Dritter Teil Der Waldmensch
Prosa
Was bisher geschah: Der Mann, der dem Eremiten vor die Füsse fiel und jammerte, hatte sich aufgerichtet und empört. Der Waldmensch sah der Ermannung mit Vergnügen zu und bot dem nicht mehr ganz so verzweifelten Mann ein Glas Mineralwasser und ein Stück Rehbraten an.
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8. Februar 2018
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Korrektur
Na und?! Na, hej! Ich hatte mich vor Jahren von meinem Mitgefühl verabschiedet; es war unnütz und sorgte für seelische Übelkeit. Doch immer wieder pochte in mir etwas Menschliches an die Seelen-Wand. Möglicherweise ein Kollateralschaden der Mitmenschlichkeit; mein Herz, das an eine Wand gehängt war, pulsierend für sich allein wie im Märchen vom kalten Herzen?
Also war ich bereit, dem Mann einen Platz an meiner Seite anzubieten. Für eine Nacht würde ich einen anderen Menschen im Zelt aushalten. Allerdings stand eher die Frage im All, ob er mit einem Menschen auf engstem Raum auskäme, zumal mit einem Menschen, den er als Penner, Aussenseiter, Obdachlosen, Asozialen ansah. Was ihm stank. (Stank ich wirklich? Ich konnte mich nicht selber riechen, ich konnte mich selbst noch nie riechen.)
Für mich stellte sich die Frage, warum er in den Wald gegangen war. Wollte er sich umbringen? Oder wollte er sein Leid dem Kollektiv der Bäume vorschreien, um es nicht für ein Honorar dem Psychiater vorzutragen und sein Geld nicht in eine Therapie zu schleppen, in der er mit Gleichgeplagten in körperlichen Verrenkungen und geistigen Mono-Rhythmen auf den Weg der Besserung geschickt wurde? War er Mitglied einer Krankenkasse, die ihm seelentherapeutische Wald-Spaziergänge bezahlte? Wir waren uns zufällig begegnet. Er war auf einem Weg, dessen Ziel er nicht kannte.
Ich war auf dem Weg in die Pilze. Pfifferlinge wollte ich gern finden. Das war der Plan, als ich mich aufmachte. Auf einen Menschen zu treffen, der einerseits ein Opfer des Kapitalismus und andererseits ein arrogantes Arschloch war (in summa, resümierte ich, ziemlich typisch für diese ausgebrannten Anschaffungs-Dampfer; der Kapitalismus war ein Palast voller Chimären, die zum Drittel Mensch, zum Drittel Konto, zum Drittel Unerfülltheit waren) -, damit hatte ich nicht gerechnet.
Was für mich nicht schlimm war. Kein Problem. Mir waren im Laufe der Jahre, die ich im Walde lebte, bizarre Menschen begegnet. Es gab welche, die an Stöcken über die Wege klackerten. Es gab jene, die sich zu romantischem Picknick auf Moos und Farn niederliessen; andere wälzten sich kopulierend über den Waldboden. Es gab diejenigen, die laut schreiend Selbstgespräche führten; ich erinnerte mich an einen dürren Mann in kurzer Hose, mit blau blühenden Krampfadern an den Waden, der sich unentwegt beschimpfte und bekreuzigte. „Du blöder Politiker!“, hörte ich. „Scheiss auf das Mandat, scheiss auf die Demokratie!“, hörte ich. „Du glaubst doch nicht, dass du das Zeug zum Ministerpräsidenten hast!?“, hörte ich. Vielleicht würde er am Ende seines Spaziergangs und seiner Selbstanklagen auf einen Parkplatz gelangen, auf dem sein Dienstwagen wartete. Der Chauffeur würde den Schlag aufreissen, eine eisgekühlte Cola und Anzug und duftendes Hemd zum Wechseln reichen …
Warum ich dieser Halbglatze namens Dietmar, die sich, kaum hatte sie sich vom ersten Furor erholt, fast schon wieder der stramme Kleinbürger war, der er war, meine Gastfreundschaft anbot, war mir ein Rätsel. Ich hätte meines Weges gehen können. Ich hätte ihn stehen lassen können.
Dietmar trank von dem Wasser, das ich ihm in einem Titanium-Becher reichte. Dietmar ass vom Rehbraten. Dietmar reckte sich, rülpste verhalten, dann lauter, als er sich sicher war, dass niemand da war, der ihn rügen würde. (Nicht mal die Mama hockte im dunklen Gebüsch.) Er rief ein „Ah!“ und ein „Oh!“, schloss die Augen und klopfte sich vor Behagen auf den Bauch. Dietmar ging es sichtlich gut in meiner Eremitage. Musste ich befürchten, ihn nicht mehr loszuwerden?
„Leben Sie schon lange so?“, fragte er dann.
Ich nickte. Ein paar Jahre.
„Wie lange denn schon?“, wollte er weiter wissen.
„Ein paar Jahre“, sagte ich. Es gefiel mir nicht, ausgefragt zu werden. Dietmar war ein Gast. Er hatte meine Lebensbahn und mein Mitgefühl gekreuzt. Ich würde ihm den Weg aus dem Wald beschreiben, je nachdem, wohin er wollte, ob nach Osten, Westen, Süden oder Norden. Ich kannte die Wege alle, ich kannte die Orte, die vor dem Wald lagen. Ich wusste, dass Dietmar in diese Orte gehörte: in dieser, oder in die weiter entfernt liegenden, grösseren, in die Städte, bis hinein in die Städte, die nur noch zuckende, schlingende, stampfende Kadaver waren. Ihn hatte es zufällig in den Wald verschlagen. Ich hatte mich absichtlich in den Wald zurückgezogen.
„So zu leben“, fing Dietmar an. Er sah sich um. Er schätzte die Quadratmeter, die mein Zelt und der kleine Vorgarten, den ich angelegt hatte, einnahmen. Er erfasste mit seinem Blick das Gelände: Hinter dem Zelt erhob sich ein Felsen, in dem eine Öffnung zu einer Höhle führte. „Mh“, sagte er. „Gar nicht übel. Vorstellbar. Im Grunde braucht der Mensch nicht viel.“
Natürlich braucht der Mensch nicht viel. Aber er braucht genug, um zu überleben. Das ist eine simple Überlegung. Und du, dachte ich, brauchst gewiss mehr als viele, viele andere Menschen. Du brauchst so viel von dem Zeug, das kein Mensch wirklich braucht, dass du nicht mehr ein und aus weisst. Du weisst nicht, wer du bist (ein Dietmar! Was ist ein Dietmar?), du weisst grad nicht, woher du kommst, du weisst grad nicht, wohin du willst, aber du erholst dich vor meinen Augen. Spüre, wie du der wirst, der du warst.
Deine Angst, dein Furor, dein Horror geht vorüber. Gleich reisst du dich zusammen und überlegst, ob du mich nicht bei der nächsten Polizeistation anzeigen solltest. Ich habe einen wilden Mann getroffen, Herr Kommissar, im Wald. Vermutlich versteckt er sich, weil er eine üble Tat getan hat. … Ist es so, dass der Mensch nicht viel braucht? Oder braucht er jede Menge von allem? Was brauchte Dietmar, was brauche ich?
Vierter Teil