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Die im Regenbogen wohnten (Teil 4)

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Roman von Eckhard Mieder Die im Regenbogen wohnten (Teil 4)

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Prosa

Die Wohnung unterm Dach war knüppeldickvoll: voller Menschen, voller Zigarettenqualm, voller Teller und Gläser und voll mit Papieren.

Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980.
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Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980. Foto: Dietmar Rabich-Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 18. September 2022
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KorrekturKorrektur
Albert griff sich einen Stuhl und setzte sich in eine Ecke, abseits des langen Tisches, um den herum ein Dutzend Disputanten sassen. Victoria hatte, grade führte sie das Wort, kurz innegehalten und ihm zugenickt – schon ging das Palaver weiter.

Immer wieder wichen die Frauen und Männer von ihrem eigentlichen Thema ab: einen Titel zu finden für die neu zu gründende Zeitung, eine Konzeption zu formulieren, die verständlich, knapp und originell in Umlauf gebracht werden könnte. Die Zeitung sollte nicht nur ein Flugblatt in einer x-beliebigen Flugblattaktion sein, sondern ein ernst zu nehmendes Periodikum. Doch sie gerieten immer wieder vom Hundertsten ins Tausendste und kriegten sich nicht ein beim Lachen, wenn jemand von seinen Erlebnissen mit hilflosen, inkompetenten Vertretern der Staatsmacht erzählte. Empörten sich, wenn ein anderer von Übergriffen und Amtsanmassungen zu berichten wusste. Grüppchen bildeten sich, fielen auseinander, in der Küche wurden Salate angerichtet und Bouletten gebraten, Weinflaschen wurden geleert und für Nachschub wurde gesorgt.

Im Vorderhaus gab es eine Kneipe, dessen Wirt ein Lyriker und Sympathisant all der Rebellen, Aussteiger, Künstler und Möchtegernkünstler war, die schon seit Jahren im „Sandkasten“ ein- und ausgingen. In den letzten Monaten und Wochen war ihre Zahl deutlich angestiegen, und nicht jedem seiner Gäste traute der Wirt. Wo sich die Aussenseiter trafen, da fanden sich auch die Ohrenbläser ein, jene Sicherheitsnadeln, die als Zuträger für das Ministerium für Staatssicherheit unterwegs waren. Zwischen der Kneipe und der Wohnung der Konspiration gab es ein Hin und Her an Alkohol, Würsten und Informationen.

Im Zentrum des Trubels in der Dachwohnung stand, sass und bewegte sich Victoria Lothringen.

Albert gefiel sich in der Rolle des Zuhörers und – Bewunderers seiner Freundin. „Embryo“, solle die Zeitung heissen. „Tarzan, Tequilla, Tantalus“ – Namen flogen durch den Raum, gefolgt von Gelächter, Stöhnen und abwägendem Raunen. „Krokodil, Brennweite, ZOOP!“ --- „Was soll denn ZOOP heissen?“ --- „Zentralorgan der Oppositionellen …“ --- „Buh! Nä! So doch nicht!“ --- Es müsse eine Würde und Seriosität des Informierens geben. --- „Aber wir dürfen unsere Schande und unsere eigenen Sünden nicht ausser Acht lassen!“ --- „Welche Schande denn? Welche Sünden? Brauchst du eine Zeitung als Beichtstuhl?“ --- „Die Schande, die uns hier zusammengebracht hat, die Schande des Schweigens wider besseren Wissens!“ --- „Ich habe nie geschwiegen“, rief ein wild behaarter Mann, und ihm entgegnete eine schmale, androgyne Person: „Durftest du ja auch nicht. Als Redner auf Begräbnissen! Was soll die trauernde Gemeinde davon halten, wenn du stumm in der Kapelle stehst!“ Gelächter. Rufe. Zur Sache, Leute, nicht schon wieder. Olle Kamellen. Wollen wir bis Weihnachten palavern, ehe wir einen Entschluss gefasst haben?

„Ich schlage vor“ rief Victoria schliesslich. „wir schweigen jetzt mal zehn Minuten. Jeder schreibt auf einen Zettel, welche Vorschläge er hat, und dann werten wir die aus?“

Warum nicht, klar, kann gemacht werden. „Kann mal jemand das Fenster aufmachen! In dem Mief komme ich um!“ Dann Stille. Jeder beugt sich über sein Papier, Frauen und Männer; sind sie plötzlich die Mädchen und Jungen einer zehnten Klasse, die über einer Rechenaufgabe brüten …

Victoria ging durch den Raum, hockt sich neben Albert und legte ihren Kopf auf seine Knie. „Du kommst spät“, sagte sie und lächelte.

„Ich liebe dich“, sagte er.

„Weil du verrückt bist.“

„Natürlich. Nach dir.“

Albert zögerte. Wusste nicht, ob er weiter sagen sollte, was er sagen wollte. Dann: „Wie ist es, wenn du ein Kind zur Welt bringst? Da ist eine Frau, die seit Stunden Wehen hat. Sie ist da, du bist da, und das Kind – ist auch gleich da …“
„Ich kenne dich.“ Victoria rückte ein Stück von ihm ab. Zog die Stirn kraus. „Du willst mir etwas sagen. Durch die Blume.“

Hatte er angefangen zu reden, redete er auch zu Ende:

„Sie hat seit Stunden Wehen. Zwischendurch verlässt du sie und trinkst einen Kaffee. Du weisst ja aus Erfahrung, dass es noch nicht so weit ist. Die Frau glaubt, sie muss sterben, aber du weisst: Sie stirbt natürlich nicht. Dafür bis du eine zu erfahrene Hebamme.“
„Sag mir, was du sagen willst, Albert!“
„Du und die Frau und das Kind – ihr seid mit dem Natürlichsten befasst, das es gibt. Ihr allein. Draussen – ist die Welt, na und? Es geht nur um dich, um die Frau und um das Kind. Das ist konkret. Das ist nützlich. Das hier …“

Wütend sprang Victoria auf. „Ich hasse es, wenn du die Sätze abbrichst. Wenn du nicht zu Ende sprichst. Es klingt nach Klugscheisserei, nach Arroganz!“ Sie drückte sich weg von diesem Kerl, den sie liebte, der aber unausstehlich sein konnte. Ein Bremser! Ein Nihilist! Einer, der sich nicht richtig begeistern kann. Dabei geschieht doch gerade etwas Unerhörtes! Ein Aufbruch. Etwas Neues! Etwas Niedagewesenes! Ist doch auch ein Baby, das hier gerade zur Welt kommen soll! Victoria kehrte in den Kreis der Grübelnden zurück.

Albert schaute seiner Freundin nach. Gut, dass ich nicht von Vera gesprochen habe, dachte er. Dass er das Gefühl hatte, das Mädchen sei traurig und – würde sich einsam fühlen, heute Abend, allein zu Hause. Während die hier – ja was?

Einige von den Anwesenden kannte Albert. Sie waren Journalisten und Redakteure, noch angestellt bei den Zeitungen, die sie hassten. Aber sie würden am nächsten Morgen wieder an ihre Schreibtische zurückkehren. Würden mit den Zähnen knirschen, ihren Kaffee trinken, unter Kollegen über die Vorgesetzten lästern und hinter vorgehaltener Hand die neusten politischen Witze erzählen. Und am Abend versammelten sie sich in den Wohnungen der Dissidenten.

Bin ich selbst einer? Ein Dissident? fragte sich Albert. Oder bin ich nur einer von den müden Menschen, die nichts Neues mehr erwarten? Geschieht denn wirklich etwas grundlegend Neues? Eine Revolution? Und wohin soll sie führen, wenn sie von Leuten betrieben wird, die zwar begeistert sind. Haben sie Vorstellungen davon, was sie wollen? Eine Zeitung, gut. Einige von ihnen wissen, wie das geht. Andere, wie seine Victoria, sind Amateure, die sich vielleicht einen Kindertraum erfüllen.Ja, sie sind wie Kinder, die ein Notizheft geschenkt bekommen, sich damit in eine Ecke zurückziehen und ganz ernst und mit krakeliger Schrift auf den Deckel schreiben: MEINE ZEITUNG. Folgt ein Eigenbericht: „Heute morgen ist meine Katze weggelaufen. Sie mag Quark nicht. Und ich mag den Staat nicht…“ Albert fasste nach der Flasche Rotwein, die in einem aufgerissen Karton neben dem Stuhl stand, als Victoria sich noch einmal zu ihm stellte.

„Entschuldige“, sagte sie. „Aber …“
„Ich habe vorhin Vera nach Hause gebracht“, sagte er. „Und ich dachte …“
„Du willst mir ein schlechtes Gewissen machen?!“ (So schnell wieder auf hundert?!)
„Muss ich?“
„Sie versteht das. Ich wette, sie versteht mich.“
„Ich vollende jetzt meinen abgebrochenen Satz, Vikki: Das hier kommt mir vor wie ein Kindergeburtstag im fortgeschrittenen Stadium. Alle haben Bauchschmerzen vom Kakao und vom Kuchen. Jeder möchte etwas anderes spielen. Wunderschönes Chaos.“
„Mag sein“, erwiderte sie bestimmt und kalt. „Aber dieses Chaos – ist mir lieber als deine Arroganz. Warum bringst du dich nicht ein? Du warst doch mal Journalist. Warum hilfst du nicht mit? Oder weisst du doch nicht, wie es geht, eine Zeitung machen?“

Albert blieb ihr die Antwort schuldig; Victoria drehte sich weg, klatschte in die Hände und rief: „Leute, die zehn Minuten sind rum!“

Zwei Stunden später hatten sie sich auf den Namen des Periodikums geeinigte. DIE GANZE sollte es heissen. Die ganze Wahrheit, die ganze Zukunft, die ganze Aufklärung. Aufs Ganze gehen, nichts Halbes mehr, nichts Verklemmtes, das Ganze im Grossen und Ganzen eben.

Albert harrte bis zum Ende der Debatte aus, auch darüber hinaus, als alle jubelten und die Gläser und Tassen noch mal gefüllt worden waren. Er würde bis zum Schluss bleiben und Victoria in seinem Skoda nach Hause fahren. Zu ihrer Tochter. Aber er würde, wusste er, nicht über Nacht in der Lothringenschen Wohnung bleiben. (Er wird, wenn die Zeitung erscheint, für DIE GANZE schreiben. Kurze Texte, Glossen, aber er will das Blatt nicht verantworten. Victoria wird ihn vier Monate später kritisieren. Warum beschränkst du dich auf Glossen und kurze Berichte? Warum wirst du nicht mein Stellvertreter? Unsere Leute schätzen dich, du verfügst über natürliche Autorität, und du weisst, was gehauen und gestochen ist? – Das ist nicht mein Bier, wird er sagen und Traurigkeit spüren. Weil die Liebe abhandengekommen war? Weg, wie es in einem Gedicht heisst: wie anderen Menschen der Hut wegkommt. Er wird nicht sagen können, warum, wann und wie das Scheitern kam. Noch immer wird gelten, was er Vera gesagt, als er sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte: Die Gründe jemanden zu lieben, sind die gleichen Gründe, jemanden nicht mehr zu lieben. Das wird ihn verwirren und veranlassen, für mehrere Wochen nach Frankreich zu fahren, um abzutauchen in einem halb zerfallenen Bauernhaus in der Bretagne – ein Haus, das einem Freund gehört –, um nichts mehr hören und sehen zu wollen von den Deutschen, von seinen Deutschen, von den Landsleuten, von der neuen Heuchelei. Von ihrer Ergebenheit, sich dem Neuen Grossen Deutschland anheimzugeben, als sei das Paradies über sie gekommen. Albert wird tagsüber bei einem Bauern arbeiten und abends an seinem Essay schreiben. „War dies eine Revolution? Vollmundige Resolutionen, literarische Pamphlete, volle Kirchen – und alles mündete in eine Wahl, in der die Schafe sich aus jeglicher Verantwortung wählten; sie hatten einen neuen Schäfer, der ihnen sagte, wo es lang geht. Die einfache Formel, die unten wollten nicht mehr, die oben konnten nicht mehr, trat aus den Lehrbüchern auf die Strasse und wurde Masse. Sie wurde zur materiellen Gewalt, die chorisch brüllte: Keine Gewalt! Keine Gewalt! Und zugleich rief: Deutschland, einig Vaterland! Und wenn das nicht „Gewalt“ war, was war dann Gewalt? Ein Paradoxon lag in all dem. Die kollektive Sprachlosigkeit blühte in Sprechchören und auf Transparenten; sie zögerte die tatsächliche Sprachlosigkeit hinaus. Bis die Politiker kamen, die alten und die neuen, und routiniert ihr Geschäft verrichteten. Das Geschäft der Spaltung in Avantgarde, Elite, Mitläufer. Das Geschäft der Lüge, der Versprechungen, der Hinterzimmer-Verabredungen. Letztlich das Sichnichtändernmüssen. War dies eine Revolution? - Und manchmal hatte ich den makabren Wunsch, es hätte einen Bürgerkrieg geben sollen. Es wäre einfacher zu unterscheiden gewesen: zwischen …“ – Nein, hatte Albert gedacht, soweit nicht. Das ist abstrus, das ist alles ein Durcheinander in meinem Kopf. Keine Klarheit, Duselei nur, zu kurz mein Atem für eine lange Geschichte; und er würde seinen Essay nie beenden und in ein noch zweigeteiltes Deutschland zurückkehren, in einem Sommer, in dem es seit über einen Monat eine einheitliche Währung gab: die Deutsche Mark.)

Donnerstag, 9. November

Wenn es ihn gäbe, den Vogel Phoenix oder den Vogel Roch, und wenn er am gestrigen Abend und in der Nacht über Berlin und über dem Land und über Europa dahingeschwebt wäre, dann hätte er nichts anderes gesehen als an den Abenden, als in den Monaten, als in den Jahren zuvor. Häuser, Dörfer und Städte leuchteten. Zwischen ihnen die Felder, Wälder, Strassen, Eisenbahnlinien. Dampf stieg aus den Kühltürmen von Atomkraftwerken und Rauch aus den Schornsteinen von Fabriken und Wohnhäusern. Silbrig glitzerten Flüsse, Seen, die sich an Talsperren stauten, und auf Weiden graste geflecktes Rindvieh und stoben Pferde durchs Gras. Da unten hatten sich die Menschen eine Ordnung geschaffen und eine Heimat, und immer mal wieder brachten sie die gern durcheinander, zerstörten sie und sich selbst, und lernen nicht aus den Katastrophen und Kriegen. Reissen ein, bauen auf, reissen ein, bauen auf. Als könnte das in Ewigkeit so weiter gehen. Als gäbe es eine Unendlichkeit der Erde.

Da kann der Vogel Phoenix kommen als Symbol der Verjüngung und Erneuerung! Da kann der Vogel Roch kommen, und sich den einen oder anderen Menschen greifen und mit ihm durch die Lüfte reisen und ihm zeigen: das Wunder der Welt, die zu erhalten ihm, dem Menschen, obliegt! Da kann der Vogel Greif Elefanten und Büffel verzehren und versuchen, seine Kraft den Menschen zu geben – sie werden es nicht lernen, einander zu vertrauen. Obwohl sie die einzigen im Universum sind, um die sie sich kümmern müssten, indem sie sich um ihren Planeten kümmern. Um die Welt und um den kranken Nachbarn auch. Wie ist die Welt so stille. Und ist doch nur eine Kammer. Und traulich und hold möge sie sein.

Der Vogel Phoenix verbrennt, auf dass er lebe. Ardet ut vivat, sagten die alten Römer, weil sie wussten um das ständige Kommen und Gehen, Verderben und Erneuern, um Krieg und Frieden, um Schuld und Sühne. Und schon die, die Jahrhunderte vor den Römern lebten, wussten es.

Und was hilft es denen, die weit unterm Vogelflug in den Räumen sitzen und streben und weben und leben? Jetzt? Wenn doch nicht aus dem Gefieder der mythischen Vögel Tropfen von Weisheit und Überblick in die Menschen fallen und sie stark machen für eine Zukunft miteinander? Für ein Leben auf dem Regenbogen?

*

Es war zwei Uhr in der Nacht, als Victoria Lothringen die Tür zu ihrer Wohnung in Berlin-Karlshorst aufschloss, nachdem sie sich von Albert im Auto verabschiedet hatte. Ein flüchtiger Kuss, eine kühle Verabredung, „bis morgen dann“, und die Treppe in das zweite Stockwerk waren ihr schwergefallen. Sie legte den Schlüsselbund auf das Vertiko im Flur, liess ihren Mantel fallen und lehnte sich gegen die Wand. Schloss die Augen und schnaufte durch. Im Kopf ein Getümmel von Wörtern, Wein, Euphorie und – am Ende Erschöpfung.

Vera! Ging ihr durch den Kopf. Die Tochter würde in ihrem Bett liegen und schlafen. Oder nicht, doch, gewiss, aber sicher doch.

Die Mutter stiess sich von der Wand ab und ging die wenigen Schritte zu Veras Zimmer. Die Tür stand halb offenen. Victoria lehnte die Stirn gegen den Torpfosten, atmete tief ein und aus, kam zur Ruhe; gottseidank! In ihrem Bett lag Vera und schlief.(Victoria war nicht dabei, sie konnte nicht wissen: dass Vera zehn oder fünfzehn Minuten – wüsste sie selbst nicht zu sagen, fragte sie jemand – ohnmächtig auf dem Läufer gelegen hatte. Stöhnte, als sie erwachte und sich hochzog, bis sie aufrecht auf wackligen Beinen stand. Dann war sie in die Küche geschlurft. Auf dem Herd stand der Topf mit der Linsensuppe. Ein nächster Zettel lag auf dem Deckel:„Lass es dir schmecken! Willkommen daheim! Ich liebe dich, deine Mutter!!!!!!!!!“ Ausrufezeichen des schlechten Gewissens? Nicht da zu sein, wenn Vera nach Hause kommt? Weil es wichtigeres gab als die Heimkunft der Tochter?

Bestimmt liebst du mich, Mutter, hatte Vera traurig gedacht. Linsensuppe als Willkommensgruss – immerhin hast du nicht vergessen, dass das meine Lieblingssuppe ist.

Als Victoria die Küche betrat, sah sie, dass der Suppentopf unberührt war; und der Zettel lag auf dem Linoleum, auf dem der Küchentisch stand.

Freitag, 10. November

Vera versteckte sich. Sie drückte sich in den Eingang des Hauses, das der Schule auf der anderen Strassenseite gegenüber stand. Sie wartete auf das Klingeln zum Unterrichtsbeginn und schaute den Schülerinnen und Schülern zu, die durch die weiten Glastüren im Gebäude verschwanden. Einzeln, in Grüppchen, zu zweit, plappernd, schweigend, die Köpfe gesenkt (als liefen sie einem drohenden Strafgericht entgegen?). Veras Herz dröhnte und trommelte. War es denkbar, plötzlich wieder sechs Jahre alt zu sein, vor der Einschulung zu stehen – und sich vor dem, was nun vor dem Mädchen sich auftat, zu fürchten? Obwohl es sich auf den ersten Schultag gefreut hatte – jedenfalls, solange sie zuhause ihre Hefte, Stifte, Bücher immer und immer wieder sortierte undimmer und immer wieder nach der Zuckertüte schielte, die im Wohnungsflur auf sie wartete?

Sie sah Gadji kommen. Er stieg aus der Strassenbahn, blickte nach rechts und nach links und überquerte zielstrebig die Strasse, um hinter dem Glas der Türen, die aufblitzten, wenn sie geöffnet wurden und sich hinter dem Eintretenden wieder schlossen, zu verschwinden. Ein ganz normaler Schultag erwartete ihn. Ein ganz normaler Schultag – wie für Vera auch?

Seltsam nur, dass sie Sylvia, Maria, Mark und Peter nicht gesehen hatte. Und Gernot, natürlich, Gernot. Er hatte sie gestern Nachmittag angerufen und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt; jawohl, so würde es in einem Kommuniqué stehen: „Im Verlaufe des Gesprächs zwischen den Parteien versicherten die Partner sich gegenseitig ihrer Gesundheit und freundschaftlichen Verbundenheit.“ Ansonsten könnte er nicht vorbeikommen, obwohl er nichts lieber als das täte, weil er sie, Vera, unheimlich lieb hätte. Aber. Es war da. Er müsse und er habe. – Was?, hatte Vera gedacht: Die Pest? Ein amputiertes Bein? Eine neue Freundin? Vera hatte den Hörer aufgeknallt. Nicht mal Linsensuppe möchte ich mit dir zusammen essen, Gernot, und sie war in Tränen ausgebrochen, und es waren allgemeine Tränen. Insgesamt-Tränen, die keine klare Quelle hatten. Alles zusammen so, auf einmal alles zusammen.

Oha, jetzt parkte Werner Kotte seinen Wartburg zwischen zwei der uralten Ulmen in der Nebenstrasse, rannte zur Schule, um der Klingel zuvorzukommen – und doch als Letzter das Klassenzimmer zu betreten und dabei so zu tun, als käme er gerade von einem gelassen-gelehrten Frühstück mit Friedrich Hölderlin.

Als die Klingel schrillte, ging Vera los.

Ihre Krücken klackerten durch den Korridor. Sie atmete tief durch, als sie die Türklinke drückte und den Deutsch-Raum betrat. Ihre Beine zitterten ein wenig, im ersten Augenblick sah sie nur weisse, konturlose Gesichter, die sich ihr zuwendeten. Was ist mit dir los? Willst du losheulen? Wieso denn? Hier sitzen deine Leute, hier steht dein verrückter Deutschlehrer, und da stehst du. Die wacklige Vera ist immer noch und auch nur die Vera. Und ein paar Wochen weg gewesen zu sein, ist so ungewöhnlich nicht. Es wäre lächerlich, jetzt zu heulen, obwohl Vera danach ist. Aber wie peinlich wäre es, vor Freude zu heulen, weil man wieder in die Schule geht.

„Guten Morgen“ sagte Vera. „Entschuldigen Sie, Herrr Kotte, dass ich mich verspätet habe.“ Sie nickte mit dem Kopf zu den Krücken, mehr an Entschuldigung ging nicht. Aber Kotte sagte streng: „Ich höre. Was haben Sie an Entschuldigung vorzubringen, Fräulein Lothringen?“

Kurze Stille, kleine Pause – dann: welch ein Getöse auf einmal. Ein Stühlescharren und Aufgespringe und Veraumarme. Mensch, Mensch, Mensch! Was für Sachen du machst! Heile, heile Segen, sieben Tage Regen, sieben Tage Sonnenschein – sollst am Ende wieder heile sein! Schliesslich klatschte Kotte dreimal ein langes, hölzernes Lineal auf den Lehrertisch! Genug! Ruhe jetzt! „Es reicht“, sagte er. „Ich will nicht behaupten, dass es nicht auch für mich eine Freude ist, Sie, Vera Lothringen wieder in unserem Kreise begrüssen zu dürfen“, und jede und jeder kann sehen, dass er nur mühsam seine Rührung unterdrücken kann; und dann, ihr Lehrer, der Meister des Sarkasmus und des hohen Tones, sagt: „Scheisse, gottverdammte, blöde Kacke!“, und er umarmte Vera, was wiederum Gejohle hervorrief. Nana! Keine Übergriffe, Herr Lehrer!

Was sollte schon sein. Es war ein gewöhnlicher Freitag. Vera hatte einige Wochen gefehlt, jetzt war sie wieder dabei. Der Deutschlehrer fasste sich wieder, ein jedes fand auf seinen Platz. Vera ging zur ihrem Stuhl. Als sie sich hinsetzen wollte, verlor sie das Gleichgewicht. Der gebrochene Fuss im Gipsverband schlägt gegen ein Tischbein. Ein jäher Schmerz. Als sie aufgefangen wurde: von Gadji, der seinen Platz vor ihrem hatte, und der jetzt fragte: „Tut es weh?“
„Schon“, sagte Vera; im selben Moment entdeckte sie die Rose. Sie lag auf dem Stuhl neben ihrem, auf dem üblicherweise Gernot sass, aber der war nicht anwesend. Fiel Vera erst jetzt auf, und auch, dass Gadji aufgestanden war, vor ihr stand stand und verlegen auf seine Hände schaute.

„Woher wusstest du, dass ich heute wieder in die Schule komme?“
„Ich habe mit deiner Mutter telefoniert“, antwortete Gadji.

„Sie hat mir nichts davon gesagt.“
„Ich glaube, ich denke, sie wirkte – angespannt … Stress?“
„Wann? Ich meine, wann hast du mit ihr telefoniert?“
„Späten Abend. Gestern.“

Da war ich umgefallen. Da lag ich auf dem Teppich, später im Bett. Da hatte mich Albert abgeholt und nach Hause gefahren zu einer einsamen Linsensuppe. Aber mir ging es gut. Schliesslich war nichts Schlimmes geschehen. Ausserdem wollte sie allein sein. Aber hätte Gadji angerufen, und ich wäre am Telefon gewesen, das hätte mir gefallen. Er wäre der erste gewesen, mit dem ich „draussen“ gesprochen hätte. (Wenn sie von Albert absah.)

„Ich muss Sie bitten, Ihre Plauderei einzustellen und die Fortsetzung in die Pause zu verlegen“, liess sich Kotte hören.

Vera nahm die Rose vom Nebenstuhl und setzte sich neben Gadji.

Die Deutsch-Stunde sollte an diesem Tag nicht stattfinden.

Die Tür zum Klassenzimmer sprang auf, und herein stürmten Gernot, Sylvia, Maria und Peter. In den Händen hielten sie Bier- und Sektflaschen; sie waren angetrunken, schielten vor Müdigkeit und kicherten aufgedreht und blöde vor sich hin.

Sylvia Hohberg, das Haar zerwuschelt, die Bluse halb geöffnet, walzte an ihrem Lehrer vorbei und heftet mit zwei Magneten die erste Seite einer Zeitung an die Wandtafel. Grosse, schwarze Lettern schrien DIE MAUER IST WEG! BERLIN IST WIEDER BERLIN! JEDER DARF SOFORT DURCH! DEUTSCHLAND WEINT VOR FREUDE. DIE ERSTEN SIND SCHON DA! WIR REICHEN UNS DIE HÄNDE!

Gernot schüttelte eine Sektflasche, setzte sie an die Lippen, nahm einen Schluck und rülpste. „In fünf Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm“, hickste er. „He, vor fünfzig Minuten waren wir auf dem Kurfürstendamm!“
„Taxi“, lallte Peter. „Taxi! Ohne ssu bessahlen. Das Leben iss schön!“

Sylvia begann, Lambada mit sich selber zu tanzen. Sah ziemlich holprig aus, und sie musste sich, um nicht lang hin zu fallen, von Kotte auffangen lassen; der Lehrer tat sein Bestes, das üppige Mädchen aufrecht und zugleich in sittlicher Distanz zu halten. Glücklich schaute er nicht drein, er stand verdattert in diesem Auftritt.

„Wo ist Viehweger abgeblieben?“, fragte Gernot seinen Kumpanen Peter.

„Zuletzt … ich habe ihn auf dem Savi … Savinjon … ach, ist doch schnuppe!“ Er stand in der Ecke rechts neben der Tür und zog an der Rolltafel des „Hertzsprung-Russell-Diagramm“. Runter, und schnapp rollte sie sich wieder ein, runter und schnapp … „Überriesen …“, runtere, schnapp, „helle Riesen, Unterriesen … Wo isch der Mond … mein König! Meine Säure! Mein Einunallesch! … Und wo steckt in diesem blöden All der Weisse Riese?“ Schnapp.

Kotte, der wortereiche, war noch immer sprachlos. Seine Blicke wanderten von einem zum anderen. Sylvia hatte er auf einen Stuhl gesetzt, sogleich war ihr Kopf auf die Tischplatte gesunken, und sie war eingeschlafen.

Waren das diejenigen, mit denen er vor einem Monat ein Programm aufgeführt hatte, ein mutiges, kluges? Waren das diejenigen, mit denen er gemeinsam jubelte und erleichtert war und die für Stunden und für ein paar Tage eine Gemeinschaft vortrefflicher Menschen gebildet hatte, ein nicht nur junges – das waren sie sowieso –, nein auch ein verjüngtes Volk? Das ihn glauben liess, dass der Beruf des Lehrers durchaus eine Berufung war, wie die Poesie die Berufung des Dichters ist? Natürlich waren diese betrunkenen Idioten genau die Gleichen, dieselben. Nur kannte er sie so nicht, so wüst nicht, nicht so widerwärtig.

„Spinnt ihr? Geht nach Hause und schlaft euch aus!“ Vera war aufgestanden, zur Tafel gehumpelt und hatte die Zeitungsseite heruntergerissen. Sie legte sie über Sylvias Kopf. Ein Schnauben, ein Schütteln, dann stand das Mädchen auf und schaute verwirrt an sich herab und um sich herum. „Was soll'n das?“, fauchte sie Vera an. „Willst du mich ersticken?“
„Pack das ein und geh nach Hause“, sagte Vera. „Du“, wendete sie sich an Peter, „lass das Rollbild in Ruhe und verfatz dich für heute.“ Sandberg würgte es plötzlich. Er stürzte aus dem Klassenzimmer, vielleicht würde er es bis zu einer Kloschüssel schaffen, wahrscheinlich nicht; Sylvia schwankte hinterher. Sie drehte sich in der Tür um und schrie: „Aber is wahr! Wir waren drüben! Kapiert, ihr Spiesser!

Übrig blieben Gernot und – Maria.

Das Mädchen hatte bisher nichts gesagt. Es war an der Wand des Klassenraumes zu ihrem Stuhl gelaufen, hatte sich hingesetzt und schaute wie in Trance vor sich hin.

Vera, an der Maria vorbeiging, hatte die Freundin schon einmal so erlebt. Das war, als sie im Krankenhaus lag, und die Clique hatte sie besucht, und Maria hatte die ganze Zeit über am Fenster gestanden, und erst als alle gegangen waren und sie geblieben, da hatte sie gesagt: „Ich habe Angst. Es bröckelt. Es schwankt. Ich gehe morgens aus der Wohnung und betrete Planken, die sich bewegen. Das Draussen ist ein Schiff, das unter meinen Füssen schlingert. Und wenn ich aufschaue, sehe ich niemanden, der am Steuer steht. Die Scheibe der Kommandobrücke ist dunkel. Da steht niemand und hält einen Kurs. Es geschieht etwas, und ich weiss nicht, was es ist. Es geschieht etwas, das uns alle verändern wird. Das uns schon jetzt verändert hat.“ Wort für Wort konnte Vera sich erinnern. Und jetzt …

„Vera!“, rief Gernot. „Das ist ja toll! Herzlich willkommen! Ich meine, he, was rede ich?“

Er lief auf sie zu. Der Gang zwischen den Stuhlreihen war seine Bühne. Und er war, der er immer war, der selbstsichere Meister aller Klasse; nur, dass er kurz stolperte, als er seine Arme ausbreitete, in der einen Hand die leere Flasche, in der anderen Hand die Erwartung, sie der Freundin auf die Hüfte zu legen. Dazu kam es nicht.

„Ich schäme mich“, sagte Vera leise, bevor Gernot sie umarmen konnte.

„He, was ist?“ Gernot bekam mit, dass Gadji aufgestanden war. Von seinem Platz, der neben Vera, und auch die eine Rose sah er. Seit wann gibt es Rosen in diesem vermieften Klassenzimmer, hä?

„Ach komm. Ich freue mich, dich zu sehen. Naja, Rosen habe ich keine …“
„Ich hätte dich gern anders wiedergesehen“, sagte Vera.

„O, pardon! Hätte ich gewusst, dass Mademoiselle … Selbstverständlich wäre ich sofort geeilt. Mit einem Strauss von Rosen! Und selbstverständlich wäre mir der historische Augenblick am Arsch vorbeigegangen!“

Was sollte das? Was faselte er? Vera wurde es kalt. Etwas zerbrach in ihr. Und etwas stieg in ihr auf. Eine – Mauer? Zwischen ihr und Gernot? DIE ERSTEN SIND SCHON DA! WIR REICHEN UNS DIE HÄNDE! Und die zweiten, und die dritten, die nicht so rasch kapierten? Wer reicht hier wem die Hände? Du, Gernot, mir?

Etwas lief kunterbunt schief in ihrem Kopf. Gernot, der Überflieger. Die Mutter, die Revolutionärin. Albert, der Abwägende. Selbst ihr Vater, der Lümmel. DEUTSCHLAND WEINT VOR FREUDE. Die Mutter fühlte sich nicht mehr für Babys verantwortlich, sondern für die Zukunft eines Landes. Der Vater filmte und beschimpfte sich hinterher für das, was er filmte. Albert würde am liebsten zwischen Büchern leben … Und sie? Und Gadji? Und Gernot? Maria, Peter, Kotte, Sylvia, Mark – Kotte … das ganze Personal ihrer Gegenwart?

Die Mauer. Vera hat sie jeden Tag betrachtet, aus dem Fenster ihres Krankenzimmers im Stockwerk unterm Dach der Charité, wenn sie nicht schlafen konnte. Ein heller Streifen, der sich durch die Stadt zog. Es hätte eine Strasse sein können, und Vera hatte nichts gefühlt. Eine Grenze, das wusste sie, aber es berührte sie nicht.

Eines Abends war sie – sie konnte nicht schlafen, war unruhig und stand auf – die Treppen hinaufgehumpelt und die Leiter bestiegen, bis auf das Dach. Sie wollte den Himmel über sich haben, die paar Sterne sehen, die genügend Kraft hatten, über der Stadt ihre Trübheit zu durchleuchten, als sie den Rauch einer Zigarre schnupperte, als sie jemanden husten hörte – es war Kempau, den sie für einen Schauspieler gehalten hatte und der ein Schuster gewesen war; auch ihn hatte es nicht im Bett gehalten, auch er wollte nicht zwischen den vier Wänden seines Zimmers eingesperrt sein.

„Meine Heldin“, sagte er mit leiser, heiserer Stimme und krümmte sich in einem Hustenanfall und keuchte dann: „Eine Prinzessin der Nacht! Die Rolle der Königin ist vergeben.“

Vera lehnte sich gegen das warme Blech einer Klima-Anlagen-Laube und antwortete nichts.

„Hast recht“, sagte der Alte. „Schweigen ist besser als alles Reden.“

So schwiegen sie und schauten in den Himmel, auf die Stadt hinunter, auf den grellgelben, kurvigen Schnitt durch sie hindurch.

„Sie nennen es antifaschistischer Schutzwall“, fuhr Kempau fort.

Vera verstand nicht gleich was er meinte.

„Er zerschneidet die Stadt.“ Kempau fuhr mit der Hand durch den Abend dem Schnitt nach; eine fast zärtliche, sanfte Geste, als streichelte er einem bedürftigen Hund über den Rücken. „Ich kapier das nicht. Welche Faschisten soll er abhalten? Welche, die von draussen kommen oder solche, die von drinnen wegwollen? Die von drinnen“, er hustete, krächzte, kicherte, „die wollen nicht weg. Ich zum Beispiel bin einer und will gar nicht weg.“

Vera hatte begriffen, dass er von dem beleuchteten Pfad, der durch die Stadt ging, sprach. Von einer Grenze, die sie nie als solche empfunden hatte. Es gab sie – und? Aber hatte Kempau gerade von sich als Faschisten gesprochen?

„Haben Sie, ich meine, sind Sie … Also ich bin bestimmt keine Faschistin. Und ich glaube …“ Ja, was ich glaube ich? „Ich glaube, Sie sind bestimmt auch kein Faschist.“

Der Alte sog an seiner Zigarre, wiegte den Kopf, schaukelte den Oberkörper hin und her (Vera musste an die Bären denken, an die Bären im Tierpark, wenn sie am Rande des Fels-Plateaus standen, nur noch ein Wassergraben zwischen ihnen und den neugierigen Menschen) – „Sie haben doch niemals jemanden getötet?“, fragte sie entsetzt; wäre es möglich, mit einem alten, kranken Mörder auf einem Dach zu sitzen, und er war ihr sympathisch und auch ein bisschen, nun ja, eklig. Und der Alte sah sie an und sagte: „Brecht alle Speichen ihres Rades, die runde Nabe rollt vom Himmelsberg hinunter bis zur Hölle. Doch, habe ich. Ich war im Krieg, und ich war nicht der Koch mit der Kelle, der den Mops in der Küche zu Brei schlägt, weil er dem Koch ein Ei klaut. … Diese Mauer, diese komische Mauer trennt mich von mich. Musste nicht verstehen, kleine Schönheit, musste nicht, kleine Blume Sozialismus.“

„Was für ein historischer Augenblick?“, fragte Vera ihren Freund.

„Die Mauer ist auf!“, sagte Gernot. „Wenn du willst, fahren wir gleich rüber. Nach Westberlin. Wenn du willst, gehen wir am Wannsee spazieren.“
„Darauf freue ich mich“, sagte Vera. „Darauf freue ich mich aber sowas von.“ Und wütend warf sie eine ihrer Krücken nach Gernot. Er kriegte die zu fassen, ehe sie gegen ihn prallte – wie einen Volleyball, wie einen Globus, wie die Welt, die er beherrschte, und reflexhaft konnte er jeden Angriff abwehren.

„Was ist denn? Was ist mit dir?“, fragte er.

Nichts. Nichts, was du begreifen wirst. Nichts, was du begreifen kannst, weil ich es selber noch nicht begreife. Aber etwas ist, etwas ist. Ein Riss, ein Spalt, eine Lücke.

Montag, 13. November

Dr. Erwin Lautengässer sass am Schreibtisch des Schuldirektors, vor sich die aufgeschlagene, breitflächige Zeitung „Neues Deutschland“,und las in den Reden der 10. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Mit einem roten Kugelschreiber unterstrich er Sätze, die er für richtungsweisend hielt; mit einem blauen Kugelschreiber notierte er seine Überlegungen, die er am heutigen Nachmittag auf einer erweiterten, öffentlichen – auch die parteilosen Kolleginnen und Kollegen waren herzlich eingeladen – vortragen würde. Er wird auf der Bühne der Aula stehen, an dem Pult, hinter dem Erhard Eberlein, der seit Wochen an den Folgen eines Herzinfarktes laborierte, seinen Rücktritt verkündet hatte. (Lautengässer kaute noch immer an dieser, wie er fand, Peinlichkeit des Auftritts: sowohl Eberleins wie der Klasse 12 d mit ihrem sogenannten Kulturprogramm.)

Endlich haben die Genossen ihre Sprache wieder gefunden!

Wieviel Verwirrung es gegeben hatte in den letzten Wochen. Der einfache Kommunist konnte sich verraten und verkauft fühlen. Wie sollte ein wahrer Sozialist umgehen mit diesem – Dammbruch? Eine Flut von Informationen (Deformationen, dachte Lautengässer jetzt), von Demonstrationen (welch ein Geschrei auf den Strassen!), von aufgebauschten Problemen (ja, es gab sie, aber sie liessen sich „unter uns“ regeln) – ein Dammbruch, dessen Krönung der Durchfluss der Masse durch den antifaschistischen Schutzwall war … Endlich fand die Partei zu klarer Haltung zurück; und Lautengässer schrieb den Satz ab: „Wir leben in einer Welt voller Abhängigkeiten, Bewegung und Widersprüche. Das erfordert, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie wir sie uns wünschen.“ Grossartig. Dialektisch. Klug und geschmeidig. Darauf lässt sich argumentativ aufbauen.

Es klopfte an der Tür, gleich tratdie Schulsekretärin, Marina Wollny, ein. Auf dem Tablett, das sie vor sich hertrug, standen ein Becher, in dessen Keramik die Silhouette des Brandenburger Tores und die Inschrift 750 JAHRE BERLIN eingebrannt waren, eine Zuckerdose und ein Fläschchen Sahne. Sie stellte das Tablett auf das Zeitungsblatt und begrub einen Teil der Schrift.

„Kaffee!“, sagte sie. „Zur Stärkung. Brauchen Sie, Genosse Lautengässer! Sind harte Zeiten.“

Er schaute irritiert auf. Hatte er einen sarkastischen, irgendwie aufsässigen Ton vernommen? Dass die Wollny eine – wie sollte er es sagen? – ausgesprochen burschikose, selbstbewusste Frau war, wusste er. Auch dass sie Eberlein über Jahre und Jahre eine hundertprozentige Hilfe und Stütze war, und dass sie seine, Lautengässers, Stellvertretung nur knurrend hinnahm – aber …

„Westkaffee“, sagte sie; sie stand stämmig vor dem Schreibtisch, als wollte sie abwarten und erleben, ob nach ihrer Provokation der Himmel aufbrach und einen Starkregen entliess, der die Schule unterspülte und auf den Wassermassen forttrug.

„Haben wir kein Mocca Fix mehr?“, fragte Lautengässer. (Was ist nur los mit den Leuten? Ausser Rand und Band, das Volk ist eine Rasselbande? Schrieb Heinrich Heine nicht irgendwo vom Volk als grossen Lümmel? Wie hatte er das gemeint?)

„Eduscho ist besser“, bekam er zu hören. „Der Duft allein.

Schauen sie“, fuhr sie fort und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf die Farb-Fotografie des Landesvaters, der an der Wand hing und milde und schmallippig unter der Brille lächelte, „auch er geniesst den Duft. Ich sehe das.“

Lautengässer fuhr herum und blickte in das Gesicht Erich Honeckers, des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs seiner Partei, die schliesslich auch die Partei der Wollny war, Donnerlittchen. Wurde er, Lautengässer, langsam irre; lächelte der Erich ihm zu, zwinkerte er ihm zu, unter uns Genossen? Was war in die Wollny gefahren? Zuviel Westkaffee getrunken?

„Ich verstehe nicht.“

Die Sekretärin schaute zu Erich Honecker auf, seufzte, und wendete sich dem Mann hinterm Schreibtisch zu. „Der Duft. Er steigt auch ihm in die Nase.“
„Hören Sie …“

Geniesserisch schloss sie die Augen, hmmm. „Ich mag ihn. Den Honecker, meine ich. Ich habe mir immer vorgestellt, er kommt am Wochenende an meinem Schrebergarten vorbei und bleibt am Zaun stehen. Ich stehe grad bei den Stachelbeeren. Er hebt seinen Strohhut hoch und grüsst mich. Ich frage ihn, ob er Appetit auf was Süsssaures hat, und er ist begeistert und sagt: ‚Ja, toll!' Und ich pflücke eine Handvoll, schenke ihm die Beeren und sehe, wie er sie beim Weitergehen futtert. Er verzieht ein bisschen das Gesicht – Stachelbeeren sind so süss und sauer …“
„Was für einen Unfug reden Sie?“ Lautengässer blickte zwischen dem Porträt und der Frau hin und her, auf dem Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland dampfte der Kaffee. „Sind Sie verrückt geworden?“
„Was ich noch sagen wollte“, sagte sie. „Ich werde die Schule verlassen.

Die Schule verlassen? Wie? „Die Bürger – reich an Wissen, politisch interessiert und motiviert – verstehen sich zu Recht als mündige Bürger.“ So steht es geschrieben in den Papieren des vergangenen Wochenendes. Ruhig bleiben. Vor dir steht nicht irgendwer –, sondern eine mündige Bürgerin. Sie will sich „in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auf allen Ebenen einbringen.“ Wie alle Bürger des Landes, und das gilt auch für Privat, oder, alle Ebenen sind jede Ebene.

„Aber warum?“, fragt Lautengässer.

„Das möchte ich Ihnen nicht sagen.“
„Sie können mir alles sagen.“
„Ach, ich möchte lieber nicht.“

Der kommissarische Schuldirektor räusperte sich. „Verhalten wir uns nicht ein bisschen albern?“ (Hiess: Verhalten Sie sich, Frau Wollny, nicht sehr kindisch?) „Wir sind doch mündige Bürger.“ (Hiess: Ich, Erwin Lautengässer, bin unbedingt ein mündiger Bürger und als solcher ein aufmerksamer Genosse, das eine ist im Idealfall das andere.)

„Was heisst das?“, wollte die Sekretärin wissen.

„Ein mündiger Bürger ist ein Bürger, der seinen Mund nicht hält und sagt, was ihn stört. Am besten noch, er bietet auch eine Lösung an. Probleme, Probleme gibt es ja genug, Probleme haben wir alle, nicht wahr.“ (Vielleicht sollte ich heute Nachmittag meine Einführungsrede so beginnen. ‚Wir alle haben Probleme, wir alle kennen Probleme, wir alle könnten stundenlang lamentieren – aber was uns weiterbringt, ist, dass wir anpacken, Lösungen sind die Losung der Stunde'; war das nicht ein hübscher Slogan? Muss ich mir merken.)

Ach, Lautengässer, du armer, humorloser Mann! Was sollen mir diese Phrasen, mit denen ich, hätten sie ein Gewicht und liessen sie sich in Säcke abfüllen – über all die Jahre hätte ich riesige Löcher stopfen können. Gut. Also wenn du es wissen willst, wenn du es wirklich wissen willst:

„Ich war gestern drüben. In Westberlin. Da lebt meine Schwester, in Moabit …“
„Sie haben eine Schwester drüben?“
„ … Seit fast 30 Jahren besucht sie mich. Ein-, zweimal im Jahr. Ich habe sie in der Zeit nie besuchen können. Ich habe mich in meinen Trabant gesetzt und bin zu ihr gefahren, einfach so, einfach so.“

Frau Wollny holte tief Luft.

„Sie kriegte fast einen Herzkasper, als ich bei ihr klingelte! Verstehen Sie?… Und … Wir haben geweint und gelacht und am Ende beschlossen: Wir ziehen zusammen. Ihr Mann, mein Schwager, ist seit 15 Jahren tot. Er war Eisenbahner und ist verunglückt … Meine Schwester lebt seitdem allein. Und meine Kinder, nicht mehr lange, und sie gehen aus dem Haus. Sie hat eine guteRente. Und ich … Ich kann irgendwo arbeiten, irgendwas. Und … “

Marina Wollny redete und redete, und Lautergässer sass und sass und hörte zu, und als die Frau aufhörte zu reden und darauf wartete, dass er etwas zu ihr sagte – da hatte er keine Wörter, und es sprangen auch keine Wörter aus der Zeitung, die vor ihm lag, und viele, viele Seiten füllten.

„Sind eben harte Zeiten“, sagte sie zum Schluss.

Und als sie durch das Zimmer schritt, die rechte Hand zum wedelnden Gruss erhoben – war eben aus der toughen werktätigen Frau Wollny die supertougheMinelli in „Cabaret“ geworden – , und als sie den Raum verliess und die Tür sanft ins Schloss gleiten liess, lautlos bis auf einen leisen Schmatz –,da schüttelte Dr. Erwin Lautengässer den Kopf und fragte sich, nach welchem surrealistischen Bühnenstück sich eben der Vorhang schloss.

*

„Ich geh da nicht hin“, sagte Kotte.

„Du gehst da nicht hin, ei, ei“, wiederholte Christa Schaffner im Tonfall einer Kindergärtnerin, die den fünfjährigen Werner trösten muss, weil er eben vor lauter Wut und Ohnmacht das Spielzeugauto eines Kameraden zertreten hatte. „Du bist ja ein richtiger Widerständler, mein Lieber! Wenn du jetzt mit den Füssen tüchtig aufstampfst, wird die Erde beben. Aufbrechen wird sie! Und dem Riss wird eine Armee von Geistern entweichen, die Protest, Protest, Protest rufen und – sie werden einem gewissen Werner Kotte folgen, der mit einer Zeile von Hölderlin – mir fällt grad keine ein – ihnen vorangeht … “
„Ich kann mich selber verarschen“, knurrte der erwachsene Mann; es ist doch immer nur eine Frage der Zeit, dachte die Physiklehrerin, wann aus einer erwachsenen Puppe der wütige Knabe schlüpft, der die Suppe nicht essen will.

„Ich finde, es könnte interessant werden. Ich will hören, was die Partei zu sagen hat. Ich finde es spannend und ulkig und tragisch. Gutes Theater!“
„Er wird sich eine Fussbank mitbringen, um hinterm Pult aufzuragen. Autoritätssteigerung! Ich höre mir das nicht an. Die Partei! Ist Lautengässer die Partei?“
„Zumindest hat er immer recht“, flachste Christa.

Sie sassen beim Frühstück. Beide mussten erst zur dritten Stunde in die Schule. Sie hatten am Wochenende zur Kenntnis genommen, dass Tausende, Zehntausende Bürgerinnen und Bürger seit Freitagabend aus dem Ostteil der Stadt in den Westteil zogen. Sektflaschen schäumten, Autos hupten, an der Mauer pickten Hämmer und Hacken, ein allgemeines Besoffensein, eine allgemeine Umarmerei – Christa und Werner waren irritiert und fühlten beinahe nichts. Jedenfalls nicht die Euphorie, die all die Menschen ergriffen hatte und loslaufen liess. Wie auf ein Signal hin, das die Tausenden gehört und verstanden hatten. Nur diese beiden Lehrer nicht. Doch, sie fühlten etwas: eine dumpfe Leere, eine Bange, als entglitten ihnen Gewissheiten, etwa, dass die Erde rund sei und ein Kilometer aus 1.000 Metern bestand.

„Lass alles stehen“, sagte Christa. „Den Abwasch mache ich heute Abend.“
„Du gehst da also hin?“, fragte Werner.

„Ich möchte schon hören, was die Partei ‚zur gegenwärtigen Situation im Allgemeinen und im Besonderen' zu sagen hat.“
„Lautengässer ist nicht die Partei!“ Das Kindergartenkind Kotte ballte die Fäuste und schlug auf den mit einem Wachstuch bekleideten Essenstisch im grossen Gemeinschaftsraum des Kindergartens ein;Christa Schaffner verdrehte die Augen – schon erstaunlich, wie klein die Fäuste ausgewachsener Männer werden, wenn kindlicher Trotz ihr Hirn bestimmt – und stellte das Frühstücksgeschirr in das Spülbecken.

*

Kotte war bei seinem Entschluss geblieben: Er sass, sechs Stunden später nach Unterrichtsschluss, nicht unter den drei Dutzend Lehrerinnen und Lehrern, die sich in der Aula versammelt hatten. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, er war keiner Parteidisziplin unterworfen, er hatte keine Strafe zu gewärtigen; und Erwin Lautengässer hatte keine Fussbank beigeschafft, nicht mal das Pult benötigte er zur „Autoritätssteigerung“. Der kommissarische Schuldirektor sass auf einem Stuhl in der der Leere der Bühne, ein Mahnmal der Konzentration –ein Denk-Mal der verwundbaren Nähe zum Publikum? Ein paar Blätter Papier hielt er auf den Knien. Und er referierte fast aus dem Stehgreif:

Bürgerinitiativen sollen Möglichkeiten gegeben werden, ihre Ansichten in den örtlichen Volksvertretungen darzulegen.

Ein neues Wahlgesetz werde freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen gewährleisten.

Die Welle der Selbstkritik, einer ehrlichen, schonungslosen Selbstdurchleuchtung der Versäumnisse und Schwächen einzelner, auch sehr hoher Parteifunktionäre werde das Meer der Partei reinigen.

Die eingeleitete Wende bedeute für uns zugleich, die DDR als demokratischen, dem Antifaschismus verpflichteten, weltoffenen und jederzeit berechenbaren sozialistischen Staat zu stärken.

Nicht ungeschickt, urteilte Christa Schaffen kühl, wie der Genosse redet. Sie sass in der dritten Reihe, rechts und links die Stühle frei. Auf alles ging Lautengässer ein. Umwelt. Demokratie. Der Hauch von Selbstkritik, der sich zum Sturm der Erneuerung auswachen wird. Empörung „an sich“ sei ohne Wert, sie müsste fokussiert werden, lösungsgebunden sein, zielorientiert. Schon wahr, dachte die naturwissenschaftliche Lehrerin, das ist wie mit der Knallgasprobe. Mischt man Wasserstoff und Sauerstoff in unkontrollierter Dosis und lässt das Gemisch aus einem Reagenzglas über die Flamme eines Bunsenbrenners entweichen …

„Wir wissen, dass wir auf die Sympathie und Aufgeschlossenheit aller rechnen können, die in der Existenz und in der Friedenspolitik der souveränen Deutschen Demokratischen Republik einen unabdingbaren Faktor der Sicherheit und Stabilität in Europa sehen“, führte Lautengässer aus.

Wasserstoff. Sauerstoff. Die Dosis macht's. Und: zu spät, zu spät, zu spät, dachte die Lehrerin. Da sind sei immer noch, diese Satz-Ungetüme, diese Wort-Brocken. Und der Glaube, in aller Namen zu sprechen und zu denken, anstelle aller zu denken und zu sprechen und – handeln zu lassen. Das durchaus Vernünftige und das Geprassel des Abstrakten, des Wünschenswerten, des nicht mehr Realen …

Und Erwin Lautengässer, der die Rede seines Lebens hielt, beendete sie mit der Bemerkung, dass es „für unser aller Kampfeswille“ spräche, wenn die Kollegen einen Brief unterzeichneten, als Schulkollektiv, der an die Genossen des Zentralkomitees der SED geschickt werden sollte … Stühle scharrten, ein Gesäusel entstand im Publikum … Der Sportlehrer Kowalski habe bereits unterschrieben, zwei andere Pädagogen, Kollegen, ebenfalls …

Christa Schaffner sah sich um. Die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen hielten die Köpfe gesenkt: wie Kinder, denen im Unterricht eine Frage vorgesetzt wurde und die darauf hoffen, nicht zu ihrer Antwort namentlich aufgefordert zu werden. Das ist blöd, dachte Schaffner, da musst du dich aufrecht hinsetzen, den Rücken durchdrücken, erhobenen Hauptes und selbstbewusst lächeln (und trotzdem hoffen und beten, dass du es nicht bist, den der Lehrer gleich anspricht) – aber, dachte die Schaffner, ich fürchte mich ja gar nicht, auch wenn ich die Antwort nicht weiss. Es gibt niemanden, der im Augenblick eine Antwort hat auf das, was im Lande geschieht. Und schon gar nicht erscheint es als passend, Briefe der Sympathie, der Parteinahme zu schreiben – für einen Verein, der ihrer Ansicht nach aufgelöst und grunderneuert gehörte.

„Ich setze meinen Namen nicht darunter“, sagte sie; dass sie aufgestanden war, hatte sie nicht bemerkt.

„Werte Kollegin“, sagte Lautengässer. „Ich habe den Brief noch nicht einmal vorgelesen. Und ich weiss, dass Sie als Naturwissenschaftlerin, gerade als Naturwissenschaftlerin, selbstverständlich Wert auf den faktischen Inhalt …“
„Ach was“, erwiderte sie. „Meinetwegen müssen Sie den Brief nicht vorlesen. Ich bin zu alt für solche – Ergebenheitspost. Ich habe keinen Grund, mich demütig zu verhalten. Ich habe nichts verbrochen, wofür ich mich entschuldigen müsste. Ich finde eher“, sie atmete tief durch, „dass sich andere bei mir oder von mir aus beim Volk entschuldigen müssten.“ Was redete sie so?

Lautengässer, der mit flinken Augen die Anwesenden musterte, entgegnete: „Ich bitte Sie! Es geht nicht um Demut! Es geht um unser Land! Wir können doch nicht die Augen verschliessen vor den – ja Machenschaften derjenigen, die nur eines wollen: dieses Land untergehen zu lassen.“
„Bonner Ultras und ihre Handlanger?“, fragte Christa Schaffner sarkastisch.

„Das ist ein Begriff aus der Mottenkiste des Kalten Krieges!“
„Habe ich während meines Studiums gelernt, stimmt. Ist eine Weile her. Aber ist der Kalte Krieg auf einmal vorbei? Falls ich Eins und Eins noch immer richtig zusammenrechne, haben besagte Ultras gewonnen. Oder sie sind auf dem Weg zum Sieg.“
„Niemals!“ Erwin Lautengässer hatte sich von seinem Stuhl erhoben und war an den Rand der Bühne getreten. „Darum geht es doch gerade! Der Kalte Krieg ist nicht vorbei! Es besteht die Gefahr einer Erhitzung! Wenn wir jetzt nicht aufpassen“, rief er, breitete die Arme aus, um alle, alle zu umarmen, um alle zu beschützen; er legte eine kurze Pause ein, um kämpferisch fortzufahren: „Wir gehen nicht in die Knie. Wir geben nicht auf. Wir lassen uns vierzig Jahre Sozialismus nicht kaputtmachen, nicht wegnehmen. Das Volk …“
„Sie“, siedendheisse Wut stieg in ihr auf, „Sie werden mich nicht in eine verheissungsvolle Zukunft schwätzen können! Dafür bröckelt es zu sehr in der Gegenwart. Dafür bröckelt es schon zu lange. Was Sie erzählen, Genosse Lautengässer, ist der ganze Mist von gestern und von Schonimmer und von Immernoch und Jetzterstrecht …“

Nein, sachlich war sie nicht. Nein, sie konnte nicht sachlich sein. Ihr Sarkasmus war all die Jahre lang ein Panzer gewesen, ein sehr, sehr dünner, merkte sie. Warum ihn tragen? Warum trug ich ihn überhaupt? Und wo bist du jetzt, Kotte, jetzt, wo ich dich brauche, du Feigling! Warum hast du mich nicht abgehalten, zu dieser hirnrissigen Veranstaltung zu gehen? (In ihrer Rage vergass sie, dass sie es war, die ihn überreden wollte, mitzugehen, und dass er es war, der sich dagegen entschieden hatte.) „Dieses Theater habe ich satt! Bis oben!“, rief sie, stiess ihren Stuhl um und rannte aus der Aula.

Lautengässer schaute ihrem Abgang nach. Auf seinem Gesicht das Lächeln des Verzeihenden. So ist sie eben, unsere Kollegin Schaffer, immer ein bisschen aufmüpfig, immer ein bisschen schräg drauf; und lebt sie nicht gerade in einer sehr angespannten Lebenslage? Der Mann ist abgehauen, und ihr Liebhaber, also das wissen wir doch alle, ist unser Kollege Kotte. Der ja bekanntermassen auch immer ein bisschen überspannt ist. Sehr emotional die beiden. Ihnen fehlt es an Fundament, meiner Ansicht nach. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird gebildet durch die wissenschaftlichen Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Und in Situationen wie diesen, wo es klar darauf ankommt, sich zu positionieren und zu zeigen, auf wessen Seite man steht – da trennt sich die Spreu vom Weizen. Wenn es hart auf hart auf hart kommt, dann fallen die Masken, und Defätisten, Nihilisten, Nörgler zeigen ihr wahres Gesicht. Wir aber sagen mit Lenin; Alle revolutionären Parteien, die bisher zugrunde gegangen sind, gingen daran zugrunde, dass sie überheblich wurden und nicht zu sehen vermochten, worin ihre Kraft lag, dass sie sich scheuten, von ihren Schwächen zu sprechen. Wir aber werden nicht zugrunde gehen, weil wir uns nicht scheuen, von unseren Schwächen zu sprechen und es lernen werden, die Schwächen zu überwinden.

„Wir haben“, fing Erwin Lautengässer erneut zu reden an, „die Fähigkeit zur Kritik und zur Analyse. Die Partei, das müssen wir zugeben, hinkt der Entwicklung hinterher. Wir haben an Vertrauen verloren und müssen es zurückgewinnen. Um der Sache des Sozialismus wegen. Und ich bin optimistisch. Wir haben eine enorme Kraft …“

Dass sich die Geschichte in Widersprüchen bewege;

dass es einen Zickzackweg des Fortschritts gäbe;

dass ein Zick eine gewisse Stagnation sein, dass ein weiteres Zack aber ein Aufschwung sein könne und müsse;

„ … mit unserem Volk, mit der Masse der Parteimitglieder, die sich auf dem Weg der Erneuerung befinden und sich einreihen in die Marschkolonne der Geschichte – der Sozialismus hat mit uns allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gute Chance. Wie soll denn ein sozialistisches Land aussehen, in dem nicht die Sozialisten die Führung innehaben? …“

Und noch einmal redet Lautengässer sich in Schwung:

Dass wir mit den Beiträgen auf dem zehnten Plenum zufrieden sind;

dass sie sich unterscheiden durch Kritik und Analysen, darin unterscheiden sich die Beiträge von anderen Plenen;

dass das Plenum alles in allem einen unerhört grossen Fortschritt bedeuten, auch wenn sich unter den Rednern – aber das gehört zur neuen Ehrlichkeit – etliche Wendehälse befanden …

Und als Lautengässer zum Ende kommt, den Brief verlesen hat, zu dessen Zustimmung und Unterschreibung er bitte, ob es Gegenstimmen gäbe („ausser der einen etwas unsachlichen, die wir gehört haben“) – da erhoben sich zögernd, schliesslich einverständlich die Hände aller noch anwesenden Personen in der Aula. Einige fehlten entschuldigt, einige fehlten unentschuldigt; der Schulbetrieb musste weitergehen.

Mittwoch, 15. November

„Raskaschij!“ *, befahl Nesgir.

„Tschto?“, fragte Gadji.

Ihr Vater war vor zwei Tagen in das jährliche Herbstmanöver gezogen; er wurde für übermorgen zurückerwartet. Ihre Mutter klapperte in der Küche mit dem Geschirr, und Nesgir lag in ihrem Bett, hielt, wie an den Abenden in Baku noch vor kurzer Zeit, den Rüssel eines rotweissen Plüschelefanten in der linken Hand. Ohne den konnte sie nicht einschlafen, niemals, egal wo. Und ohne ein Märchen auch nicht.

„Nje snaju“, sagte sie und steckte den Rüssel probehalber in den Mund. Schmeckte wie immer, alles war in Ordnung. Nesgir war bereit zum Kampf gegen das Einschlafen.

„Tuij ustaluija“, sagte der Bruder. Müde … wie ein Hündchen, dachte er auf Deutsch.

„Ja nje ustaluija!“, sagte die Schwester grimmig und rieb sich heftig die Augen.

Gadji setzte sich zu seiner Schwester, zog die Bettdecke zurecht; Nesgir strampelte sie weg. Maljenki tschjort, grinste Gadji, immer dasselbe, immer derselbe kleine Teufel, der abends erwachte. Er legte seine rechte Hand auf den Haarschopf der Schwester, und ihm fiel ein, wie er – wie lange war das her? rasendschnell vergingen die Tage – auf dem Krankenbett sass, in dem Vera lag. Und er hatte den Wunsch gespürt, der Klassenkameradin über das Haar zu streichen. Hatte er Vera nicht auch von seiner Schwester, die sich nach Belieben in Teufelchen, Prinzessinnen, Elefantenpflegerin und IndiePfützespringerin verwandeln konnte? Auch rasenschnell?

„Ja budu jarostnaja!“, schimpfte Nesgir.

„Tuij jarostnaja“, sagte er. Wütend warf sie den Elefanten nach ihm. Er fing ihn auf – für einen Volleyballer ein selbstverständlicher Reflex – wie … Gernot fiel ihm ein. Was ist los mit mir? … kostuilj … die … Krücke? Oder Kljuka, der Krückstock? … Vera kommt an einer Krücke ins Klassenzimmer und setzt sich – wie selbstverständlich? – neben Gadji. Wie schön sie ist. Und wie sie vor Wut bebt und eine der Krücken wirft – nach diesem Gernot, ihrem Freund. Als der mit seinen Freunden halb betrunken hereinkommt. Wie … Verrückte … besumnuije … benehmen sie sich. Was war in sie gefahren, was ist in die Deutschen gefahren?

„Nu tschto?“ Nesgir funkelte ihn an; noch so eine besumnuja.

Es kam, wie es immer kommt: Gadji erzählte der Schwester die Geschichte, die sie am liebsten hört, obwohl sie am Schluss jedesmal – falls sie nicht vorher eingeschlafen ist – behauptet, dass sie die blöd fände. Gadji wusste, dass sie auch diesmal empört sein wird über den Schah von Schirwan. Jener begehrte ein Mädchen, das aber einen Liebsten hatte. (Als Nesgir wissen wollte, was begehren heisst, gab Gadji zur Antwort: Sie haben und festhalten wie du deinen Elefanten. Und Nesgir sagte: Aber ein Mädchen ist kein Spielelefant. Nein, sagte Gadji, gewiss nicht. Und jemanden begehren ist so, als wollte man mit jemandem auf einem Regenbogen spazieren gehen oder gleich auf ihm leben. Gut, sagte Nesgir, ich habe verstanden.)

Was sollte das Mädchen machen? Ist Wille eines Mädchens allein gegen den Willen eines Herrschers nicht ein brennendes Streichhölzchen in einem Windstoss? Der Schah bedrängte sie, und dem Mädchen blieb nur eine List. Bau mir einen Turm, der vom Grunde bis an die Oberfläche des Meeres reicht! verlangte sie. In einer Nacht! Dann will ich dir gehören. (Unfug, hatte Nesgir ihn unterbrochen, als Gadji das erste Mal die Geschichte erzählte. Kein Herrscher baut einen Turm selber! Er hat Sklaven dafür, Bauarbeiter! Die müssen für ihn arbeiten! Gut, hatte Gadji gesagt, das sagt man so. Natürlich liess er den Turm bauen, von anderen, die was davon verstanden. Und als die Nacht vergangen war …)

… und als die Nacht vergangen war, stand der Turm. Das Mädchen hatte sich in das oberste Zimmer zurückgezogen und wartete voller Angst auf den Schah. Sie hörte, wie der die Treppe hinaufstieg, trappschlapptrapp, als ihm der Freund des Mädchens entgegentrat. Der erschlug den Schah von Schirwan, eilte die Treppe hinauf, trippschlipptripp, voller Freude, klopfte an die Tür …, aber das Mädchen, in dem Glauben, der Schah träte gleich ein und fordere ihre Hingabe ein, sprang aus dem Fenster in das Meer und ertrank.

Jedes Mal, wenn Gadji das Märchen beendete, schluchzte Nesgir, halb wach, halb im Schlaf – falls sie nicht vorher eingeschlafen war, den Elefanten schützend im Arm –, “warum hat sie die Tür nicht geöffnet, das war dumm“, murmelte sie. „Wo steht denn dieser Turm?“, wollte sie wissen. Obwohl esNesgir wusste: Er steht in der Altstadt von Baku, und sie hatte ihn gemeinsam mit ihrer Mutter oft besucht. Nicht weit weg von der Wohnung. „Aber er steht nicht im Meer!“, beharrte Nesgir. Stimmt, das Meer hatte sich zurückgezogen, es war einmal dort, wo der Turm noch steht. „Ich würde es tun“, meinte Nesgir dann. „Was würdest tun?“, fragte der Bruder. Aber Nesgir schlief. Sie hat noch nie diese Frage beantwortet, aber Gadji wusste, was sie antworten würde: Ich würde die Tür öffnen und nicht aus dem Fenster springen.

Gadji strich die Bettdecke glatt und drückte der schlafenden Schwester den Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn.

Im Flur zog er sich an. Stiefel, Wollmütze, eine mit Lammfell gefütterter Lederjacke. Die Mutter kam aus der Küche, ein Handtuch zwischen den Händen, sie pustete ein paar Strähnchen, die dem straff gebundenen Haar entkommen waren, aus dem Gesicht.

„Kuda tuij idjosch?“, fragte sie ruhig.

„Na ulizach“, antwortete Gadji.

„Mnje straschna.“

Der Sohn überragte seine Mutter um mehr als Haupteslänge. Er zögerte, ertrug den langen Blick aus ihren Augen (was suchte sie zu finden?) –, dann nahm er sie in seine Arme und fühlte, wie sie erzitterte und weinte. „Mama? Warum weinst du?“ Gab es Neuigkeiten, schlimme Nachrichten, von denen er nichts wusste? War etwas mit dem Vater passiert? Es geht uns doch gut; oder geht es uns nicht gut?

Und es war Gadji ein bisschen peinlich. Sie hatten keine Zuschauer, aber er kann sich und die Mutter im Spiegel sehen: Wie er die Mutter, als sei er ein Ilja Muramez und sie ein kleines Mädchen, das sich im Wald verirrt hat, umarmt und schützt; vor einer Gefahr, die er nicht kennt, die es nicht gibt, jedenfalls spricht die Mutter nicht davon.

Sie reisst sich los und sagt entschieden: „Itij!“
„Mnje nado nje ititj.“

Doch, doch. Die Mutter schüttelte den Kopf, schniefte, wischte sich mit dem Handtuch über das Gesicht, ihre Augen ein klargeschwaschenes dunkles Blau. „Ja nje ljublju germaniju, ja nje ljlublju njemzow!“, sagte sie leise. Sie zog die Schultern hoch und die Stirn kraus, und sie lächelte – was soll man schon machen gegen so ein Gefühl, mein Sohn, geh jetzt, es wird, alles wird.

Novemberabend in Berlin. Nieselig, neblig, trübe. Die Feuchte dringt durch die Kleidung der Passanten, egal, wie viele Lagen Stoff sie tragen. In den Auslagen der Geschäfte hat das Weihnachtsfest begonnen. Krippenspiele aus Pappmaché, Weihnachtsmänner mit Wattehaaren nicken unaufhörlich mit den Köpfen. Aus einem Lautsprecher, den eben ein Mann über der Tür seines Fleisch-Ladens angebracht hat, klingt es: „Schneeflöckchen, weiss Röckchen, wann kommst du geschneit …“ Schneeflöckchen, weiss Röckchen wird schon wissen, warum es noch nicht geschneit kommt – in dieses Miesepeterwetter hinein will doch kein Eiskristall. Und an einem Novemberabend in Berlin sieht die ganze bunte Pracht aus, als wollte sich irgendwer über irgendwas lustig machen.

Gadji ging durch die Strassen und hatte keinen Blick für die Geschäfte. Er stromerte herum, wie er es gern in Baku getan hatte. Nur hier war er allein. In Baku traf er immer auf einen,auf zwei oder drei der Jungs, und sie zogen als Trupp weiter. Tranken Tee an den Kiosken in den Parks und pfiffen den Mädchen nach. Oder sie setzten sich auf die Steine am Ufer des Meeres, schauten hinaus, sprangen ins Wasser – nun, im November nicht –, warfen Angelschnüre aus, ob ein Fisch anbiss oder nicht, war ihnen egal, Hauptsache, sie waren zusammen. Gadji war nicht traurig, als er da so ging, er konnte gut allein sein, aber …

„Gadji! He, Gadji!“ Er fuhr herum. Das Mädchen, das ihn gerufen hatte, war Sylvia; ein Mädchen, das ihm, wenn sie ihn ansah oder ansprach in der Schule, ein bisschen unheimlich war. Ziemlich dreist, kokett, sehr selbstsicher, obwohl Gadji das Gefühl hatte, dass sie den Vamp, die Monroe, irgendein Biest aus irgendeinem Film nur spielte, um – etwas anderes, Unfertiges, zu verbergen.

Aber das Mädchen, das neben ihr stand, liess ihn lächeln. Vera Lothringen. Hoffentlich grinse ich nicht wie ein Blödian, dachte Gadij, wie ein Bolwan. Konnte Sylvia ihn in eine Verlegenheit, die ihn nicht verunsicherte, so konnte Vera ihn in eine Verzauberung versetzen, die ihn lähmte. Beide Mädchen hatten rote Nasen und Wangen, die Farbe der abendlichen Kühle und Nässe; beide Mädchen hielten in ihren Händen – Vera noch dazu mit einer Krücke – Einkaufsbeutel. Sie waren gerade aus einem Laden, über dem „Porzellanwaren“ standen, getreten und hatten ihren Klassenkameraden entdeckt.

„Bei dem Wetter“, sagte Sylvia. „Gehst du spazieren?“

Er nickte. Das war die Wahrheit. Er ging so für sich hin. Und war froh, dass Gedanken, Grübeleien, alles Nachdenkliche, auch Schwermütige, im Kopf blieben und nicht hinter ihm her flatterten wie die seidenen Bänder bei rhythmischer Sportgymnastik.

„Du Glücklicher“, seufzte Sylvia. „Während wir Mädchen uns um die Geschenke zu Weihnachten kümmern müssen, gehst du also einfach so spazieren.“
„Weihnachtsgeschenke“, sagte Vera und nickte.

„Eine Vase für die Mama“, ergänzte Sylvia, „Zigarren für den Opa. Sekt für den Papa … ‚Selbstverständlich eine Marke, die uns selber schmeckt'“, trällerte das Mädchen die Zeile eines Liedes, das Gadji noch nie gehört hatte.

„Warenaustausch“, sagte Vera; sie lächelte ihn an und zuckte mit den Schultern, fast, als wollte sie sich entschuldigen? „Wir schenken den Eltern was, die Eltern schenken uns was.“
„Schenken ist schön“ sagte Gadji.

„Beschenkt werden ist noch schöner“, sagte Sylvia.

„Mir ist kalt“, sagte Vera.

„Wollen wir ins Café gehen?“, schlug Sylvia vor.

Und plötzlich, plötzlich fragte Gadji: „Möchtet ihr tanzen!“
„Tanzen? Na, da würde mir echt warm werden.“ Aber Tanzen, jetzt, auf der Stelle sozusagen, war der Russe verrückt?

„Wir können in die Diskothek gehen“, sagte Gadji. Er strahlte und streckte die Hände aus, um den Mädchen – vor allem Vera – die Einkaufstüten abzunehmen.

„In eine Diskothek? Einfach so? Es ist mitten in der Woche! Wo leben wir denn?“
„Ich habe noch nie auf drei Beinen getanzt“, sagte Vera leise.

„Krückstock“, sagte Gadji, „heisst auf Russisch Kljuka. Das geht … Kommt, na los!“

„Ich glaub's nicht“, sagte Sylvia zu Vera, als die beiden Mädchen ihrem verrücktgewordenen Klassenkameraden – vielleicht sind die Jungs in Aserbaidschan alle so –folgten.

Was ist in mich gefahren? Gadji geht voran, es sind nur wenige hundert Meter weg von der grossen Hauptstrasse, die den Stadtviertel Berlin-Karlshorst teilt, hin zu dem Kulturhaus der Roten Armee. Ist das eine gute Idee? Gadji, er trägt die Weihnachtsbeute der Mädchen, möchte die Einladung am liebsten rückgängig machen. Er war, seit sein Vater und die Familie nach Berlin gezogen waren, vielleicht ein halbes Dutzend Mal in der Diskothek gewesen. Da waren sie unter sich, die Söhne und Töchter von Vätern, die ihren Waffendienst in einem fremden Land verrichteten; deutsche Mädchen oder Jungs waren nie auf der Tanzfläche oder vor den Spielautomaten. Sie wären ihm, sie wären allen aufgefallen. Es war, als gäbe es eine himmelhohe und tief in der Erde verankerte Milchglasscheibe – auf der einen Seite die Deutschen, auf der anderen Seite die „Russen“. Es war eine Milchglasscheibe, die nicht aus Glas war, die durchlässig war, die jederzeit von jedem durchwandert werden konnte – aber diese Wanderung im Alltag fand nicht statt. Würde Gadji nicht in eine deutsche Erweiterte Oberschule gehen – er würde die andere Seite vermutlich auch nicht betreten. Und er wäre niemals Vera Lothringen begegnet?

„Hier?“, fragte Sylvia. Über dem breiten Tor des Eingangs, zu dem eine schmale Freitreppe hinaufführte, stand „Diskoteka“ und „igr“.

„Seltsam“, murmelte Vera. „Ich bin hier schon oft vorbeigekommen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen … Warum nicht?“
„Dürfen kleine, unschuldige deutsche Mädchen hier überhaupt rein?“ Eine typische Sylvia-Frage, provokant, neugierig und zugleich – unsicher.

„Unschuldige nicht“, erwiderte Gadji mit einer Forschheit, die ihn selbst überraschte.

Er nahm das Zögern der beiden Mädchen ernst. Er war sich plötzlich überhaupt nicht sicher, ob es eine gute oder eher eine Schnapsidee war, Sylvia und Vera zum Tanzen einzuladen. Er würde mit zwei deutschen Mädchen auftauchen, und wenn das auch keine grosse Sache war – es war mindestens ungewöhnlich und würde für Aufsehen sorgen. Vielleicht war mir bei meinen bisherigen Besuchen nur nicht aufgefallen, dass unter den Anwesenden auch deutsche Jugendliche waren …

„Ich find's spannend“, sagte Sylvia. „Es lebe die Deutsch-Sowjetische Freundschaft! Worauf warten wir?“

Im Foyer des Gebäudes standen Spielautomaten, die klirrend und klackernd und plärrend ihre Betreiber narrten, an den Wänden. Aus dem Saal, zu dem die Türen weit offen standen, quirlte buntes Licht und Metal-Heavy-Musik. Die immer lauter wurde, je näher man ihr kann.

„Zwick mich“, flüsterte Sylvia Vera zu. „Das ist ja hier wie imWesten.“
„Wo können wir die Tüten ablegen?“, fragte Vera Gadji.

„Ich mache das schon“, sagte er und liess die beiden Mädchen erstmal stehen.

Vera war mulmig zumute. Sie spürte, ihr ganzer Leib fühlte, dass sie bemerkt worden waren. Schon, als sie den ersten Schritt in dieses Haus gemacht hatten. Niemand gaffte sie an, niemand lächelte sie an, niemand versuchte, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Aber Vera wusste, dass sie registriert wurden. Als ein Mädchen in einem bunten Kleid aus Seide an ihr vorüberging, lächelte Vera sie an. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke, das fremde Mädchen schlug ihre Augen nieder und verschwand in Richtung der Toiletten.

„Sie ist hübsch“, sagte Gadji, der wieder bei ihnen stand und Veras Blickwechsel gesehen hatte.

„Sehr“, sagte Vera. Vor der Tür zu den Toiletten umarmte das Mädchen ein anderes Mädchen. Sie küssten sich und kicherten; Vera sah es und bezog es auf sich, auf ihr Fremdsein …

„Okay“, sagte Sylvia, „ich geh jetzt da rein. Macht, was ihr wollt!“ Und Sylvia tauchte ein.

„Mutiges deutsches Mädchen.“ Gadji sah ihr nach und lächelte. „Vielleicht findet sie ihren Märchenprinzen.“
„Ist das so in russischen Märchen?“, fragte Vera; sie spürte eine leichte Verärgerung und genau über die ärgerte sie sich. „Entschuldige!“, sagte sie.

„Möchtest du tanzen?“, fragte Gadji. Sie schüttelte den Kopf. Noch nicht. Überhaupt nicht. Oder doch?

„Ich hole dir einen Stuhl“, sagte er. Für ein paar Momente stand sie allein in all dem Licht, in all der Musik und in dem Getöse der Spielautomaten. Aus dem Saal sang Joe Cocker „With e little help fromm y friends“ … Eben hatten sie noch auf der Strasse gestanden, sie und Sylvia,auf einer Strasse, über die sie schon im Kinderwagen geschoben worden waren – jetzt stand sie vor einem Raum, in dem die Diskolichter flackerten, Nebellichter (und war da die Freundin gerade aufgefordert worden, und tanzte sie da nicht los wie eine Verrückte?) – Vera war verwirrt.

„Bitte“, sagte Gadji, als er ihr einen Stuhl anbot und sich selber auf einen setzte.

„Es ist seltsam“, sagte Vera.

„Was?“
„Plötzlich bin ich in einer Welt, die ich nicht kenne. Aus einer Welt, die ich kenne, in eine Welt, die ich nicht kenne.“
„Es ist eine Welt“, sagte Gadji. „Eine einzige.“
„Es ist wie in einem Film. Eben war noch alles bekannt und sicher, jetzt ist alles … in Frage gestellt, bunt, erstaunlich … Ich weiss nicht …“
„War es so – ähnlich. Wie du mit Leuten, die du kenntest, auf der Demonstration warst – und dann liegst du im Krankenhaus?“
„Als“, sagte Vera; und wollte sich auf die Lippen beissen. „Als“ du mit Leuten muss es heissen; was für eine verdammte Klugscheisserin bist du? fragte sie sich. „Ich glaube“, sprach sie hastig los, „dass jeder Mensch auf einem eigenen Stern lebt“, (was rede ich hier?), „jeder versucht, sich auf seinem Stern einzurichten, und es gibt zwar einen Funkkontakt zu den anderen Menschen, zu den anderen Sternen … Und manchmal kreuzen sich die Bahnen, sie prallen zusammen … Aber eigentlich …“

„Aber es hat einen Sinn“, sagte Gadji ernst. „Wie im Weltall auch. Sie sind abhängig voneinander. Die kleinen werden von den grossen angezogen und abgestossen. Sie kommunizieren. Es ist eine Balance da, ein System, eine Ruhe.“
„Willst du mal Kosmonaut werden?“, fragte Vera; es musste möglich sein, von diesem Zeug herunterzukommen aus ein – auf eine Plauderei, auf einen harmlosen Flirt …

„Warum nicht?“, sagte er. „Ich werde den Stern suchen, auf dem du lebst.“ Nach einem solchen Satz rot zu werden im Gesicht, war unvermeidlich. Oder es war das rötliche Licht, das aus dem Saal schien. Möglich war alles.

„Ich wohne drei Ecken weiter“, sagte Vera. „In meiner Strasse gibt es keinen Parkplatz für Raketen.“

„Dann werde ich dich nicht finden“, sagte er. „Jedenfalls nicht als Kosmonaut.“
„Bis dahin wird es auch noch eine Weile dauern“, sagte Vera. „Eigentlich schade.“ Das war's doch. Sie war auf dem Weg. Beide waren auf einem Weg. Auf dem zuerst die Blicke, dann die Hände …

„Ist das irre!“ Sylvia stand vor ihnen und strahlte wie ein Weihnachtsstern. „Die spielen Audrey Landers. Paul Abdul. Tina Turner. Ich dachte immer, die Russen leben auf dem Mond.“

„Sylvia!“

„Ä, entschuldige, Gadji. Aber ich bin von den Socken.“
„Was heisst: ‚Ich bin von den Socken'?“, fragte er.

„Lass es dir von Vera erklären. Die ist sowieso eine ganz Genaue“, Sylvia zwinkerte der Freundin zu. „Ich habe keine Zeit. Ich muss tanzen, tanzen …“
„Und?“, fragte er.

„Du bist ja ein ganz Genauer“, sagte Vera; jetzt mal kokett weiter auf dem Wege. „Bisschen blöd eigentlich. Der Spruch. Heisst so viel wie: Ich bin überrascht, ich bin total überwältigt.“
„Aber man bleibt in den Socken?“
„Nicht immer.“ Färbte sich Veras Gesicht, oder lag es am aufdringlichen Licht, das durch den Saal und durch das Foyer waberte?

„Sie muss aufpassen“, sagte Gadji.

„Sylvia?“
„Ihr Stern. Er wird aufgehen, und sie wird fallen. Ihr Stern zerplatzt.“
„Was sagst du da? Gadji! Das ist – gruselig. Ich, ich glaube, ich muss jetzt gehen.“
„Bitte, nein. Hörst du die Musik?“

Wieder war Vera in einem Film. Ein Schnitt. Die tosende Musik hatte aufgehört und einem langsamen Lied, in dem eine Frau und ein Chor im Wechsel sangen, Platz gemacht. Die Lichter, grell und hektisch, waren erloschen, und der Saal lag in einem raffinierten Halbdunkel.

„Wollen wir tanzen?“, fragte Gadji; als wäre es die natürlichste Sache der Welt nahm er ihre Linke zwischen seine Hände. Und das allernatürlichste auf der Welt war, dass Vera es so beliess, wie es war. Es war eben einfach so.

„Ich …“ Ihr Kopf weist auf die beiden Krücken hin. Kljuka, Einzahl, Kljuki, Plural, so viel weiss sie aus dem Russisch-Unterricht.

„Du wirst sehen“, sagte Gadji, „als gut du auf vier Beinen tanzen kannst. Ich halte dich, Vera.“ „Wie“, dachte Vera, aber diesmal sagte sie nichts. Wie hiessen „als“ und „wie“ auf Russisch? Und wie wurde es gebraucht, wenn man die Sprache benutzte?

„Komm! Bitte!“, sagte Gadji.

Und sie gingen auf diesem Weg weiter. Hinein in den Saal, in dem das Parkett leer war und niemand tanzte. Die Mädchen und Jungen standen an den Wänden hörten dem Lied zu, sangen stumm mit, und wiegten sich selbstvergessen. Als Gadji und Vera in die Mitte des Saales traten --- als sie sich gegenüber standen und zaghaft zu tanzen begannen --- erst mit einem Abstand, dann liess sich Vera von Gadji führen --- und es ging, als brauchte sie die Krücken nicht mehr, niemals mehr --- auf diesem Weg. Und dann fing es leise und lauter werdend an: dass applaudiert wurde, rhythmisch, dem Lied folgend, die Schritte der beiden Tanzenden begleitend, beflügelnd. Doch kurz vor dem Ende des Liedes, flüsterte Vera: „Ich muss jetzt wirklich nach Hause, Gadji!“ ---„Gut, ich bringe dich nach Hause, Vera.“ --- „Das musst du nicht.“ --- „Ich muss es nicht. Ich möchte gern. Als wie ein Kavalier, weisst du.“

Sie verliessen die Tanzfläche. Im Foyer stand Sylvia neben einem Jungen, der in einem Autorennen des Spielautomaten der Chefpilot war. Er hielt in den Händen zwei Steuerknüppel, mit denen er seinen Wagen mit rasender Geschwindigkeit um Hindernisse lenkte. „Vera, Vera!“, winkte Sylvia. „Ich gehe“, rief Vera zurück. Sylvia legte die rechte Hand auf den Unterarm des Burschen und lief die paar Schritte zur Freundin.

„Ist das nicht Wahnsinn!?“, sagte Sylvia.

„Wie im Westen“, sagte Vera.

„Stell dir vor, der heisst Iwan. Iwan!“
„Wie hast du das herausbekommen?“
„Naja, das weiss man schon. ‚Menja sowut Sylvia'. Und er hat sich verbeugt, echt“, prustete Sylvia los, „und gesagt: ‚Prima, ich cheisse Iwan.' Wenn das nicht komisch ist!“
„Warum ist das komisch?“, fragte Gadji.

„Sei doch nicht so empfindlich“, erwiderte Sylvia, die Euphorische. „War eine tolle Idee von dir, uns hierher mitzunehmen.“
„Bleibst du noch?“, fragte Vera.

„Konjeschno“, sagte Sylvia und machte einen Knicks vor den beiden. Als wäre es das Natürlichste, das Selbstverständlichste im Leben, die Knie zu beugen und trotzdem Herrin zu bleiben und den Überblick zu behalten.

Novemberabend in Berlin. Die Sterne sind in feuchtem grauen Papier verpackt. Schneeflöckchen, weiss Röckchen schläft irgendwo da oben oder ringsherum und will am liebsten auch in diesem Jahr nicht vom Grossväterchen Frost geweckt und auf die Erde geschickt werden. Was soll es dort? Immer die gleiche Stimmung, immer die gleiche Frage, jedes Jahr aufs Neue.

Gadji lief an Veras Seite. Sie schwiegen. Als sie an der Haustür angekommen waren – es sind, wie das Mädchen feststellt, nur wenige hundert Meter zwischen ihrem Zuhause und dem sowjetischen Kulturhaus – erschrak sie. Die Einkaufstüten. „Nicht schlimm“, sagte Gadji. Er würde sie auf seinem Heimweg holen und morgen mit in die Schule bringen. „Danke“, sagte Vera. – „Wofür?“, fragte Gadji. – „Willst du noch einen Augenblick mit hochkommen?“, fragte sie. – „Nein. Nein“, sagte er. – „Halte mal bitte!“ Sie hielt ihm die Krücken hin und kramte in der Manteltasche nach den Schlüsseln. Es dauerte länger als sonst. „Tschüss dann, Gadji“, sagte sie. Und Gadji sagte: „Auf Wiedersehen, Vera!“ Und er wartete, bis Vera die Tür aufgeschlossen hatte, das Flurlicht anging, und er stand noch vor dem Haus, als das Flurlicht ausging und in einer Wohnung im zweiten Stockwerk das Licht anging. Aus, an, aus.

Donnerstag, 16. November

Der Sportlehrer Horst Kowalski brauchte nur sechs, sieben Stunden Schlaf. Er liebte es, spät ins Bett zu gehen und trotzdem morgens um sieben Uhr auf der Matte zu stehen. Was ein Bild dafür war, dass er es liebte, in seinem Refugium zu sein, ehe der Lärm des Schultages begann. Kowalski war der Auffassung, dass er nicht Disziplin von anderen, zudem jüngeren Menschen verlangen konnte – und selber schlampig aufzutreten. Heute stutzte er.

Die Sporthalle war im hinteren Teil erleuchtet. Hatte er die Lampen gestern Nachmittag vergessen, auszuschalten? Dann hörte Kowalski ein Keuchen und Ächzen – und blieb erschrocken stehen. „Ist da jemand?“ Die Frage hallte im Raum, die Geräusche hörten auf. Aus der Ecke, in die Turngeräte, Bälle und Matten gelagert waren, trat dieser neue Schüler, dieser Russe, der exzellent Volleyball spielen konnte. Gagi, fiel dem Sportlehrer dessen Name ein, na bitte, der Kopf funktionierte noch, sollte mal einer sagen, jahrelanges Boxen sorge für Dachschäden.

Gadji steckte in einem durchgeschwitzten Trikot, trug an den Händen Boxhandschuhe und um den Hals ein Handtuch.

„Was machen Sie denn so früh hier?“, fragte Horst Kowalski verdutzt.

„Ich trainiere“, sagte Gadji und wischte sich mit dem Tuch den Schweisse aus dem Gesicht.

„Wie sind Sie hier reingekommen?“

Gadji zuckte mit den Schultern. Welches Problem sollte es sein, ein, zwei Schlösser in einem altehrwürdigen Gebäude wie diesem Gymnasium zu öffnen? Und zwar im Nu.

„Ist ja auch egal“, sagte Kowalski. Er wunderte sich weniger über das Eindringen des Jungen als darüber, dass jemand freiwillig trainierte. Und, wie es aussah, sich tüchtig verausgabte. Dass dies jemand aus der Schar der Mädchen und Jungen tat, die er als eher lustlos und wenig interessiert an körperlicher Betätigung wahrnahm – nun, das kratzte leicht an des Sportlehrers Bild von der heutigen Jugend.

„Wenn Sie erlauben“, sagte Gadji. „Ich möchte gern ein paar Mal in der Woche trainieren.“
„Du meinst“, sagte Kowalski, „du möchtest ein paar Mal in der Woche freiwillig Sport treiben? Ich bin von den Socken.“
„Was heisst das?“ Gadji hatte sich auf eine Bank gesetzt, das Trikot ausgezogen und rubbelte sich mit dem Handtuch trocken.

„Ähm. Natürlich kannst du das machen. Ich … ähm.“ Nun reiss dich mal zusammen, Horst, bist du eine Autorität, ein ehemaliger Leistungssportler, oder bist du ein Weichei und Stotterer. „Ungefähr: Ich bin überrascht. Es wirft mich, ähm, um. Dann ist man von den Socken. Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Danke“, sagte Gadji „Kann ich so früh schon duschen?“
„Das Wasser wird nicht warm sein. Jetzt noch nicht. Saukalt ist es.“
„Macht nichts.“ Gadji grinste. „Kto nje riskujet, tot nje pjet Schampanskoje.“*

Und was hat das alles mit Champagner zu tun, dachte Kowalski. „Entschuldigen Sie, ähm, Gag …“
„Gadji Muuslimsade“, half er aus.

„Man kann sich nicht gleich alle Namen merken“, murmelte der Sportlehrer.

„Natürlich nicht, Herr Kowalski.“

Unglaublich. Ich träume. Das habe ich in zwanzig Jahren nicht erlebt. Ich betrete die Halle, und da ist schon einer drin. Raucht nicht, knutscht nicht rum – treibt Sport. Einfach so?

Und Kowalski hatte eine Idee:

„Gadji, wenn Sie wollen, also ich bin gern bereit, Sie zu trainieren. Wir könnten ein paar Runden boxen …“
„Bitte. Von mir aus – sofort!“

Sofort? Gleich? Jetzt? „Moment, bitte“, sagte Kowalski und spurtet zu seinem Kabuff. Schlüpfte im Handumdrehen in seine Sport-Kluft, nahm die Boxhandschuhe, mit denen er beinahe einmal an Olympischen Spielen teilgenommen hatte (wäre er nicht von einem sowjetischen - ! – Boxer bei Freundschaftskämpfen vor den Spielen so verletzt worden, dass er über acht Wochen pausieren musste) –, vom Haken. Sie waren gut eingefettet eine gepflegte Erinnerung, keine brüchigen Stellen, das Leder nicht ausgetrocknet (Gänseschmalz, einmal wöchentlich). Er streifte sie über, besah sich in einem Spiegel und sah einem erwachsenen, nicht mehr allzu sportlichen, aber auch nicht völlig aus dem Leim gegangenen Mann eine Freude an, die er lange nicht gespürt hatte. Horst Kowalski atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann trat er in die Halle, die treibende Begleitmusik dazumusste er sich einbilden.

Gadji hatte inzwischen eine Matte ausgerollt. Kein richtiger Boxring, aber es sollte ja auch kein richtiger Boxkampf sein. Es gab ja auch keinen Ringrichter und keine Jury; eine treibende Begleitmusik musste er sich einbilden.

„Wir sind nicht in der gleichen Gewichtsklasse“, sagte der alte Boxer.

Gadji winkte ab. „Nje imejet snatschenija.“ Kowalski verstand plötzlich Russisch: Das macht nichts. Stimmte. Es ging weder um eine Olympiamedaille noch um drei Millionen Dollar. Es ging um den Spass, um die Erinnerung, um die Bewegung.

Gadji fügte grinsend hinzu: „Wir sind auch unterschiedlich alt.“

Stimmte auch. Ein Vorteil für den Jungen; wie die Erfahrung des Alten ein Nachteil für ihn war. Dann boxten sie los.

Gadji umtänzelte Kowalski, der sich schwerfällig bewegte, aber gut die Deckung hielt. Anfangs schlug er kaum zu. Aber nach den ersten Treffern des Jungen, die in den Fäusten des Älteren landeten und keine Wirkung erzielten, hielt es Kowalski nicht mehr. Er stand im Ring seiner Erinnerungen. Er hörte seinen Trainer rufen: Mach, hau, fauler Sack! Das Publikum tobte und wollte, dass Kowalski seinen Gegner auf die Bretter schickte. Hau, mach, fauler Sack! Weiter, immer weiter, such die Lücke! Auch wenn dir grad die Luft wegbleibt, weil du einen Schlag auf die Leber bekommen hast. Und – den Bruchteil einer Sekunde brauchst du nur, du siehst, das Gesicht des Gegners ist frei, weil er die Hände für einen Augenblick sinken lässt – und Kowalskis Rechte polterte in das Gesicht des Junge, der umfiel. Stille. Kein Ringrichter, kein Publikum, nur Kowalski keuchend in der Halle und der Junge, der sich aufrappelte und dessen linke Augenbraue geplatzt war. Gott, dachte Kowalski, auf welchen Unsinn habe ich mich eingelassen, was hat mich getrieben, ich bin sein Lehrer …

„Geht's?“, fragte er.

„Nicht schlimm“, sagte Gadji. „Haben Sie Watte?“

Kowalski war schnell wie ein Kaninchen in seinem Refugium, zerrte die Handschuhe von den Fäusten und riss einen Sanitär-Kasten auf. Watte, Binde, Schere, eine Ampulle mit Jod. Zurück zum Opfer; zurück zu diesem seltsamen Jungen, gegen den er noch einmal zu grosser Form auflief, als hätte es gegolten, Gold zu gewinnen.

„Tut's weh?“, fragte er.

„Nein, nein“, sagte Gadji.

„War keine gute Idee von mir, entschuldige.“
„Das nächste Mal schlage ich Sie.“
„Das nächste Mal?“
„Revanche. Übermorgen?“
„Du willst immer noch boxen? Gegen mich?“
„Potschemu nje?“

Gadji ging unter die Dusche, Kowalski aber sass in seinem Achtquadratmeterheiligtum, in dem es nach Schweiss und ungewaschenen Trainingsklamotten roch. Es klingelte zur ersten Stunde, in der Halle versammelten sich die unlustigen Schüler einer neunten Klasse, aber auf Kowalski mussten sie noch ein paar Minuten warten. Der Sportlehrer sass auf einem Sperrholzhocker, den Kopf in die Hände gestützt; hatte er eben geboxt, war eben Blut geflossen, rot und faszinierend, die Flüssigkeit, die Leben bedeutete? Und Kowalski war verschwitzt und glücklich.

*

Als Gadji das Klassenzimmer betrat, verstummten die Gespräche und verklangen die Geräusche mit einem Mal. Er schlenderte zu seinem Stuhl, stellte den Rucksack auf den Tisch und entnahm ihm zwei Geschenkpakete. Er drehte sich um, machte ein paar Schritte zurück und legte den einen farbig verpackten Karton vor Sylvia auf den Tisch, den anderen vor Vera hin. Sylvia sagte: „Ach du Scheisse! Hab ich gar nicht gemerkt, dass ich das liegengelassen habe. … Was ist mit dir? Hast du dich geprügelt?“

Gadji nickte und sagte ernst: „Mit Iwan. Um so ein deutsches Mädchen.“
„Kann gar nicht sein. Wir sind doch. … Aah, du verscheisserst mich, Gadji?!“

Gadji grinste. Woher sollte er auch wissen, was zwischen Iwan und Sylvia abgegangen war, nachdem er und Vera gegangen waren? Ausserdem war es ihm herzlich egal. Nicht egal war ihm Vera, und es war ihm auch nicht entgangen, dass das Mädchen seine Platzwunde erschrocken wahrgenommen hatte. Und Veras Blick – den hatte auch Sylvia bemerkt. Ihr Blick wechselte rasch zwischen der Freundin und Gernot hin und her. Die beiden sassen seit einigen Tagen getrennt im Raum, und es war niemandem entgangen, dass es zwischen Vera und Gernot nicht mehr rund lief. Ganz entschieden nicht mehr rund, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Und jetzt dieser Blick zwischen Vera und Gadji … Ich fass es nicht, dachte Sylvia, ich glaub's nicht! Wenn ich das Iwan erzähle. …

Samstag, 25. November

Mutter Teresa lag in einem Krankenhaus in Kalkutta, wo ihr ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde.

Gestern, am 24. November, konstituierte sich in Ost-Berlin die Grüne Partei, sie wollte„ökologisch, feministisch, gewaltfrei“ sein und betrachtete sich als Ableger der weltweiten, vor allem europäischen Bewegung der Grünen.

Dem Dalai Lama, so gingen die Gerüchte, wird demnächst der Friedensnobelpreis in Oslo verliehen.

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands schloss Günter Mittag aus der Partei aus; er wurde für die Wirtschaftsmisere der DDR verantwortlich gemacht. Zugleich wurde das Ausschlussverfahren gegen den früheren Partei- und Staatschef Erich Honecker eingeleitet.

Eine Woche zuvor, am 17. November, stellte der neue Ministerpräsident Hans Modrow (SED) seine „Regierung des Friedens und des Sozialismus“ vor. In der Regierungserklärung kündigte er einschneidende Reformen des politischen Systems, der Wirtschaft, des Bildungswesens und der Verwaltung an. Die beiden deutschen Staaten sollten ihre »Verantwortungsgemeinschaft« mit dem Ziel »qualifizierter guter Nachbarschaft« und »kooperativer Koexistenz« zu einer »Vertragsgemeinschaft« ausbauen, die weit über die bisherigen Vereinbarungen hinausgeht. Spekulationen über eine Wiedervereinigung erteilt Modrow – wie auch bereits vorher – eine klare Absage.

Doch drei Tage später, am 20. November, sondierte der Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erstmals in Ost-Berlin, welche Möglichkeiten bestanden, eine angebotene „deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft“ auszugestalten. Er konferierte mit dem SED-Chef Egon Krenz, mit dem Ministerpräsidenten Hans Modrow; tags darauf traf er sich mit Vertretern der Kirche und der Opposition.

Und überall im Lande tagten die „Runden Tische“, und während ausländische Politiker und Publizisten vor einer Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten warnten, Stimmen, die ebenso gern und fettgedruckt wiedergegeben wurden wie die existentielle Situation ausgereister Ostdeutscher – hatte sich die Masse der Menschen auf den Slogan „Wir sind ein Volk“ festgelegt.

Ein Land in Unruhe, umtriebig, ob es um die Sanierung der Politik oder heruntergekommener Städte ging, ob für die Beseitigung von Umweltschäden oder von Privilegien der Politbürokraten,ob um Neonazis, die auf dem Vormarsch waren, oder eine eigene Gewerkschaft, die die Volkspolizei forderte. Und das japanische Handelshaus „Horie“ kaufte für umgerechnet zehn Millionen Dollar eine sowjetische Raumstation; aber das wurde erst am Ende des Jahres gemeldet …

Und die Zeitungen waren voll von kritischen Berichten, von Selbstbezichtigungen einstiger Funktionäre, von Spekulationen über versteckte oder verschobene Gelder. Jeder fühlte sich betrogen, jeder war voller Hoffnung; niemand hatte tödliche Befehle gegeben, jeder hatte welche empfangen …

Der Buchhändler Albert Mühsam wird ein halbes Jahr später in seinem nie vollendeten Essay schreiben: „Es gab zwei Minderheiten im Volke, die das alles nicht zur Kenntnis nahmen und ein Engagement für das eine oder für das anderen oder für ein Drittes verweigerten: die Liebenden und die Toten. Doch nur die Toten schwiegen wirklich. Zwar wurden die vor Jahren als Opfer des Stalinismus Gestorbenen in den Medien beatmet und erweckt. Sie blieben tot und mussten es sich gefallen lassen, aus der Erde geschwemmt zu werden. Von den wenigen Alten, die Lager, Zensur und andere Grausamkeiten überlebt hatten, wurden jetzt Aussagen gebraucht und gebracht, die dem Stand der Vergangenheitsbewältigung – ein scheussliches Wort, ein brutales Wort – entsprachen: der Verdammung des Kommunismus mithilfe des Stalinismus. – Ich verstand nicht, warum sie über Jahrzehnte geschwiegen hatten, die Zeugen des Morbiden, des Moribunden. Der Missbrauch, der mit ihnen getrieben wurde und den sie mit sich machen liessen. War dieser Missbrauch nicht der Zwillingsbruder des jetzigen Gebrauchs: die öffentliche Erklärung zum Opfer und die Schuldzuweisungen? – Und eine nekrophile Publizistik deckte auf, schnüffelte, brauchte die Zeitzeugen auf ihrer Suche nach absoluter und posthumer Gerechtigkeit – für wen eigentlich? Für die Toten? – Mich widerte diese ominöse, freiwillig auf sich genommen Pflichterfüllung der alten und neuen Journalisten an. Die angebliche, endlich mögliche Suche nach der Wahrheit in den Verbrechen der Vergangenheit. Mich widerte diese Einseitigkeit an, zumal die geforderte Gerechtigkeit für die Toten kampagnehaft auf Kosten der Gerechtigkeit für die Lebenden ging. Für die Lebenden, die blind in eine Zukunft strebten, in der sie – als lebten sie in einem Märchen, das gut ausgeht – mit Tonnen von Zuckererbsen bestreut werden würden …“

Möglicherweise gingen diese Sätze so oder so ungefähr durch Alberst Kopf, als er an diesem Dezembertag zu den Trauergästen gehörte.

Er war zu Vera vor der Kapelle des Friedhofs in Adlershof getreten. Sie hatte allein gestanden, eine Nelke in der Hand, um sie herum Grüppchen, die sich flüsternd besprachen und auf Distanz achteten. Neben dem Eingang des Abschiedshauses, vier Stufen hinauf zum geöffneten Tor, rauchten drei Professionals des Todes Zigaretten; ein vierter Sargträger kam hastig angerannt, schwer atmend und im Laufen die schwarze Jacke überstreifend. Noch rechtzeitig zum Dienst.

„Kommt meine Mutter nicht?“, fragte sie.

Albert schüttelte den Kopf. Sie hätte ihn gebeten, an ihrer statt zum Begräbnis des Schuldirektors Erhard Eberlein zu gehen und Vera zu stützen. Sie würde Eberlein nicht allzu gut gekannt haben, hätte Termine, und ausserdem machten Friedhöfe sie depressiv.

„Mich stützen?“ Vera fasste es nicht.

„Seelisch, vermute ich mal“, sagte Albert und zog verlegen die Schultern hoch.

Gab es Krücken für die Seele, oder was?

„Ich bin in Ordnung“, sagte sie. Nickte einer Frau zu, die ihr einen knappen Gruss zuwinkte; die einstige Schulsekretärin, Frau Wollny, stand mit einer Frau zusammen, die beiden sahen sich sehr ähnlich, fand Vera und lächelte ihnen zu.

„Vielleicht“, sagte er, „vielleicht war es ein Glück für ihn, dass er gestorben ist. Für ihn, meine ich. Keine gute Zeit für ihn. Irgendwie – ein Ende, alles so …“

Wie platt war das? Konnte jemand, der ein Leben lang Bücher las, so labern? Selbst wenn er – überfordert war und wenn ihn, recht besehen, gar nichts mit dem Verstorbenen verband. Ausser, dass er ein Mensch wie der andere war, der eine tot, der andere lebend, Schicksal. Aber ist auch das nicht banal, dachte Vera. Auf einmal stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Der Tod ist für niemanden ein Glück“, knurrte sie den Stellvertreter ihrer Mutter an. Der Tod ist kein Spiel, in dem jemand Glück und ein anderer Pech hat. Und niemand, absolut niemand liebt den Tod. Nikto nje ljubit smert.

Vera lief fast am Ende der Reihe, an deren Anfang der Sarg von den vier Männern in Schwarz getragen wurde, gleich dahinter die Witwe Gruber und ihre Tochter, gefolgt von einer Gruppe weiterer Familienangehöriger. Eingereiht hatten sich ungefähr vier Dutzend Menschen, unter ihnen auch – ziemlich weit vorn – der Genosse Erwin Lautengässer, dem im Abstand einer Vierer-Gruppe der Deutschlehrer Kotte und die Physiklehrerin Schaffner folgten; die beiden hielten sich bei den Händen, in den freien Händen jeweils einen Strauss weisser Chrysanthemen und einen Bund roter Rosen.

Vera war eingerahmt von Mark Viehweger und Maria Breitling. Die beiden hatten sich, kurz bevor alle Gäste mit dem Wink einer in schwarz gekleideten Dame mit professionellem Trauer-Gesicht zum Eintreten in die Kapelle aufgefordert wurden, eingefunden. Flüsternd hatten sie sich begrüsst. Mark war in Begleitung eines Mädchens gekommen, dass er als Dörte, Studentin an der Freien Universität, vorstellte; und Maria hatte kurz berichtet, dass Peter und Sylvia sich entschuldigten (Peter hatte einen „geschäftlichen Termin“, den er nicht sausen lassen konnte; Sylvia war übers Wochenende in das geplante Wochenende mit Iwan an einen See im Bezirk Potsdam gefahren).

Vera fragte nicht nach Gernot, aber nachdem Maria und Mark einen kurzen Blick gewechselt hatten, sagte das Mädchen: „Und Gernot hat es abgelehnt. Er hat gesagt, dass er Eberlein …“ Sie zog die Schultern hoch, drehte und hob die Hände, als wöge sie etwas, das sehr leicht sei, zu leicht befunden, um es für wertvoll zu halten. „Ich glaub, er ist ein Arsch und Feigling. Ich glaub, er fürchtet, dass seine Gesundheit und Stärke geschwächt wird, wenn er zum Trauern gezwungen wird.“ Es war etwas anderes, einen Friedhof als nächtliches Gothic-Gaudium zu betreten oder einen Menschen zu bestatten, der nicht unbedingt ein Freund gewesen musste, mit dem man aber doch im Leben verbunden gewesen war.

Vera konnte nur abwinken, obwohl es ihr einen Stich gab und es wehtat; und es musste, wusste sie endgültig, der Fairness wegen ein letztes, klärendes Gespräch mit dem Freund, der er nicht mehr war, geben.

Schwer zu sagen, fand sie, warum sie sich fremd und fremder geworden waren. Es war einfach so. (Und es gab Gadji.) Sie fragte sich, wie es gewesen wäre, wäre sie gestorben, vor gar nicht langer Zeit; wäre Gernot gekommen, um ihr die sogenannte „letzte Ehre“ zu erweisen? Liess sich bezweifeln.

Hinter den drei Freunden lief Albert zusammen mit der Studentin aus Westberlin, und hinter den beiden verlief sich der menschenleere Weg, an dem die Pappeln strammstanden, in der stillen Weite des Friedhofs.

Die Reihe der Trauergäste stockte, hielt an. Vorne wurde der Sarg in die Grube gelassen, die vier Träger traten zurück, nachdem sie kurz ihre Hände gefaltet und ihre Köpfe gesenkt hielten. Frau Eberlein trat an den Rand, liess eine Rose fallen und streute eine Handvoll Sand hinterher. Sie blieb ein paar Sekunden stehen, in eine Ansprache vertieft, die niemand hören konnte, dann trat sie zur Seite, und die Tochter nahm ihren Platz am offenen Grab ein.

Die Reihe rückte langsam weiter. Auf den ausgehobenen Sand und das Loch zu. Wer es erreichte, trat auf ein Brett, nahm eine Schippe mit Sand, liess ihn hinabrieseln und hielt für ein paar Sekunden inne. Dann trat er zu den Eberlein-Frauen. Hände wurden gedruckt, Worte gewechselt, Umarmungen auch. Und dann versammelte man sich ein paar Meter weiter zu einem wartenden, etwas hilflosem Haufen, der all jene beobachtete, die den Weg zum Brett noch vor sich hatten.

„Hilfst du mir?“, fragte Vera Mark, als sie an der Reihe war. Sie fühlte sich plötzlich schwach auf den Beinen. Fast wünschte sie sich die Krücken zurück. Mark nahm ihre Linke, mit der Rechten griff sie in die Schale mit dem Sand. Sie wollte nicht die Schippe benutzen. Sie wollte den Sand aus ihrer warmen Hand hinunterschicken zu dem Mann, der als Direktor und Lehrer gewissermassen der „natürliche“ Feind eines Schülers, einer Schülerin gewesen war –, aber Erhard Eberlein war auch ein Mann gewesen, der zu seinen Zöglingen gerecht war, der sie zu schützen versuchte, der …ach herrjemine, jetzt doch Tränen, Vera.

Die Hand von Frau Eberlein ist warm und trocken. Vera schniefte, sah der Witwe ins Gesicht, ein klares, tränenloses Gesicht. Der Händedruck war überraschend kräftig, und Frau Eberlin stand gerade und fest.

„Ich“, sagte Vera. „Es tut mir Leid. Mein Beileid, bitte.“

Die Frau hielt die Hand des Mädchens länger fest, als sie sagte: „Es wird nicht leicht für euch werden.“

Vera verstand nicht, was sie meinte. Aber sie nickte. Aber würde es nicht für die Frau am schwersten sein, also erst recht nicht leicht sein? Oder für die Tochter, die so stolz und gefasst wie die Mutter da stand? Und warum meinte sie, es würde für uns nicht leicht werden?

Es schauderte Vera: Auf dem Friedhof ist es kühler und feuchter als anderswo in der Stadt.

Als die Schar sich verstreute – eine Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen, die Erhard Eberlein, seiner Frau und seiner Tochter näherstanden als andere, machte sich geschlossen auf den Weg in ein nahegelegenes Café –, verabredeten sich Vera, Mark und Maria für den Abend. Nicht unbedingt, um ihres verstorbenen Schuldirektors zu gedenken (schon, auch), sondern weil es an der Zeit war. Zeit, die ihnen, so schien es ihnen, in den letzten Wochen durch die Finger geronnen war wie Wasser. Zeit, die sie, so kam es ihnen vor, atemlos getrieben hatte. „Ich versuche, Peter zu erreichen“, schlug Maria vor. „Sylvia kommt erst morgen Abend wieder.“ Und wieder fiel der Name Gernot nicht. Sie umarmten sich, einer die andere, eine den anderen; Dörte und Albert gehörten wie selbstverständlich dazu, und dann trennten sie sich und gingen ihrer Wege.

Albert und Vera schwiegen einige Minuten im Auto, bis er sagte: „Erinnerst du dich, was du mich gefragt hast? Als ich dich vom Krankenhaus abgeholt habe?“
„Vielleicht: ‚He, siehst du das Rot der Ampel nicht?'“

„Du fragtest mich, ob ich deine Mutter liebe und warum.“
„Hat sich deine Antwort inzwischen geändert?“
„Sie ist dabei, sich zu ändern.“
„Die Antwort? Oder – meine Mutter?“

Schweigen. Es war angenehm warm im Auto, und die Wärme machte Vera schläfrig. Die plötzliche Müdigkeit war gewiss eine Reaktion auf die abfallende Spannung, in der sie die letzten zwei Stunden verlebt hatte. Oder auch (aber auch) – sie wollte am liebsten schlafen, um nicht zu hören, was sie ahnte. Dass es zwischen ihrer Mutter und Albert kriselte, aus war, wie zwischen ihr und Gernot?

„Hast du es ihr schon gesagt?“ Vera presste die Frage heraus.

„Nein.“
„Warum – willst du es mir sagen? Und nicht ihr?“
„Männer sind ziemliche Feiglinge …“
„Oja, ist wohl so. Ich hab's kapiert.“
„Ich habe so eine Ahnung, eine Gewissheit eigentlich“, fing Albert an. „Wenn du so willst, eine Vision, die mich krank macht. Sie glauben, sie machen eine Revolution. Sie glauben, dass sie berufen sind, das Land – freier zu machen. Dass es endlich einen Sozialismus gibt, der den Namen verdient. Und diesem Glauben ordnen sie alles unter. Freunde, Liebe … Wieder ein Glaube, es ist schrecklich. Wieder ein Irrtum …“ Er schlug mit der rechten Faust auf das Lenkrad.

„Und?“

„Was und?“
„Was ist deine Vision?“
„Falsches Wort“, räumte Albert ein. „Sie haben Visionen und Illusionen, ich habe eine Irritation.“
„Haben Männer immer eine Irritation“, fragte Vera kalt, „wenn sie sich vor klaren Entscheidungen drücken wollen?“
„Entschuldige! Du hast Recht. Ich …“
„Ob ich Recht habe, weiss ich nicht. Eher nicht. Ich weiss aber, dass ich meiner Mutter nicht verklickern werde, dass du sie nicht mehr liebst. Das ist die Flöte, die du selber blasen musst, Herr Albert Mühsam. Und ich möchte bitte aussteigen.“
„Vera! Ich …“
„Ich möchte bitte aussteigen!“
„Es ist nicht mehr weit.“
„Halt an!“, schrie Vera. „Halt die verdammte Karre an!“

Dienstag, 28. November

Bist du sicher, hatte die Tochter ihre Mutter gefragt, dass du dir einen Nachmittag frei nehmen kannst, ohne dass die demokratische Neuordnung der Deutschen Demokratischen Republik ins Stocken kommt?

Victoria hatte ein Kissen gegriffen, nach Vera geworfen, Vera warf ein anderes Kissen zurück; die beiden hatten sich gestern Abend eine Kissen-Sofa-Schlacht geliefert, bis sie vor Lachen, Keuchen, Atemlosigkeit nicht mehr konnten. Morgen gehen wir in den Westen und holen uns die Hunnis ab, sagte Victoria. --- Ist das nicht eine Art der Selbstbestechung?, fragte Vera, und es hätte eine nächste Polster-Schlacht angefangen, wenn es nicht so gemütlich gewesen wäre, erschöpft, matt, zufrieden und innig beieinander auf dem Sofa zu liegen, während im Fernsehgerät, der Ton war abgedreht, irgendetwas lief, das Millionen andere Menschen interessieren mochte; die beiden nicht. --- Das ist, antwortete Victoria, die List der einfachen Menschen. Sie wissen, dass sie bestochen werden, und sie lassen sich bestechen und trinken darauf, um dann für hundert Westmark, was weiss ich, Bananen, Schokolade, eine Jeans und ein paar Schallplatten zu kaufen. James Last oder so. --- Und weil wir zu den einfachen Menschen gehören, sagte Vera, machen wir es ihnen nach? --- Vielleicht, sagte die Mutter grinsend-lockend, möchtest du ja deinem neuen Freund … --- Soweit sind wir noch nicht!, blockte die Tochter ab, aber auch sie grinste vor sich hin. --- … ihm etwas zu Weihnachten schenken? Etwas, dass es nur im Westen gibt, wenn du schon unbedürftig bleiben möchtest und im Kittel der Entsagung herumlaufen möchtest. --- Oho, oho, kicherte Vera, seitdem meine Mutter unter Intellektuellen verkehrt, wächst der Wortschatz und die Gabe, sich auszudrücken wie ein Nobelpreisträger für Literatur. --- Nobelpreisträgerin, korrigierte Victoria und fragte, ob ihre faule Prinzessinnen-Tochter sich aufraffen könnte, noch bevor sie demnächst das Abitur gemacht hätte, aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier zu holen. Nach der sei ihr nämlich, dringender als nach hundert Westmark. Und eine Tüte Erdnussflips, bittesehr, auch. Und was läuft da eigentlich, im TeVau?

Und so kam es, dass die auf Zwei-Personen-Familie Lothringen am heutigen Tag mit der S-Bahn von Berlin-Karlshorst zum Bahnhof Zoologischer Garten fuhr, um sich in irgendeiner Bank oder Sparkasse das Begrüssungsgeld abzuholen; in welcher, wussten sie nicht, es würde, waren sie sich sicher, „da im Kapitalismus“ schon ausreichend Filialen für Pinkepinke geben.

Nach einer halben Stunde S-Bahn-Fahrt von Karlshorst im „nichtsozialistischen Währungsgebiet“ anzukommen, war unlogisch. Es war unwahrscheinlich, unwirklich, bizarr, war verrückt. Vera und Victoria hatten sich, sie mussten nicht darüber sprechen, vor diesem ersten Trip gedrückt. Sie wollten nicht zu den Scharen der Begierigen gehören, die in das Paradies strömten, um sich den Begrüssungs-Hunderter abzuholen, die Nasen an den Geschäftsläden plattzudrücken und das Geld (plus die in den Jahren zuvor ertauschtten, erhandelten, ersparten Deutschmärker) auszugeben für die Waren, die ihnen all die Jahre vorgeführt worden waren. Wenn die Verwandten zu Besuch kamen, wenn die Pakete ankamen, wenn sie das Westfernsehen einschalteten und die Werbung anschauten. (Hatte nicht eben erst der Moderator in der ZDF-Hitparade erstmals Gäste aus Ostberlin begrüsst und gewitzelt: „DDR = Deutsche dürfen rüber“? War er nicht eben erst im Trabant-Auto in das Studio gefahren, als Preis, wie es am Ende der Sendung traditionell einen gab; und der Moderator hatte launisch gesagt, der Gewinner brauche keine Angst zu haben, er würde natürlich nicht den „Umweltstinker“ erhalten, sondern einen Opel Corsa? – Jetzt kamen sie, jetzt kommen wir, jetzt holen wir uns eigenhändig einen Teil der Torte.)

Die Lothringens hatten keine Familienangehörigen in Westberlin, auch nicht in Westdeutschland; und begeisterte Fernsehzuschauer waren sie nie gewesen. Die Mutter war, wenn sie nach der Tagesschicht im Krankenhaus nach Hause kam, zu müde für lange Fernsehabende; und wenn sie Nachtschicht hatte, gab es das Äther-Flimmern sowieso nicht. Die Tochter schaltete das Gerät neuerdings ganz gern für die Sendungen von ELF 99 ein, vor allem der Musik und einiger frecher, ehrlicher Reportagen wegen, vorher und ansonsten langweilten sie die Sendungen, ob Ost, ob West. Hundert Westmark – naja, haben oder nicht haben, sind schon 200 mal 2 sind 400, alberten Vera und Victoria, als sie sich entschlossen, den Ausflug zu unternehmen. Ausserdem geht's nicht um die Kohle, meinte die Mutter.--- Sondern? --- Wenn wir einen Kaffee trinken wollen … ausserdem Kapitalismus gucken! --- Au fein, feixte Vera, wie früher, wenn wir in den Tierpark gingen. Affen und Löwen und Papageien und Pinguine beschauen … Beinahe wären wieder Kissen geflogen … Aber jetzt waren sie angekommen und ausgestiegen und fanden sich auf einem Planeten wieder, auf dem es von Menschen und Autos wimmelte.

(Vera wird ein paar Tage später Gadji davon erzählen: dass sie sich wie verschluckt und verklebt und wie in Watte gehüllt vorgekommen war; dass sie das Nebeneinander von Menschen, die herumlagen, bettelten oder „gar nichts mehr wollten vom Leben ausser nen schönen Rausch“, und Menschen, die zielstrebig eilten, in Restaurants sassen, nach Taxis winkten --- Autobusse, Doppeldecker, über der Stadt schwebte ein Luftschiff, das mit einer Fahne für Haribo warb --- Geschäfte, die ihre Waren nach aussen gestülpt haben --- wie die glänzenden, glitschigen Eingeweide eines Menschen, der im Krieg einen Bauchschuss … - alles Schrille, alles Bunte, auch ein Geruch war da --- das Gefühl, nicht unter freiem Himmel zu sein, sondern unter einer Glocke --- eine immer gleich bleibende Temperatur, es gibt kein natürliches Wetter --- „bestimmt nicht!“ --- die Musikanten, die einen können ihre Instrumente spielen, die anderen nicht --- Glitzerndes Glitzern --- eine Frau, die zwischen Kartons sitzt und schläft und auf deren Kopf die Haarbüschel vereinzelt stehen wie Gestrüpp in der Wüste --- das Pärchen, das aus einem grossen Auto steigt, als tue es nicht anderes am Tage, als immerzu aus grossen Autos zu steigen--- eine Frau mit zwei Kindern, magere Kinder--- und in meinem Kopf sang Neil Young: „I see a woman in the night/With a baby in her hand/There's an old street light (near a garbage can)/Near a garbage can (near a garbage can)/And now she put the kid away and she's gone to get a hit/She hates her life and what she's done to it/There's one more kid that'll never go to school/Never get to fall in love, never get to be cool/Keep on rockin' in the free world“ --- Lateinamerikaner, die Freiheit für irgendwas fordern ---dass sie wie (fast) blind und (fast) taub durch die Gegend lief --- bis sie einfach stehen blieb. Neben ihrer Mutter.)

„So“, sagte sie; ihr Herz schlug grad wieder alltäglich und ihr Nervenkostüm glättete sich. „Ich fahre jetzt wieder nach Hause.“
„Das kannst du nicht machen“, sagte Victoria.

„Ich seh hier nicht durch. Ich will das nicht. Vielleicht später noch mal.“
„Wahrscheinlich Gewohnheitssache.“

„Du meinst, ich soll mir das alles hier zur Gewohnheit machen?“
„Lass uns das Geld holen – dann suchen wir uns ein ruhiges Café …“
„Ich steh in deinem Personalausweis. Du kannst die 200 Emm abholen, Mutter und Kind. Und das war's.“
„Vera. Bitte. Vorschlag: Du suchst dir ein ruhiges Plätzchen, ich hole das Geld, wir treffen uns hier wieder in einer Stunde – dann trinken wir irgendwo einen Kaffee und fahren nach Hause.“

Sie waren vom Bahnhof Zoo weggedriftet. Sie schwammen in einem Strom von Menschen. Sie überquerten stark befahrene Kreuzungen. Sie standen an den Ampeln (dicker Mann, neben ihnen wartend: „Das machsch nä nochma! Issn ächter Waaahnsinn“ – dicke Frau neben ihm: „Ärwin, nu reiss disch zusammn! Mir sin in Berlin!“ – „Gloobst, isch wor noch nä in Berlin? Drei Johre wor isch in Berlin. Oorbeeten, weesstes nisch mähr!“ – „Is lange her, Ärwin!“) – bis die auf Grün schalteten. Bis Vera stehenblieb und sich verweigerte.

Vera schaute sich um. Plötzlich war sie ruhig. Die Geräusche der Strassen verstummten, die Menschen verlangsamten sich, sie war in einem dunkeln Kino und schaute einem Stummfilm zu; ein Käseglockengefühl. Ihre Augen zogen die Schärfe, sie sah, dass sie und ihre Mutter vor einem Plattengeschäft standen. „City Music“, ein Schaufenster, voller Schallplatten, ein Laden, vollgestellt mit Regalen und Kisten voller Musik, Musik, Musik, voll, voll, voll. Vera nickte und sagte, sie wäre einverstanden. Aber sie würde mitkommen, ihren Hunderter nehmen und hierher zurückkehren. „Wir nehmen die nächste Bank“, sagte Vera. Es klang, als hätte sie gesagt: Wir rauben die nächste Bank aus. Es klang, als dränge ihre Stimme durch eine Wand aus Korken. „Hier kannst du mich in einer Stunde abholen, dann.“ Es klang, als sänge Zarah Leander davon, dass mal ein Wunder geschehen werde. Oder hörte Vera das Lied aus einem Lausprecher des Ladens? Und dann werden tausend Märchen wahr. Oder geschah Vera gerade das Wunder, dass sie eintreten würde in ein Paradies, in dem die Covers all der Lieder, die sie aus dem Radio kannte, die Tapeten und Möbel einer Traumwohnung waren. In der sie leben könnte, ein Leben lang; dafür brauchte sie nur ein paar Westmark. Keep on rockin' in the free world.

Eckhard Mieder

* Raskaschij!- Erzähle!

Tschto? – Was?

Nje snaju – Weiss nicht

Ja budu jarostnaja! – Ich werde wütend

Tuij jarostnaja – Du bist wütend

Kuda tuij idjosch? – Wohin gehst du?

Na ulizach – Auf die Strassen

Mnje straschna – Ich habe Angst

Itij! – Geh!

Mnje nado nje ititj – Ich muss nicht gehen

Ja nje ljublju germaniju, ja nje ljlublju njemzow! – Ich mag Deutschland nicht, ich mag

die Deutschen nicht

*Kto nje riskujet, tot nje pjet Schampanskoje – Wer nicht wagt, trinkt keinen

Champagner

Nje imejet snathscneija – Das macht nichts

Potschemu nje – warum nicht

Nikto nje ljubit smert – Niemand liebt den Tod