Eckhard Mieder Opferlamm e. V.
Prosa
In Bad Stützbach lebten vor einiger Zeit drei Schafe, deren Aufgabe es war, in der Vorstadt Rasen zu mähen, Babys in den Schlaf zu blöken und Fremden die Zähne zu zeigen.
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6. Juli 2017
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Korrektur
Eines Abends sassen sie nach getaner Arbeit im Lokal ZUM VEGANER und feierten Wiederanders' zehnten Geburtstag. Eben erhob Schürlämmer sein Glas Sauerkraut-Sekt und sprach: “Mögen dir, lieber Freund Wiederanders, noch viele saftige Rasenflächen vergönnt sein! Mögest du, alter Bock, nie deinen Überbiss und nie deinen Überblick verlieren!”
Da ging die Tür auf und zwei weinende Lämmer traten ein.
Schürlämmer runzelte verärgert die Stirn. Er mochte es nicht, abgelenkt zu werden. Schon gar nicht von jungen Schafen, die seiner Beobachtung nach, nur ihren Vergnügungen nachgingen und schweinisch lebten. Die standen in der Bahn nicht für Ältere auf und hoben nie die Hufe zum Gruss.
Wiederanders war da anders. Ihn dauerte jedes Tier, ob jung ob alt, das Kummer hatte. Er stand auf, ging auf die Lämmer zu und strich ihnen über die Köpfe. “Kann ich euch helfen?”, fragte Wiederanders.
Die Lämmer schluchzten auf und verneinten. Niemand könne ihnen helfen, weil ihnen nicht zu helfen wäre. Sie seien die geborenen Opferlämmer. Wie es ihre Eltern schon waren und vor denen deren Eltern. Niemand habe Verwendung für sie, niemand nehme sie ernst und für voll.
“Niemand nimmt euch für voll”, scherzte Märtz. „Dann trinkt erst mal was!” In sein meckerndes Lachen stimmte kein anderes Schaf ein. Überhaupt war es Märtzsche Art, bei jeder Gelegenheit, ob passend ob unpassend, zu witzeln. Er war ein Schaf mit fragwürdigem Humor.
Wiederanders drückte den Lämmern drei grasgrüne Scheine in die Hufen. Der Jungen Traurigkeit verflog im Nu. Sie musterten kalkühl das Geld.
“Nicht viel”, knurrte das eine Lamm.
“Muss reichen”, murrte das andere. „In diesen Zeiten haben alle voll zu knabbern.”
Ohne einen Gruss des Dankes verliessen sie das Lokal. Wären Schürlämmers Blicke Pfeile gewesen, die beiden Lämmer hätten von hinten wie Igel ausgesehen. “Wie kannst du diesen Schnorrern Geld geben!”, fragte er empört.
“Ksssst!”, machte Märtz. “Haltet Frieden!”
“Nicht 'ksssst'!”, entgegnete Schürlämmer. “Nicht Frieden! Wie kann ein Schaf so blöd sein, sein sauer verdientes Geld diesen Taugenichtsen in die Klauen zu werfen!”
“Immerhin”, versuchte Märtz des Freundes Zorn zu mildern, “immerhin war ihr Fell nicht lila gefärbt, ihre Zungen waren nicht gepierct und gewaschen waren sie auch.”
“Mit allen Wassern ja!”, beharrte Schürlämmer blökend.
“Manchmal ist mir langweilig”, mischte Wiederanders sich ein. “Manchmal denke ich, dass ich zu Grösserem geboren bin.” Er seufzte betrübt.
“Zum Elefanten?” Typisch Märtz!
Schürlämmer blieb vor Staunen das Maul offen. Zu Grösserem! Zu was denn?
“Wie hatte meine Mutter gesagt”, fuhr Wiederanders versonnen fort: “Mein Sohn ist ein Dickschädel! Mein Sohn hat einen Kopf für sich!'”
“Für wen sonst?”, maulte Schürlämmer leise.
Wiederanders liess sich nicht beirren. Es war sein Geburtstag. Er hatte ein Recht darauf, nachdenklich zu sein. Ja: Es war seine Pflicht, etwas Bedeutendes zu sagen. Etwas, woran sich die Schafe noch nach Jahren erinnerten. Ausserdem betraten gleich Mitternacht und Polizeistunde das Lokal.
“Es mag auf jedes Geborene zutreffen, dass es seinen eigenen Kopf hat”, grübelte Wiederanders laut. “Es mag auch auf jedes Geborene zutreffen, was meine Mutter im Weiteren sagte: ,Mein Sohn wird seinen Weg gehen!' Aber heute frage ich mich, ob ich bereits am Ziel bin. Bin ich den Weg gegangen, für den ich bestimmt war? Oder habe ich mich nur treiben lassen? Bin ich nur Teil einer Herde, oder bin ich ein Hirte auch?” Wiederanders machte eine Pause und schaute die Gefährten aus rechteckigen Pupillen an.
Schürlämmer und Märtz zogen die Köpfe zwischen die Schulterblätter. Sie kannten das. Manchmal hielt Wiederanders beim Grasen inne, blickte den weissen Wolken nach, seufzte sehnsüchtig und sagte: “Es muss noch etwas anderes geben! Es muss noch etwas anderes geben!” Anfänglich beunruhigte dieses Verhalten die Freunde. Bis sie sich daran gewöhnt hatten und nicht einmal mehr aufschauten, wenn Wiederanders mit seiner Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Anderen rang.
“Jetzt!”, rief Wiederanders plötzlich aus: “Jetzt hab ich es!”
“Wegen der Penner?”, fragte Schürlämmer vorsichtig.
“Wegen der armen Seelen!” Wiederanders nickte mehrmals. Er zündete sich eine Zigarre der Marke LAMM & FROMM an und blies den Rauch in Olympischen Ringen gegen die Deckenbalken des Lokals. Er lehnte sich zurück und sagte feierlich: “Wir gründen eine OPFERLAMM VERTRIEB, KUNDENDIENST UND WEITERBILDUNG E. V.!”
“Ach so!”, schnaubte Schürlämmer und trabte zur Toilette.
Märtz räusperte sich verlegen. Er wollte dem Freund die Geburtstagsfeier nicht mit einer Frage verderben. Dann doch:
“Was heisst e. V.?”
“Echte Verzweiflung!”, sagte Wiederanders und blickte den Ringen nach, die sich zerfransten und langsam um den Hals des Wirtes legten. “Und was könnte die OPFERLAMM VERTRIEB, KUNDENDIENST UND WEITERBILDUNG E. V. machen?”, fragte Märtz höflich. “Was ist ihr Zweck? Braucht sie Reisszwecken? Haha!”
Wiederanders lachte nicht.
“Worin besteht ihr Kinn und Verband, äh Sinn und Verstand? Hoho!”
Wiederanders schwieg. Märtz verstummte verunsichert. Wiederanders wartete, bis Schürlämmer zurück war und sich mit knöchernem Poltern setzte. “Wie weit bist du mit deiner Gründung?”, fragte er erleichtert.
“Im Grunde am Anfang”, antwortete Wiederanders. Tiefgründig fragte er: “Womit beginnt die Gründung eines Unternehmens?”
Schürlämmer und Märtz blickten sich an und zuckten mit den Schultern. Sie wünschten sich ins Stroh. Spät genug war es, und, wie es jeden Morgen aufs Neue hiess: Das frühe Schaf kaut den Halm.
“Mit einer Idee!”, triumphierte Wiederanders. “Was aber folgt der Idee?”
Schürlämmer nahm einen Schluck vom Möhren-Gin. Märtz winkte doch noch nach einem Korn.
“Fragen folgen der Idee! Viele Fragen. Über die ich im Einzelnen noch nicht reden möchte!”
“Warum nicht?“, fragte Schürlämmer lahm. Er hatte das Gefühl, etwas beitragen zu müssen.
“Ja warum nicht?”, fragte auch Märtz. “Ist es nicht lustig, das Einzelne?”
“Das Einzelne hält auf”, sagte Wiederanders. “Das Einzelne ist nur eine Erdnuss in der grossen Erdnusstorte! Das Einzelne macht krank, wenn man zu lange darüber nachdenkt und nicht zum Handeln kommt! Es muss sich unterordnen, es muss sich dem Grossen Gedanken unterwerfen!”
Aber wer nicht weiss, wo sich der Grosse Gedanke befindet oder wie der Grosse Gedanke aussieht - wie soll der das Einzelne, das er auch nicht kennt, dem Grossen Gedanken unterwerfen? Auf einer Wolke kann ja auch kein Autobus parken. Auf einer Sonnenblume kann kein Elefant tanzen. Oder kann in einer Linsensuppe ein Traumschiff untergehen?
Wiederanders erklärte in gebotener Kürze und Allgemeinheit sein PROJEKT. Er musste sich beeilen, weil Lokalschluss, Mitternacht und Polizeistunde drohend näher rückten.
Schürlämmer und Märtz waren, als Wiederanders seine Ausführungen beendet hatte, schier aus dem Häuschen. Sie hatten nicht alles verstanden, liessen den Freund trotzdem hochleben und schworen sich ewige Treue und ständige Hingabe an das, was fortan DAS PROJEKT hiess.
Schliesslich trat die Polizeistunde ein. Mürrisch liess sie den Blick durch das Lokal schweifen und den Knüppel in der Rechten hin- und herpendeln.
“Ihr da!”, rief die Polizeistunde. “Habt ihr keine Arbeit, die ausgeruhte Schafe braucht?”
“Doch, doch”, riefen Wiederanders, Schürlämmer und Märtz. Sie machten, dass sie davon sprangen.
“Ich will mal nicht so sein”, knurrte die Polizeistunde und liess sich vom Wirt einen Kräuterlikör einschenken. Mit den Worten 'Dienst ist Schnaps und Schnaps ist Dienst' stürzte sie das Getränk hinunter und verlangte gleich nach einem nächsten Likörchen, weil auch eine Polizeistunde nicht auf einem Zeiger stehen kann.
Zu jener Zeit wimmelte es im Lande von Goldgräbern, Glücksrittern, Maulhelden, Dumpfbacken, Schaumschlägern und Möchtegernen. Gründungen grünten und Firmen firmierten. Versicherungen versicherten das Blaue vom Himmel herunter. Telefongesellschaften rammten Zellen an jede Strassenecke in die Erde. Das Land wurde mit Tankstellen und Supermärkten vollgepackt und mit Gewerbegebieten an den Rändern der Städte vollgepflastert.
Beton versiegelte Feld- und Waldstrassen. Aus europäischen Fonds wurden Radwege finanziert, und ächzend fielen uralte Alleebäume unter das KONTROLL- UND KOLLISIONSSCHUTZGESETZ DER EUROPÄISCHEN AUTOMOBILINDUSTRIE.
Die Zeitungen sangen Loblieder von Schweinepriestern und Regierungsschranzen, wer nicht bestechlich war, blieb arm. Das Fernsehen sendete Börsen-Reportagen und Busen-Porträts.
Zu jener Zeit wimmelte es auch von Fähigkeiten, Begabungen und Qualitäten, die auf der Strasse lagen, in Arbeitsämtern die Korridore verunreinigten und sich zu niedrigen Preisen feilboten. Es kam vor, dass Professoren darum bettelten, für die STÄDTISCHE MÜLLABFUHR Laub fegen zu dürfen. Es kam vor, dass in den Schulen der Unterricht ausfiel, weil es an Lehrern fehlte, obwohl es genügend Lehrer gab. Es kam vor, dass Ärzte in den unwegsamen Wäldern Borneos Hospitäler gründeten, weil sie keine Anstellung in den LANDESKRANKENHÄUSERN bekamen. Jene Zeit quoll über von Schafen, die in Marktlücken sprangen und sich gegenseitig in die Quere kamen und sich das Fell über die Ohren zogen. Auf den grünen Zweig kamen nur wenige.
Wiederanders, Schürlämmer und Märtz aber liessen sich in ihrem Gründungsschwung auch im dritten Monate nach dem Besuch im VEGANER weder von Ämtern noch von täglichen Konkurs-Meldungen bremsen.
“Ein Schaf muss an seine Idee glauben!” Das war der Schlachtruf, den Wiederanders ausgab, dem die Freunde folgten.
“Zurück auf die grüne Wiese können wir immer noch!” Das war der Trost, den Wiederanders spendete, wenn Schürlämmer und Märtz erschöpft vom Anstehen, vom Ausfüllen der Formulare, vom Beantragen von Geld und vom Führen der Gespräche schlapp zu machen drohten.
“Zurück auf die Wiese können wir immer noch”, flüsterte Schürlämmer. “Von wegen! Die ist inzwischen voll von Schafen!”
Wiederanders aber zweifelte nicht eine Sekunde am Erfolg seiner Geschäftsidee.
Eines Tages war es soweit: Wiederanders, Schürlämmer und Märtz bezogen ein Büro. Es lag nicht an der KAISER-WIDDER-ALLEE (die Prachtstrasse von Bad Stützbach), immerhin aber an der PRINZESSIN-LÄMMCHEN-STRASSE.
Sie hatten Visitenkarten drucken lassen und in dem WOCHENBLATT von Bad Stützbach die Geschäftsgründung (mit Porträtfotos!) kundgetan. Ein kurzer Text, bezahlt von den letzten Spargroschen Märtzens, stellte die drei Geschäftsschafe vor:
Wir, Wiederanders, Schürlämmer und Märtz, können auf erhebliche Lebenserfahrung verweisen. Wir haben unser Geld mit ehrlicher Arbeit erworben und sind ungeschoren durch die Scheren der Zeit gekommen. Wir sind bissig, wo Biss gefragt wird, wir sind lammfromm, wo Demut hilft. Unseren Kunden bieten wir an, mit uns gemeinsam nicht nur den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, sondern dem Leben Annehmlichkeiten für eine sorgenfreie Zukunft abzugewinnen. Die Opferlamm Vertrieb, Kundendienst und Weiterbildung E. V. bietet die unterschiedlichsten Leistungen, von denen eine kleine Auswahl Lust auf einen Besuch bei uns machen soll:
- Ausbildung zum PRAKTIZIERENDEN WELTSCHMERZ (incl. einer Anleitung für WIRKUNGSVOLLE DEPRESSIONEN);
- 24-Stunden-Verleih von PRÜGELLÄMMERN UND SÜNDENBÖCKEN;
- Hausbesuch bei zerbrechenden/zerbrochenen Partnerschaften und AUSARBEITUNG VON SCHULDZUWEISUNGEN sowie ERSTELLUNG EINDEUTIGER OPFERPROFILE (incl. FOTOGRAFISCHER BEWEISAUFNAHME von zerschlagenem Geschirr, zerschnittenen Hälsen, zerbrochenen Nasenbeinen u. ä.);
- Sechs-Wochen-Kurse zu den Themen WORAN ERKENNE ICH MEINEN QUÄLGEIST, OPFER SEIN - LEICHT GEMACHT! JEDES LAMM BRAUCHT SEINEN KAMM !(Achtung!!! Ein kosmetisches Sonderangebot für unsere heranwachsenden Jungschafe!!!), WIE ERWERBE ICH KOSTENGÜNSTIG SCHULDKOMPLEXE u. v. a.
Unser gesamtes Angebot finden Sie in einem Katalog, den wir Ihnen - per Nachnahme - gern zusenden.
Die Herstellung dieses Kataloges hätte die Freunde um ein Haar entzweit. Sie waren über den Text und die Fotos in Streit geraten, und viel hatte nicht gefehlt und ein Schaf wäre des anderen Schafes Wolf geworden.
An dieser Stelle wollen wir an die bis zur Gründung des Büros geleistete Arbeit erinnern:
Vier Tage nach der Geburtstagsfeier im Lokal ZUM VEGANER sagte Wiederanders: „Wir müssen nach überzeugenden Opfern suchen! Nach solchen, deren argloses Wesen die Bösen magnetisch anzieht. Nach solchen, die wir bedauern können, ohne uns ihrem Elend auszuliefern.”
“Vielleicht finden wir die in alten Büchern?”, schlug Schürlämmer vor.
“Hervorragend!”, sagte Wiederanders. “Aber es muss anschaulich sein! Texte allein genügen nicht. Wir brauchen Bilder!”
“Vielleicht”, Märtz wollte Schürlämmer nicht nachstehen, “finden wir die Opfer in Museen oder in diesen Geschäften, die Bilder ausleihen?”
“Ausgezeichnet!”, sagte Wiederanders. „Auf denn, Freunde!”
Schürlämmer vergrub sich zwischen den Regalen der BAD STÜTZBACHER STADTBIBLIOTHEK. Er streifte durch die Weltgeschichte und fand erstaunlich viele Opfer. Mal wenige, mal viele, mal traten sie massenhaft auf. Mal meuterten sie, mal wurden sie niedergeschlagen. “Opfer”, wird Schürlämmer später sagen, “neigen zu einem zum Himmel oder in sich gekehrten Blick, mithin zu einer ablehnenden Sicht der Wirklichkeit. Dabei sind sie deren Teil. Sie gehören zur Trommel wie das Trommelfell, zum Amboss wie das Eisen, aus dem der Amboss ist, wie der Mörtel zu den Steinen.”
Nach und nach richtete sich Schürlämmers Aufmerksamkeit auf die Schriften des Christentums. Die Christen brachten nicht nur sehr viele Opfer hervor, sie grübelten auch gern über ihre Opferrolle. Sie brachten bizarre Opfer hervor und dar, und innerhalb dieser Population gab es immer mal wieder besondere Opfer.
Weil Schürlämmer von Wiederanders dazu angehalten worden war, einprägsame Schicksale zu finden, liess er sich mit wachsender Begeisterung auf das Leben der Heiligen ein. Heilig wurde gesprochen, wer auch dann noch zu seinen Überzeugungen stand, wenn ihm längst alle Knochen in den Verliesen der Religion gebrochen waren.
Gelegentlich schauderte es Schürlämmer. Was an Brüsten abgerissen, an Händen und Füssen gebraten, an Augen ausgestochen, an Köpfen abgeschlagen und bei lebendigem Leibe gesotten wurde - schaurig! Mit welchen Gegenständen Körperteile gepeinigt werden konnten - entsetzlich! Warum, fragte sich Schürlämmer während seiner Recherchen, liegt über dem Planeten Erde nicht ein Geruch aus siedendem Fett, ein Geräusch aus Jaulen und Klagen, ein Geschmack nach Verwesung in der Luft?
Abgesehen davon, dass Schürlämmers Vorschläge - was ein Grund des o. g. Zerwürfnisses zwischen den Freunden war - nur abgemildert in den Katalog kamen (welches Schaf wirbt mit der Verletzlichkeit der Haut?), hatten seine Nachforschungen zweierlei zur Folge. Schürlämmer entdeckte seine Lust an der Qual, er wurde zu einem oft und gern gesehenen Gast im Bad Stützbacher Liebesstudio KASSANDRA, das mit dem Slogan WIR MACHEN AUS IHNEN SÜLZE! warb.
Ausserdem las Schürlämmer fortan ausschliesslich in den Schriften des Christentums und verzichtete auf Tageszeitungen. Das Tägliche wurde ihm zu einem Aufguss des Ewigen. Wer mit dem Ewigen verkehrt, dem wird das Tägliche zum Mummenschanz.
Märtz erging es ähnlich dem Freunde Schürlämmer. “Suche attraktive Opfer! Suche Bilder, auf denen geschmackvoll geopfert wird!”, hatte Wiederanders ihn losgeschickt.
Beinahe versank Märtz in den Angeboten. Agenturen überschütteten ihn mit Fotografien von Modellen.
Hohlwangige, schmalschädlige Geschöpfe, deren Schienbeine durch die Haut schimmerten und in deren Schlüsselbeinen sich das Regenwasser sammelte. An ihren Hüftknochen konnten volle Einkaufsbeutel aufgehängt werden. Sie hatten Brüste wie Waschbretter.
“Jawohl, Waschbrettbrüste!”, entrüstete sich Märtz gelegentlich. “Denn wenn es so genannte Waschbrettbäuche bei Jünglingen gibt, dann gibt es auch Waschbrettbrüste bei Mädchen!” Nur von Waschbrettbäuchen zu sprechen, erschien Märtz als sexistische Ausgrenzung.
Anfänglich war Märtz fasziniert. Bald begann er sich zu ekeln. Märtz war, trotz oft falsch platziertem Humor, ein lebenslustiges Schaf. Zum Ekel gesellte sich Mitleid. “Diese halbnackten Frauen und Männer”, fand er, “diese vor Ungesundheit strotzenden Gestalten bekommen immerhin sehr viel Geld für ihre Verrenkungen, Augenaufschläge und spitzen Gelenke. Konnte”, überlegte er weiter, “derjenige als Opfer gelten, der freiwillig zwischen New York und Ribnitz-Damgarten, zwischen Singapur und Dülmen-Hiddingsel hin und her flog, um sich auf Laufstegen in den Schritt gucken zu lassen. Konnten”, fragte Märtz sich in ungewohnter Langsamkeit und Tiefe, “diese Hungergestalten ein Bild geben vom wirklichen Hunger in der Welt?” Natürlich nicht. Märtz entschied sich gegen die Agenturen.
Und die Zeit drängte. Wiederanders hatte Schürlämmer und Märtz drei Wochen Zeit zur Recherche gelassen. Dann wollte er einen abschliessenden Bericht.
Märtz stiess in einer Artothek auf gemalte Opfer. Köpfe, die auf Tabletts serviert wurden. Ein Mann namens Jesus, der am Kreuz hing und sichtlich unzufrieden war. Märtz wird später, ein Anflug seines irrigen Humors, sagen: “Der hängt da wie ein herrenloser Slip!” Und Wiederanders und Schürlämmer werden aufschreien und drohen:
“Noch einmal eine solche abgeschmackte Bemerkung, und du lebst den Rest deiner Tage in der Tundra! Wo das Gras hart und für ein mitteleuropäisches Schaf ungeniessbar ist!”
Dann Kinder. Immer wieder Kinder. Sie folgen einem Manne mit Querflöte und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Sie werden in Kellern als Sexual-Vieh gehalten, in wolfreichen Wäldern ausgesetzt, wachsen wie wilde Tiere auf und werden, kehren sie in die Städte zurück, als urständige, unbändige Geschöpfe bestaunt, verfolgt und getötet.
Schliesslich wurden die Erkenntnisse zusammengetragen und an einem Tag im Mai ausgewertet:
“Ich höre!”, forderte Wiederanders die Freunde auf zu bilanzieren.
Schürlämmer begann seinen Bericht: “Grausamkeit ist die beste Werbung! Grausamkeit ist zwingend! Wer grausam ist, wird geachtet! Grausamkeit mag der Kunde, auch wenn er es nur ungern zugibt, weil er ein paar Gedichte und Lieder gelernt hat und ein paar Benimmregeln beherrscht!” (Usw. usf.) Märtz eröffnete seinen Bericht: “Kinder sind die ansehnlichsten Opfer! Kinder sind die beste Werbung! Wer Kinder zur Werbung benutzt, nützt sich! Kinder zwingen Kunden herbei!” (Usw. usf.)
Wiederanders lauschte dem Blöken der Freunde bedächtig und aufmerksam. Ihm war wohl wie lange nicht. Er hatte zweifelsohne seine Berufung als Vorgesetzter und Unternehmer gefunden. Wiederanders stand, während die Kameraden berichteten, am Fenster und blickte in die PRINZESSIN-LÄMMCHEN-STRASSE. Er nippte an einer Tasse grünem Tee, seine Gedanken schweiften ab und er staunte über sich selber:
Vor wenigen Wochen noch Rasenmäher in der Vorstadt, war er jetzt Geschäftsführer in City-Lage. 'Mama würde sich freuen', dachte er. Sein Vater fiel ihm ein, ein Vater, den er nie kennen gelernt hatte. Er soll ein ruheloser Bock gewesen sein, der die Herde verliess, als er sie verdoppelt hatte. Ein unersättlicher Bock sei er gewesen, wurde an den Winterabenden im Stall erzählt. Nicht einmal vor der Hündin des Schäfers habe er gescheut. “Sicher wäre der Vater stolz auf mich!”, hauchte Wiederanders gegen die Fensterscheibe.
Wiederanders verstand es, die Freunde und ihre Forschungsergebnisse schmeichelnd zu tadeln und zweifelnd zu loben. Die Fülle des Materials nannte er “imponierend” und den Fleiss Schürlämmers und Märtzens “geradezu unschäfisch”. Dann sprach Wiederanders von einem “Überangebot, dem Begrenzung Not tut” und von einer “Bündelung der Bilder” und von der “notwendigen Beschränkung auf das Wesentliche”.
Wiederanders jonglierte mit den Gefühlen und Gedanken der Kameraden, dass denen die Mäuler offen standen und sie schliesslich auch dann nickten, wenn sie nicht zu sagen gewusst hätten, warum sie zustimmten.
Wiederanders entdeckte an sich selbst die Gabe anmutiger Verneinung und witziger Angriffe und charmanten Spotts. Er war, ohne dass es abgemacht, vertraglich festgeschrieben oder notariell beglaubigt wurde, Chef der OPFERLAMM E. V. geworden.
Schliesslich, nach einigem Hin und Her, längst war es Nacht geworden, zog Wiederanders eine Flasche Doppelkorn hervor. Er stellte drei eisbeschlagene Gläser auf den Schreibtisch und goss ein. Mit einem Löffel schlug er gegen sein Glas und hob zu feierlicher Rede an:
“Liebe Freunde, es geht nicht um eine weitere Verteidigung von Opfern. Es geht auch nicht um eine therapeutische Betreuung von Opfern. Auch wollen wir keine Schule des Widerstandes gegen Täter sein. Mit all dem beschäftigen sich Medien, Sozialarbeiter, Psychiater, Sozialämter. Hübsche Branchen, in denen sich mit Fürsorge, Mitleid und Gymnastiken viel Geld verdienen lässt. All diese geldverschlingenden Nutzniesser eines allgemeinen Unwohlseins in Anbetracht konkreter Nöte: Dergleichen gibt es millionenfach. Und hat doch niemanden davon abgehalten, dem Nachbarn den Schädel einzuschlagen, die Nachbarin zu vergewaltigen und den Nachbarssohn zu denunzieren, weil der eine Musik hörte, die der Regierung nicht gefiel.
Unser Projekt, “DAS PROJEKT”, fuhr Wiederanders fort (Tränen schossen ihm in die Augen), “hat allein die Absicht, lebende Wesen zu befähigen, stolze Opfer zu sein! Unser PROJEKT will dem Wesen, das unsere Dienste beansprucht, sagen: Werde Opferlamm, es gibt nichts Wertvolleres, als Opferlamm zu sein! Wir werden unseren Kunden Pläne und Rezepte anbieten, die ihnen zeigen, wie er als Opferlamm und nur als Opferlamm glücklich sein kann! Den Opferlämmern gehört die Welt! Wem sonst kann sie gehören, wenn eines Tages jeder ein Opferlamm ist?” Wiederanders machte eine Pause, um seine Sätze wirken zu lassen.
Schürlämmer und Märtz nickten ergriffen. Vergessen waren ihre Vorschläge, ihre Einwände, ihre Abwägungen. Sie waren erschöpft und hatten das Gefühl, schwer gearbeitet und zum Gelingen des Unternehmens erheblich beigetragen haben. Besteht die Kunst des begabten Vorgesetzten nicht eben darin, seinen Untergebenen genau dieses Gefühl zu vermitteln?
Vergessen waren auch die Stunden und Tage, in denen Schürlämmer und Märtz einer Welt von Ungeheuerlichkeiten ausgesetzt waren. Schaudernd hatten sie sich ein Weltbild aus Abscheulichkeiten gezimmert. Dieses Weltbild war behutsam von Wiederanders zerbrochen worden und splitterweise zum Image der OPFERLAMM VERTRIEB, KUNDENDIENST UND WEITERBILDUNG E. V. gepuzzelt worden.
“Darauf lasst uns trinken!”, rief Wiederanders: ”Es lebe das Opferlamm!”
“Es lebe das Opferlamm!”, rief Schürlämmer.
“Es lebe das Opferlamm!”, rief Märtz.
Aus: Eckhard Mieder - Der Letzte oder Begattet euch doch selber. verlag am park, Berlin 2017. 140 S. ca. 18.00 SFr. ISBN 978-3-945187-97-5