Fünfter Teil Der Waldmensch
Prosa
Was bisher geschah: Nach der ersten Nacht mit Dietmar gerät der Waldmensch in ein Dilemma; es ist schwer, etwas loszuwerden, das wie mit Pattex angeklebt ist; wieso brauchen wir ein Programm? Der Eremit hat einen Termin mit seiner Freundin Venezuela zum Zwecke der leiblichen Hygiene.
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15. März 2018
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„He, da bist du ja!“, begrüsste er mich. Er sah euphorisch aus; ich rechnete damit, dass er mir auf die Schulter schlagen und gegen die Brust boxen würde, so unter Freunden. Was er unterliess. Hätte ich sonst zurückgeschlagen, ihm aufs Kinn?
„Morgen“, muffelte ich.
„Heute!“, rief er, der muntere Führer einer Pfadfinder-Truppe, die sich meiner Ansicht nach im Gebüsch versteckt hielt. „Heut ist ein wunderschöner Tag! Die Sonne grüsst uns so hell!“
„Es wird Regen geben“, sagte ich. Ich musste den Mann loswerden. „Und ein Gewitter. Die Temperatur wird schlagartig (SCHLAGartig!) fallen. Ich rieche Bodenfrost in der kommenden Nacht. Wohl dem, der ein festes Quartier mit Heizung hat! So wie du es vermutlich hast und dich nach seiner Wärme sehnst …“
„Nananana! So schlimm kann's nicht werden!“ Dietmar lachte und goss die beiden Becher mit dem Wasser voll, rührte mit einem Löffel um und reichte mir den Kaffee. Dietmar merkte nichts; oder Dietmar wollte nichts merken. „Was liegt an? Was ist Phase! Wie sieht das Programm für heute aus? Was unternehmen wir?“
Ich verzog das Gesicht, ein eisiger Schmerz war mir ins Zahngehege gefahren. ‚Liegt an', ‚Phase', ‚Programm', ‚unternehmen' – Wörter wie Peitschenhiebe, Nadelstiche, Zahnarztbohrmaschinen. Wörter aus der Welt und Zeit derjenigen, die morgens aufwachen und beim Zähneputzen die Termine ihres Tages repetieren, um nichts Geplantes zu versäumen, um nicht mit dem ersten Schritt aus dem Daheim auszugleiten und in einer Pfütze des Spontanen, Unerwarteten, Überraschende zu ertrinken. Derlei Zielstrebigkeit meinte ich hinter mir gelassen zu haben.
Dabei habe ich nichts gegen die Programmierer des Lebens, solange sie ihr eigenes Leben in überschaubares Zeit-Hackfleisch verarbeiteten und nicht die Lebenszeit anderer Menschen fressen wollen.
O, ich hatte sie erlebt, o, ich hatte sie satt bekommen. Die Mitmenschen, die sich vor der Ruhe fürchteten und lärmend und von Hektik zu Panik und von Panik zu Hektik stürzten, als wären diese Brandbeschleuniger des Lebens die einzigen Freunde, die sie hatten. Die Vorgesetzten, die ihre Inkompetenz mit Anwesenheits- und Aufgaben-Kontrollen tünchten und in ihrem Narzissmus glaubten, sie sorgten sich wohlwollend um das Team. Ich kannte die Welt dieser Dietmars.
Nur ich war keiner mehr von den Dietmars. Oder irrte ich mich? Wie schon am gestrigen Abend, war mir, als wäre Dietmar ein anderes Ich, also ich selber war ein Dietmar? Doch wieder, noch immer?
„Nichts unternehmen wir“, sagte ich. Jedenfalls nichts zusammen, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf. Nichts. Absolut nichts. Ich spürte, wie ich panisch wurde. Hatte ich nicht längst hinter mir, mich wie ein Gejagter, ein Gesteuerter zu fühlen? Wie wird man einen Menschen los, der wie mit Pattex geklebt an einem hängt? Der ein Programm brauchte, ein Statut, eine Partei womöglich, mit taktierendem Vorstand und einem Führer, der so lange gelobt wird, bis er eines Tages gestürzt und von allen schon immer für ungeeignet gescholten und ins politische Nichts gestossen wird?
„Nichts geht gar nicht!“, trumpfte Dietmar auf. „Das Leben ist voller Möglichkeiten. Du stehst morgens als Bettler auf und gehst abends als Milliardär ins Bett. Du stehst als Blinder auf und sprichst tagsüber von deinen Visionen. Du bist …“
„Ein Wurm, eine hohle Nuss, ein Fädchen im Netz einer Spinne“, unterbrach ich ihn.
„Das meinst du nicht ernst“, sagte er; wirklich, er schaute entrüstet.
Plötzlich erschrak ich. Mir fiel ein, dass heute der zweite Mittwoch im Monat war, und der zweite und der vierte Mittwoch im Monat waren die Tage, an denen ich einen Termin „unten in der Stadt“ hatte. Ich würde mich mit meiner Freundin Venezuela in Bad Gerolstein treffen. Ich würde im Stadtbad eine Dusche nehmen und anschliessend in der Norma-Filiale einkaufen. Ein paar Dinge brauchte ich in regelmässigen Abständen (ging nicht auch Thoreau gelegentlich ins Dörfchen? Oder bekam Besuch von Familienangehörigen, die ihm Törtchen brachten?) -, der Wald allein genügt nur dem Eichhörnchen, dem Wildschwein und dem Mistkäfer. Ausserdem würden Venezuela und ich für den Nachmittag ein Zimmer im Bahnhofs-Hotel nehmen; Zahnpasta aus dem Supermarkt gehörte zum Leben wie der Sex, und Venezuela hatte sich geweigert, im Zelt mit mir zu schlafen. Einmal hatten wir es probiert, es sei ihr vorgekommen, als wären ihr unentwegt Würmer, Ameisen, Spinnen über den Leib gelaufen.
„Ein für alle Mal“, sagte ich. „Was du machst, Dietmar, ist mir schnuppe. Ich gehe nachher in den Ort hinunter. Ich habe dies und das zu besorgen und zu tun.“ „Aah“, strahlte er. „There's lots to do and to see! Sagt mein Boss immer, bevor er in die Hände klatscht, in seinem Büro verschwindet und sich die Fingernägel schneidet.“
„Gut“, sagte ich. „Ich mache mich gleich auf den Weg. Wird das Beste sein.“ „Oja, der frühe Vogel fängt den Wurm!“ Dietmar hatte die Büchse seiner Dienst-und-Dumm-Weisheiten geöffnet und nahm einen Schluck vom Kaffee.
Ich aber hob meinen Becher und liess den Kaffee ins Moos rinnen. Gemächlich, betont, übersichtlich. Dann liess ich ihn (den Becher) fallen und wünschte mir, er wäre der oder irgendein Dietmar. Ich wendete mich um und ging.
Sechster Teil und Schluss