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Eine vermeintlich normale Fahrt in einer überfüllten U-Bahn

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Eine vermeintlich normale Fahrt in einer überfüllten U-Bahn Nina: Nur ein Traum

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Prosa

Nina wollte raus. Sie konnte nicht mehr zuhause sitzen und ständig heulen wie ihre Mutter. Sie machte sich fertig und packte ihre Sachen zusammen, ohne dass Mama es mitbekam.

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Nur ein Traum.

Datum 3. Dezember 2024
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Lesezeit7 min.
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Die war eh nur noch mit sich selbst beschäftigt, normale Gespräche waren schon länger kaum noch möglich. Nina lugte ins inzwischen spärlich möblierte Wohnzimmer. Ihre Mutter schlief oder vielmehr dämmerte auf der Couch vor sich hin. Der günstigste Zeitpunkt zu verschwinden. Sie steckte ihre Mappe, ihre Bücher, ein bisschen Zwieback und die schottische Stricknadel in ihre Umhängetasche.

Ihre Freundin Tamara hatte ihr gesagt, die eignete sich besser als Kugelschreiber. Nina zog ihre Wollmütze an, warf den Mantel über und verliess die Wohnung. Leise schloss sie die Haustür. Im Treppenhaus kam ihr die alte Maisuradse entgegen. Diese grüsste lustlos, fragte aber dennoch wo sie denn hinwolle. »Ich habs eilig«, entgegnete Nina bloss und trat aus dem Haus. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch mit der neugierigen Alten, sie wollte nur weg.

Die Luft war kalt und schneidend für Frühherbst. Von irgendwo schrie jemand. Es klang glücklicherweise weit entfernt. Sie schlug den Kragen hoch und marschierte los. Auf den Strassen war weniger los als sonst, oder schien es ihr bloss so? Egal, sie hatte ohnehin kein Bedürfnis auf Menschen zu treffen, die in diesen Zeiten eh zumeist barsch und rücksichtslos waren. Ein leichter Nieselregen setzte ein, sie ging zügiger und erreichte den Eingang der U-Bahn schon nach einigen Minuten. Nina wurde wie immer nervös, wenn sie die Rolltreppe hinunterfuhr.

Sie hasste es dort unten, das Licht (wenn es funktionierte), die Kälte, die Luft, alles roch nach Bedrohung. Dazu wusste man nie wann die Bahn kam, oder ob wieder was passiert war. Unten war es bereits voller Leute. Nina zog die Mütze tiefer ins Gesicht, achtete darauf, dass möglichst wenige oder besser keine ihrer schönen blonden Haare hervorlugten. Sie ärgerte sich sofort, dass sie ihren Schal vergessen hatte, mit dem sie ihr Gesicht hätte verhüllen können. Egal, es war jetzt nicht mehr zu ändern. Vielleicht würde sie eh gleich wieder verschwinden, wenn keine Bahn kommen würde. Doch welch ein Wunder, kaum näherte sie sich der wartenden Masse, vernahm sie das quietschende bedrohlich wirkende Dröhnen der Schienen, die das baldige Einfahren des Zuges ankündigten.

Die Bahn rauschte heran, die Menschen wurden unruhig. Nina vermied es in die Gesichter zu schauen. Sie wollte die unfreundlichen, dreisten und anzüglichen Blicke einfach nicht sehen. Sie sah sie schon zu oft. Von irgendwo aus der Menge drang dreckiges Lachen. Am liebsten wäre sie unsichtbar oder gleich wieder gegangen, aber das nahezu sofortige Einfahren des Zuges, wertete sie als Zeichen (was natürlich Schwachsinn war), welches ihr befahl einzusteigen (was ebenfalls Schwachsinn war). Viel Zeit gross nachzudenken, liess man ihr ohnehin nicht mehr. Nachdem der Zug laut quietschend hielt, begann die Masse zu drängeln und Nina stellte erschrocken fest, dass sie bereits mitten in der Menge war, da sich inzwischen auch hinter ihr weitere Personen, zumeist männlich, eingefunden hatten.

Zurückzugehen wäre jetzt unmöglich gewesen, alles strebte in den schon fast vollen Zug. Sie achtete panisch darauf, soweit es ihr möglich war, nicht noch einmal mit dem Bein in die schmale Lücke zwischen Bahnsteig und Zug zu geraten, wie es ihr einmal als junges Mädchen passiert war. Die Leute trampelten damals einfach über sie rüber und sie konnte überhaupt nichts machen, das Bein steckte fest. Sie wusste, würde sie ihr Bein gleich verlieren, würde sie sterben wollen, als Krüppel hätte sie als damals knapp Sechzehnjährige nicht weiterleben wollen, doch da spürte sie, wie ihr jemand unter die Arme griff, sie grob hochzog und sofort darauf in der unbekannten Masse untertauchte.

Die Türen schlossen sich und der Zug fuhr los. Paralysiert und Angstschweiss gebadet stand sie da, stieg danach jahrelang in keinen Zug mehr ein und brauchte ewig um dieses Trauma einigermassen zu verarbeiten. Ihren Retter hatte sie wie gesagt nie zu Gesicht bekommen. Sie konnte sich nicht einmal bedanken.

Mit einem möglichst grossen Schritt stieg sie ein. Sofort wurde von allen Seiten geschoben und gedrängelt. Man schimpfte und hustete, und dreckig geflucht wurde auch. Wieso tat sie sich das einmal die Woche an? Doch, die Antwort kannte sie. Zuhause war es nicht auszuhalten, mir ihrer apathischen Mutter und ihrem aggressiven Bruder mit seinen psychotischen Launen. Dazu war ihr Vater selten zuhause und wusste kaum was vorging. Sie brauchte wenigstens einmal in der Woche diese bestimmte Ruhe, diese Oase des Wissens, diese kleine Zuflucht der Zivilisation, dort konnte sie Kraft tanken, dort konnte sie Durchatmen, dort war sie frei, sogar frei von Angst. Nur dafür nahm sie all das hier in Kauf, auch wenn es ihr fast alles abverlangte.

Die Bahn setzte sich zügig in Bewegung. Die Menschen, zumeist waren es Männer, wankten hin und her. Die wenigen weiblichen Passagiere hielten sich in kleinen Gruppen zusammen, soweit es bei dieser Enge möglich war. Nina versuchte sich auch in der Nähe ihrer Geschlechtsgenossinnen, egal welchen Alters, zu positionieren. Aber meist war das aufgrund der Enge unmöglich. Sie umklammerte ihre Tasche, als würde ihr Leben davon abhängen und versuchte ihre unmittelbare Umgebung einzuordnen. Lag Bedrohung in der Luft oder blieb alles neutral? Bisher war alles im Ordnung soweit - eine vermeintlich normale Fahrt in einer überfüllten U-Bahn in einer Grossstadt. Solange sie hier eingezwängt war, versuchte sie an Nichts zu denken. An Nichts zu denken, hatte ihr schon oft geholfen um nicht Durchzudrehen, nicht hysterisch zu werden, sprich die Fassung zu bewahren. Nina war hundemüde, doch auch gleichzeitig hell wach.

Die Luft war stickig, aber damit konnte sie leben. Plötzlich spürte sie Bewegung hinter sich. Menschen hinter ihr schoben aneinander, wechselten die Positionen. Der harmlos aussehende ältere Herr, der gerade noch hinter ihr gestanden hatte – sie hatte beim Einsteigen drauf geachtet sich möglichst in seiner Nähe aufzuhalten - stand jetzt leicht seitlich neben ihr, er wurde einfach ein Stück weit von ihr fort geschoben. Wer jetzt direkt hinter ihr stand, wusste sie nicht, konnte sie nicht sehen, aber sie spürte augenblicklich die unguten Vibes. Sie schlummerten wie ein bedrohlicher Schleier direkt hinter ihr. Nina kontrollierte ihren Atem, ihr kompletter Körper war augenblicklich angespannt.

Sie verspürte sofort den unangenehmen Drang auf die Toilette gehen zu müssen, was natürlich unmöglich war. Ihre Hand griff in die Tasche. Schon bemerkte sie einen Druck von hinten, ihr Hintern, präziser, die rechte Seite ihres Hinterns wurde berührt. Sie begann leicht zu zittern, versuchte die Kontrolle zu bewahren, sie suchte in ihrer Tasche und wurde fündig. Die fremde Hand war dreist und grob, und sie versuchte sich jetzt von hinten ihrem Schritt zu nähern. Ihre Kommilitonin Tamara hatte es ihr eingebläut, bloss nicht zu Zögern. Nina hatte die Stricknadel bereits in der Hand, holte, soweit das in der Enge möglich war, aus, und stach mit voller Wucht nach hinten.

Augenblicklich vernahm sie einen kurzen Schrei hinter sich, darauf unkontrollierte hektische Bewegung. Die Hand, die bereits ihren Schritt erreicht hatte, zuckte augenblicklich zurück. Nina wagte es nicht sich umzudrehen, sie spürte, die Enge hinter ihr, hatte sich ein Stück weit gelöst. Noch eine Station und sie war am Ziel.

Sie umklammerte Tasche und Nadel, bereit wieder zuzustossen, wenn es sein musste. Es war nicht mehr nötig. Der Zug hielt kurz darauf, spuckte sie aus und flink huschte sie raus nach draussen an die Oberfläche. Sie zitterte noch eine Weile, versuchte ihre Atmung zu kontrollieren und ging dann geschwinden Schrittes die Petre Melikishvili Strasse entlang Richtung Tifliser Universität.

Entfernt fielen zwei drei Schüsse, wie so oft. Nina kann schon länger nicht mehr weinen, wie ihre Mutter oder viele ihrer Freundinnen. Sie will wieder leben, sie will wieder Normalität und wenn man diese „Normalität“ mit der Brechstange erzwingen muss. Wann würde dieser Ausnahmezustand endlich enden? Sie hatte es fast geschafft, gleich war sie am Ziel. Nur noch ein paar Meter. Gestern ging in der Ostsee bei Finnland eine riesige Fähre unter, und hier ein ganzes Land, dachte sie. Der offizielle Frieden ist eine Farce. Das Land steht weiter am Abgrund. Und auch Kurt Cobain ist vor Kurzem gestorben. Nina betritt das Universitätsgelände, erleichtert, ruhig atmend und sowas wie glücklich.

Jörn Birkholz