvia. „Der macht sich selber nackig.“
„Mir reicht's“, sagte Vera. Alles Weitere geschah so rasch, dass später niemand genau zu sagen wüsste, wie es geschah. Blitzschnelle Bewegungen, und plötzlich stand Gadji allein auf dem Steg. Er hatte die drei Angreifer weggefegt. Zwei der Burschen schlugen im Wasser wild um sich, der dritte war auf die Knie gegangen und krümmte sich. Gadji tippte ihn leicht an, und auch der plumpste in den See. Gadji spuckte ins Wasser, nahm den Eimer und schlenderte zu dem Baum, in dem das Messer steckte. Er zog es heraus und wischte es an der Hose ab.
„Weiter!“
Aber diesmal hörte niemand auf den Grossen Meister Gernot Klinkermann. Sie starrten auf Gadji, der, den Kopf gesenkt und den Blick am Boden hielt, den Steg verliess und auf dem Weg an ihnen vorbei musste. Abrupt blieb er stehen, sein Körper straffte sich, dann trat ein Lächeln auf sein Gesicht. Gadji entspannte sich, als er erkannt hatte, wer die schwarzen Gestalten waren und ihn angafften. Sein Blick ging von Gernot zu Vera; das Mädchen hielt dem Blick nicht stand und schlug die Augen nieder.
„Wo hast du das gelernt?“, fragte Peter und nickte mit dem Kopf zum See.
Grad schlugen sich die drei Burschen seitwärts in das Schilf. Der See kräuselte sich ein bisschen und hatte den Vorfall schon vergessen.
„Im Gefängnis.“ Gadji grinste. Er war er noch in einem Gefängnis. Aber eines hat er in der kurzen Zeit seines Lebens in der DDR begriffen: Die Deutschen halten die Sowjetunion für ein Land, in dem sich Steppe, Zwangslager und rauhe Landessitten abwechseln, wo in jeder Hütte Schnaps gebrannt wird, Schnaps, der den Trinkenden blind macht und früh ins Grab bringt. Ausserdem spielen sie immerzu Balalaika und singen schwermütige Lieder. Und das alles auf einem Territorium, in dem Deutschland verschwinden würde wie ein Bärenfurz im Schneesturm.
„Und ihr?“, fragte Gadji noch immer grinsend. „Spielt ihr Totsein oder was?“
„Wir lieben den Tod“, antwortete Peter Sandburg grabesduster. „Wir verehren ihn. Wir himmeln ihn an.“
Gadjis Lächeln – weggewischt. „Kein Mensch liebt den Tod.“. Wieder schaute Gadji Vera in die Augen. Diesmal hielt sie dem Blick stand. „Tuij ponimajesch? Nikto nje ljubit smert, smert nje igruij jest.“ Ja, sie verstand. Wort für Wort. Niemand liebt den Tod. Der Tod ist kein Spiel. Sieben Jahre Russisch, ein bisschen versteht man doch.
Vera nickte und schaute dem Jungen hinterher, wie er, den Eimer mit Fischen im Wasser, dem Pfad durch das hohe Gras und die niedrigen Büsche folgte.
„Was hat er gesagt?“, fragte Peter. „Die Sprache werde ich nie kapieren!“
Niemand liebt den Tod. Der Tod ist kein Spiel. Vera gingen die Sätze im Kopf um, während sie weitermarschierten auf ihrem Weg zum Friedhof.
Niemand von ihnen schlief daheim in einem Sarg. Niemand hatte den Fussboden seines Zimmers mit Erde bedeckt und Gras gesät. Sie sehnten sich nicht nach dem Tod. Sie dachten nicht mal ernsthaft über ihn nach. Er war etwas, das kommen würde, ganz gewiss. Irgendwann in hundert Jahren. Warum an ihn denken, und warum nicht ein reizvolles Spiel daraus machen, so zu tun, als gedachten sie des Gevatters Hein, der mit den Knochen klappert und die Sense über der Schulter trägt?
Ausserdem: Der Tod steht immerzu in der Zeitung. Unfälle, Katastrophen, Kriege, Verbrechen, Krankheiten. Überall findet er statt, nur nicht hier. Irgendwo findet er statt, es schien, als hätten sich die Menschen an ihn gewöhnt, so selbstverständlich trat er in den Meldungen auf, so wehrlos schienen die Menschen gegen ihn zu sein. Warum sich nicht zwischen Grabsteine legen, den Mond anstarren, die Sterne, und zwei Flaschen Wein leeren? Auf das Leben! Der Tod war schön gruselig.
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Eine Gruft, gross wie eine Laube, deren Tür ausgehängt war und schief gegen einen Pfosten des Eingangs stand. Gernot setzte sich auf einen Grabstein, in den der Name Wilhelm Leimer eingemeisselt war. Der Leimer hatte von 1925 bis 1974 gelebt, nicht sehr lange, wie sie fanden. Bei früheren Besuchen hatten sie gerätselt, woran er gestorben sein könnte. Ein Vergnügen, das seinen Reiz verlor. Der Mensch kann an allem Möglichen und Unmöglichen sterben. Was keine grossartige Entdeckung war.
Gernot öffnete eine Flasche Wein und zündete zwei Zigaretten an. Eine gab er Vera, die vor ihm sass und ihren Kopf an seine Knie gelehnt hatte, an der anderen zog er selbst. Ein paar Meter weiter kicherte Sylvia. Es gefiel ihr, dass Sandburg an ihr ein bisschen rumfummelte. Viehweger und Maria hatten sich ein Stück abseits auf einen Hügel gesetzt und sich in ein murmelndes Gespräch vertieft.
„Unser Dichter wieder“, sagte Gernot ironisch und wies mit der Zigarette zu Viehweger.
„Warum haben wir ihm nicht geholfen?“, fragte Vera.
„Es ist nicht unser Bier.“
„Aber was wäre gewesen, wenn Gadji …“
„Hätte, wäre, wenn und aber. Wer weiss, was passiert wäre und wer weiss, wie wir uns verhalten hätten.“
„Aber ...“ Ihr Dialog wurde unterbrochen, weil Viehweger plötzlich im Licht des Mondes stand, die Arme ausbreitete und zu deklamieren anfing: „Ebbe und Flut machst du. Leben und Tod. Der Igel lässt sich blicken des Nachts. Der Wurm erhebt sein Haupt. Satt vom Fleisch der Leichen hält er Ausschau nach Frischfleisch. Er kann warten. Er weiss: Jeder Mensch kommt zu ihm. Hat er gemessen an seinem Leben auch länger gelebt, der Wurm ist stärker. Mag der Mensch im Leben auf ihn treten, im Tod wird der Mensch des Wurmes Speise.“
„Mein Wurm steht“, liess sich Peter hören.
„Aus jedem Würmchen wird ein Wurm, gerät er in den Hosensturm“, zwitscherte Sylvia.
„'Fräulein Hohberg, Sie gehören ins Guiness-Buch der Dichtkunst!'“, äffte Peter die Stimme des Sportlehrers Kowalski nach.
„ 'O, meine Diotima, die zärtlichgrossen Seelen, die nimmer sind! Doch eilt die Zeit ...“
„Hehehe, Finger weg!“, sagte jetzt Sylvia. „Das war nicht ausgemacht, mein Lieber!“
So hätte es Stunden weitergehen können. Spass, Trinken, Lästern, Phantasieren, Schlafen – doch dann griff Gernot in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Ansichtskarte raus. Sie zeigte die Michaeliskirche in Hamburg. „Wolfgang hat mir geschrieben. Aus Hamburg“, sagte er.
Peter pfiff durch die Zähne und sang leise: „Auf der Reeperbahn nachts um halb Eins, ob du n Mädel hast oder hast keins ...“
„'Hallo, ihr Idioten! Was wollt ihr noch zuhause? Die Welt ist grösser als eine Zeitungsseite. Die Welt gehört den Mutigen. Die Welt gehört mir. Salut, Wölfi'“, las Gernot vor.
„Selber Idiot“, knurrte Viehweger. „Hätte was sagen können. Vielleicht wäre ich mitgegangen.“
„Da sitzt er jetzt im verfaulenden Imperialismus und hat keine Chance“, meinte Sandburg.
„Selbst der Schlamm ist drüben schöner“, sagte Sylvia und wusste selber nicht, was sie damit sagen wollte.
„Wir sollten eine Kerze anzünden und seiner gedenken“, schlug Viehweger vor.
Maria stellte eine Kerze auf einen umgestürzten und in der Mitte durchgebrochenen Grabstein. Der war übersät mit den Stearinpfützen abgebrannter Kerzen. Maria setzte den Docht unter Feuer. Sie hatte das Tuch auf ihrem Kopf abgewickelt, im Licht der flackernden Flamme züngelten ihre roten Locken wie Schlangen, die sich nicht losreissen konnten.
„Hast du ein Gedicht für Wolfgang?“, fragte sie.
„Naja“, antwortete Mark Viehweger. „Nicht direkt. Aber gestern ist mir was eingefallen …“
„Los! Los, Mark! Los, Nationaldichter! Nationalpreisträger in spe! Nobelpreisträger!“, forderten die anderen ihn auf.
Mark nahm die Ansichtskarte, die ihr gemeinsamer Freund Wolfgang Kahnert aus Hamburg geschickt hatte und legte sie neben die Kerze. Dann liess er sich auf die Knie fallen, verschränkte die Finger zum Gebet und sagte seine neuesten Reime auf:
„Dass Braunkohle nie alle wird
Dass die Partei sich niemals irrt
In jedem Shop gibt's immer mehr –
Davon träumt die DDR
Dass jeder Mensch ein Sportler ist
Und klug sei jeder Polizist
Das Portemonnaie sei niemals leer –
Davon träumt die DDR
Dass jeder eine Wohnung hat
Dass sicher sei der Vater Staat
Dass niemand unsre Grenzen stör –
Davon träumt die DDR
Dass niemand in den Westen geh
Dass jeder Zeitungsdeutsch versteh
Das Leben sei kein Hin und Her –
Davon träumt die DDR.“
„Hehe, grossartig! Wie machst du das bloss! Das schieben wir morgen dem Lautengässer unter!“ Das Publikum hörte den Zeilen ein paar Sekunden nach, ehe es losjohlte und applaudierte. Vielleicht war es nicht die allergrösste Dichtkunst à la Hölderlin. Aber dafür waren Marks Verse leichter verdaulich.
Und dann wurde es still. Die Kerze flackerte auf dem Grabstein, ein paar Frösche quakten, von irgendwoher fiel ein grobes Grölen in den Wald.und auf den Friedhof. Es brach jäh ab.
Die Mädchen und Jungs der Klasse 12d schwiegen; sie waren verstummt, jeder und jede für sich. Entweder weil sie eingenickt waren, oder weil sie Gedanken nachhingen, die sie weder den Freunden noch den Eltern, den Lehrern sowieso nicht und überhaupt niemandem auf der Welt verraten würden.