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Der Wortladen

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Angeklagter vor dem Staat Der Wortladen

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Prosa

Ein langer Ladentisch aus glänzendem Mahagoni. Verkäufer eilen hin und her. Sie haben kleine Monitore auf der Stirn über den Augen.

Der Wortladen.
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Der Wortladen. Foto: Hans Olav Lien (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 19. Mai 2022
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Das Licht ist unerträglich stark. Die Wand hinter den eilenden Verkäufern ist voller Fächer, Tausende und Abertausende, um all die Wörter zu fassen, die man vertreibt. Man kann sie im Dutzend und en gros kaufen. Aber das einzelne Wort ist am teuersten. Was selbstverständlich niemanden erstaunt, da der Preis stets mit erhöhter Quantität sinkt. Dennoch mag es eine Spur merkwürdig erscheinen, dass beim Kauf eines einzigen Wortes eine ausführliche und mehrseitige Gebrauchsanweisung beiliegt, die bis in feinste Komponenten alle erdenklichen Anwendungen des entsprechenden Wortes berücksichtigt.

Es geht um die Geschichte des Wortes, also dessen »Etymologie«, um seine Bedeutung oder gegebenenfalls Bedeutungen, um seinen Stellenwert, eventuelle Gewichtung, abweichende geografische Sinngebung und so weiter. Die mehrseitige Broschüre enthält nicht nur Texte, sondern auch Bilder, die den Gebrauch des Wortes illustrieren. In gewissen Fällen werden auch Videos oder Filme mitgeliefert, die demonstrieren, wie das Wort in unterschiedlichsten vorstellbaren Situationen funktionieren kann.

Was dem ungewohnten Betrachter unmittelbar auffällt, ist die scheinbar totale Unordnung aller Regale oder eher Fächer. Wer daran gewöhnt ist, dass die Fächer mit dem Buchstaben A beginnen und dann weitergehen, dürfte verblüfft sein, wenn das erste Regal zum Beispiel mit K wie »Krieg« anfängt. Die Ordnung wird nämlich durch den herrschenden Zustand der Welt bestimmt, der gerade am typischsten oder geläufigsten ist. So kann man unter Umständen bezüglich eines besonders verbreiteten Films ausführliche Schilderungen der Stars finden, die darin mitwirken.

In diesem Fall befindet sich das Schlüsselwort unter B wie »Berühmtheit«. Wobei die zur Verfügung gestellte Broschüre in »berühmte Stars«, »berühmtere Stars« und »berühmteste Stars« unterteilt ist. Aber auch eine Liste unterschiedlicher Grade des Strebens nach Ruhm kann dabei sein. Selbstverständlich sind Listen dieser Art höchst kurzlebig, können aber dennoch als Beispiel dafür dienen, wie alles in dem Wortladen angeordnet ist. Auch versteht sich von selbst, dass die unzähligen Verkäufer ständig mit der Ausschöpfung aller Wortgewimmel befasst sein müssen.

Ich kam in den Wortladen, weil ich mich über einige Wörter erkundigen und vielleicht etwas kaufen wollte.

Ich ging an den Ladentisch, um das Wort »Krieg« zu kaufen. Ich sah, dass es auf dem ersten Regal lag. Ein älterer Gentleman unterbreitete mir die verschiedenen Alternativen des Wortes sowie die aktuellsten Broschüren. Ich entschied mich für eine der neuesten: »Krieg und sein wahres Wesen«.

Später am Abend las ich die Broschüre und informierte mich über das Wort »Krieg« auch in einer Reihe unterschiedlicher Nachschlagewerke.

Dabei stiess ich zufällig auf einen Artikel darüber, dass »Krieg« nicht Krieg, sondern »Frieden« ist. Zum Beispiel konnte man lesen, dass Nationen andere Nationen von sich selbst befreit haben. Dem Artikel zufolge handelte es sich dabei um die höchste Form des Wortes »Frieden«. Und in der letzten Zeile stand sogar, dass das Wort »Krieg« eigentlich ein Synonym des Wortes »Frieden« sei. »Krieg« sei tatsächlich eine altertümliche Form, die immer ungebräuchlicher werde und im Begriff sei, durch die modernere Form »Frieden« ersetzt zu werden.

Da mir das alles unbegreiflich schien, sah ich mich genötigt, in den Wortladen zurückzugehen.

»Ich möchte die Broschüre zum Wort ›Krieg‹ zurückgeben.«
»Würden Sie so freundlich sein, sich näher zu erklären, mein Herr?«
»Ja, ich kann es nicht hinnehmen, dass das Wort, das ich gekauft habe, so unterschiedliche Bedeutungen haben soll.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, dass in der Broschüre zu ›Krieg‹ steht, dass es ›Frieden‹ bedeutet.«
»Wir Mitarbeiter des Wortladens nehmen sämtliche Reklamationen durchaus ernst. Wenn Sie so freundlich sein wollen, sich ein wenig zu gedulden, werden wir in allen unseren Wörterbüchern nachschlagen und sämtliche Experten um Rat fragen, die wir kennen. Wir geben Ihnen dann so bald wie möglich Bescheid.«

Nachdem ich einige Tage gewartet hatte, kam eine E-Mail, die mich in den Wortladen einlud: »Da Ihr Problem ungewöhnlichen und, wie uns scheint, dringlichen Charakters ist, heissen wir Sie in unserem Laden willkommen, wo einer unserer Vertreter Sie zu einem persönlichen Gespräch empfangen wird.«

Dort tauchte ein Herr hinter dem langen Ladentisch auf.

»Wir sind über Ihr Problem unterrichtet und möchten Ihnen gern helfen. Dazu sind wir da. Wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie das Wort ›Krieg‹ gekauft und das Wort ›Frieden‹ bekommen?«

Ich bejahte die Frage und sagte, dass ich sehr unzufrieden und erstaunt sei.

»Bitte warten Sie einen Augenblick.«

Ich sass auf einer Bank, als ich von bewaffneten Wächtern überrascht wurde, die mir meine Arme auf den Rücken drehten und mich in eine enge Zelle drängten.

Eine barsche und belegte Stimme lallte aus dem Dunkel vor mir.

»Hier sind Sie am richtigen Platz. Mit Leuten wie Ihnen haben wir schon immer Probleme.«

Immer wieder tauchten sie meinen Kopf in das Waschbecken.

»Sie sehen die Schrift, die unten im Becken leuchtet. Wir möchten, dass Sie sie jedes Mal vorlesen.«

Die blendenden Buchstaben, die jedes Mal in die Augen stachen, wenn mein Kopf in das Wasser tauchte, wechselten zwischen »Krieg« und »Frieden«.

Dann veränderten sie sich. Auf dem Boden des Beckens leuchtete nur noch das Wort »Krieg«. Und nun noch stärker.

Und jedes Mal, wenn ich mich aufrichtete und nach Atem rang, schrie man mir ins Ohr.

»Was steht da?«

Ich antwortete wahrheitsgemäss, dass ich das Wort »Krieg« leuchten gesehen hatte. Aber sie drückten sofort meinen dröhnenden Kopf unter das Wasser und schrien: »Frieden!«

Anschliessend schleppten sie mich in ein Zimmer mit einer riesigen weissen Leinwand. Darauf war reihenweise das Wort »Krieg« mit grossen Buchstaben projiziert. Und immer dieselbe Frage. Da ich deutlich die Buchstaben auf der grossen Leinwand sah, antwortete ich wiederum: »Krieg.«

Einer der Wächter holte gerade mit seinem Gewehrkolben nach mir aus, als ein schwer dekorierter Mann das Zimmer betrat.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie einer der Widerspenstigsten sind. Gestatten Sie mir, Ihnen zu zeigen, wie wir sozusagen die Spreu vom Weizen trennen, mit anderen Worten: die Wahrheit ausspülen. Und ich weise darauf hin, dass das Wort ›spülen‹ hier unzweideutig ist!«
Der Dekorierte gab den Wächtern ein Zeichen, an ihrem Platz zu bleiben. Dann führte er mich in eine grosse Halle, in der eine gewaltige Waschmaschine prustete und dampfte.

Der Dekorierte wandte sich an mich.

»Sehen Sie, hier werden alle Wörter gewaschen. Damit sie die rechte Bedeutung bekommen. Denn niemand soll zweifeln müssen. Hier werden alle Missverständnisse ausgewaschen, die unserer Gesellschaft schädlich sein könnten. Beispielsweise ist in letzter Zeit häufiger das Wort ›Angriff‹ vorgekommen. Dank unserer Maschine hat es in das korrektere Wort ›Verteidigung‹ verbessert werden können. Dasselbe gilt für die Wörter ›Freiheit‹ beziehungsweise ›Sklaverei‹. Um nur wenige Beispiele zu nennen.«

Augenblicklich hatte ich eine Idee. Ich bat den Dekorierten, das Wort »Liebe« in die Maschine zu stecken.

Er willigte ein, und nachdem die dröhnende Maschine eine Weile gedampft hatte, kam das Ergebnis: »Hass«. Der Dekorierte sah ein wenig erstaunt aus und erklärte, dass die Frage falsch gestellt sei. Dann fuhr er fort:

»›Hass‹ ist lediglich ein Wort. Um einen Menschen – oder ein Volk – zu erobern, müssen Sie davon sprechen, inwiefern die Liebe ein Befreier ist. Und der Hass wird sich in Liebe zum Befreier wandeln. Bei reiflicher Überlegung funktioniert also unsere Waschmaschine doch vollkommen korrekt. Obwohl ich, das muss ich zugeben, eine Sekunde lang gezweifelt habe.«

Gleichzeitig führte er mich aus der grossen Halle und übergab mich den Wächtern.

»Dieser Mann ist gefährlich für uns alle. Bringt ihn in Untersuchungshaft.«

Ich stehe mit Dutzenden von Gefangenen in eine enge Zelle gedrängt. Aber der Fussboden ist sauber, und ein violettes Licht beleuchtet alles. Wie jenes ultraviolette Licht, das in Schweineställen benutzt wird, um die Ferkel vor Bakterien zu schützen.

Einer der Gefangenen zwängt sich vor.

»Ich sehe, dass du neu hier bist. Erzähl mal, wie du hier gelandet bist.«

Ich stierte in ein abgezehrtes und mageres Gesicht. Die bleichen und eingefallenen Wangen verrieten, dass er wohl schon seit längerem hier war.

Ich musste ihn fragen, warum er hier sass.

»Warum bist du hier?«
»Ich bin verhaftet worden, weil ich das Wort ›viele‹ benutzt habe.«
»Hattest du es im Wortladen gekauft?«
»Nein, gar nicht.«
»Sondern?«
»Nun, wir hatten das Wort ›Frieden‹ in unseren Artikeln über die grossen Demonstrationen gebraucht. Ich schrieb in der Zeitung, bei der ich arbeite, dass eine grosse Zahl von Demonstranten auf den Strassen war. Dabei benutzte ich das Wort ›viele‹ und wurde verhaftet, weil ich nicht das Wort ›wenige‹ gebraucht hatte.«

Ein junger Mann, der unser Gespräch gehört hatte, drängte mit glühendem Blick heran.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Der junge Mann lachte halb hysterisch.

»Und ich habe das Wort ›wenige‹ benutzt. Das ist doch wahnsinnig! In der Gebrauchsanleitung aus dem Wortladen – ja, ich hatte das Wort dort gekauft, um ganz sicher zu gehen – in der Gebrauchsanleitung steht doch klar und deutlich, dass das Wort ›wenige‹ eine geringe Anzahl meint. Als dann ein Kerl von irgendeiner Zeitung kam und mich fragte, wie die Volksmassen dem Führer gehuldigt hatten, der seine Rede auf dem Grossen Platz hielt, sagte ich, dass nicht viele dort waren. Es hätten viel mehr sein sollen, waren aber recht ›wenige‹. Der Führer hat seine Ohren und Augen überall, und ich wurde sofort verhaftet. Obwohl ich nur den Anweisungen und Erklärungen in der Broschüre aus dem Wortladen gefolgt war. Sie sagten, ich würde alles missverstanden und nichts begriffen haben. ›Viele‹ und ›wenige‹ soll doch dasselbe Wort sein. Also sollte ich umgeschult werden.«

Allmählich wurde mir klar, wie vielen es übel ergangen war, weil sie im Wortladen eingekauft hatten. Oder vielleicht, weil sie nicht im Wortladen eingekauft und daher nicht alle Nuancen und Bedeutungen der Wörter erklärt bekommen hatten.

***

Einige Tage später wurde ich zum Verhör gerufen. Oder eher zu einem in aller Eile veranstalteten Gerichtsverfahren, das natürlich vor allem als Schauspiel gedacht war. Als Angeklagter mit einem Verteidiger, dem die Hände von der Obrigkeit mehr oder weniger gebunden waren, war mir selbstverständlich klar, dass meine Aussichten nicht die besten waren. Übrigens war ich völlig überzeugt davon, dass mein Anwalt während des ganzen Prozesses nicht ein einziges Wort in meine Waagschale legen würde. Schon als er neben mir niedersank, wäre er fast vom Stuhl gekippt und riss einen hohen Stapel mit Papieren zu Boden.

Der Saal war voll. Einige gewöhnliche Zuschauer, vor allem aber eine grosse Schar Wächter und etliche Vertreter höherer Schichten. Da zeigten sich dekorierte Männer und ihre Frauen in Kleidern und Herausmachung, die eher an ein Staatsbankett als an einen Gerichtssaal denken liessen.
»Wollen Sie hervortreten. Name. Wohnsitz. Dies ist die Rechtssache Nummer vierunddreissig und betrifft die Paragrafen über grob unpatriotisches Verhalten. Diese Paragrafen stehen in den grundlegenden Statuten unserer neuen Verfassung.«

Der Staatsanwalt ruft einen Herrn Orlander auf. Ein älterer, gebeugter Mann mit Aktentasche tritt hervor.

»Können Sie bezeugen, dass der Angeklagte mit dem Einkauf in Ihrem Laden unzufrieden war und meinte, das Wort ›Krieg‹ könne nicht dasselbe sein wie das Wort ›Frieden‹? Dies ist selbstverständlich eine unerhörte Behauptung in Anbetracht der Tatsache, dass unsere kompetente und geachtete Akademie erst vor zwei Wochen unser neues Wörterbuch autorisiert hat.«
»Vollkommen richtig. Das neue Wörterbuch ist ein Ausdruck des Göttlichen. Ein wahrhaftes Meisterwerk. Wir haben bereits eine enorme Menge davon verkauft, und die Leute stehen Schlange vor unserem Laden. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen und erwähnen, dass unser Laden vorige Woche eine exklusive staatliche Auszeichnung erhalten hat. Ein Plakat in Gold, das wir gleich an der Tür angebracht haben und …«
»Darf ich Sie bitten, die Frage zu beantworten. Was geschah, nachdem Sie dem Angeklagten das Wörterbuch oder die Broschüre verkauft hatten?«
»Er kam nach nur ein paar Tagen zurück und beschwerte sich.«
»Worauf bezog sich die Beschwerde?«
Der gebeugte Mann mit der grossen Aktentasche sah ein wenig verlegen aus, als er sich an den Staatsanwalt wandte.
»Er sprach unter anderem von Ländern, in die der Krieg gekommen war, um mit Frieden zu befreien. Aber dass …«
Der Staatsanwalt sah den Ladenbesitzer scharf an.
»Nun?«
»Der Angeklagte meint, ›Krieg‹ könne niemals ›Frieden‹ sein. Ebenso wenig wie ›Liebe‹ ›Hass‹ sein könne. Ich glaube, ich habe meine Tasche voll von ähnlichen Wörtern, die der Angeklagte in Frage stellen würde. Soweit ich sehen kann – ja, bei grösstem Respekt vor dem Angeklagten –, aber dem Anschein nach ist ihm die neueste Aktualisierung unseres Wörterbuchs entgangen. Das ist meine Ansicht, Herr Staatsanwalt.«
»Und was meinen Sie selbst? Gibt es die geringste Berechtigung in der Beschwerde des Angeklagten?«
»Es gab Zeiten … ich muss zugeben … aber das war gewissermassen vor der neuen Zeit. Nun ja, damals könnte ich wohl …«
»Danke. Ich glaube, wir alle verstehen.«
Der Staatsanwalt drehte sich um und wandte sich an den Saal.
»Der Angeklagte möge hervortreten.«
Ich erhob mich langsam und ging einen Schritt vor.
Der Staatsanwalt richtete sich abermals an den Ladenbesitzer, der nun immer befangener an der Tasche mit allen Wörtern herumfingerte.
»Ist dies der Mann, dem Sie Ihre Wörter verkauften? Sind Sie sich völlig sicher?«
»Es waren so viele Menschen im Laden, ein derartiger Ansturm. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ja … doch … ich denke …«
»Danke. Keine weiteren Fragen. Sie können sich setzen.«

Der Staatsanwalt hatte eine magere Figur, hohle Wangen und trug eine riesige Brille, die er augenscheinlich halb manisch unentwegt putzte. Er sah mich scharf an.

»Gestehen Sie, das neueste Wörterbuch nicht gelesen zu haben?«
»Ja, aber es erschien erst, nachdem ich meinen Einkauf gemacht hatte. Ich hatte folglich keine Möglichkeit …«
»Sie brauchen lediglich auf meine Fragen zu antworten. Ich wiederhole also: Sie haben die Aktualisierung des Wörterbuchs versäumt? Antworten Sie mit ja oder nein. Haben Sie es versäumt, nach der Aktualisierung zu fragen?«
»Ja, aber wie …«
»Sie sehen auch ein, dass ›Krieg‹ ›Frieden‹ und etwa ›Liebe‹ ›Hass‹ bedeuten muss?«
»Ja, aber ich muss dennoch …«
»Keine weiteren Fragen.«

Der Staatsanwalt liess seinen Blick über die Versammelten schweifen. Er stiess auf die zustimmenden Mienen der Dekorierten und das Lächeln der Damen in Galaaufzug, die wie aus Theaterlogen glitzerten.

»Es scheint mir offensichtlich, dass der Angeklagte sich grober Fahrlässigkeit schuldig gemacht sowie seine selbstverständliche Pflicht gegenüber dem Vaterland ausser Acht gelassen hat. Wie man weiss, obliegt es durchaus jedem Bürger, nach besten Kräften die einzigartigen Einsätze zu unterstützen, die unsere heldenhafte Armee durchgeführt hat oder durchführen wird, um allen Brüdern ausserhalb unserer Grenzen Frieden zu bringen. Hier möchte ich alle Anwesenden bitten, unserer glorreichen Geschichte zu gedenken. Der Angeklagte nennt alle friedliebenden Einsätze ›Krieg‹. Damit verrät er seine Unkenntnis sowie seine grobe Fahrlässigkeit. Es handelt sich somit um einen Volksfeind, einen gefährlichen Mann. Dies bitte ich das Gericht, sorgfältig zu begründen, damit uns Gerechtigkeit widerfahren kann.«

Applaus hallte durch den Saal.

Ich wusste sehr wohl, was mich erwartete, falls ich dem neuen Wörterbuch meine Zustimmung verweigerte. Würde ich jetzt kein Geständnis ablegen, würde die Strafe entschieden strenger ausfallen. Ausserdem würde ein Geständnis in jedem Fall erzwungen werden, und zwar mit den bekannten brutalen Methoden.

In einer längeren Pause erörterte ich die Sache mit meinem Anwalt. Sein aufgeschwemmtes Gesicht schwoll mit seinem Bauch um die Wette. Jedes Mal, wenn ich mich mit einer Frage an ihn wandte oder in sein Ohr flüsterte, kam lediglich »ja, ja« über seine Lippen. Ich fühlte mich ein wenig erhaben, weil ich über einen Verteidiger verfügte. Nur bei besonders dringenden oder wichtigen Fällen bekam man einen Anwalt zugeteilt.

»Hat der Angeklagte etwas anzuführen?«
»Ich möchte nur sagen, dass ich an dem Tag, da ich zum Wortladen ging, um mich zu beschweren, verwirrt war. Ich sehe inzwischen ein, dass ich in einem Zustand totaler Verwirrung daran zweifelte, dass ›Krieg‹ ›Frieden‹ ist, ›Liebe‹ ›Hass‹ und ›Freiheit‹ ›Sklaverei‹. Ja, ich erkannte nicht, dass die Bedeutung in all diesen Fällen dieselbe ist. Oder die entgegengesetzte, falls man es so ausdrücken darf.«

Der bleiche und vertrocknete Staatsanwalt nahm ein Taschentuch hervor und rieb sich damit seine spitze Nase.

»Als Staatsanwalt kann ich mich natürlich nicht damit zufriedengeben, dass der Angeklagte behauptet, ›Krieg‹ sei ›Frieden‹. So etwas zu gestehen, heisst nicht, glaubwürdig zu meinen, dass es sich tatsächlich so verhält. Und es handelt sich schliesslich um einen unbestreitbaren Paragrafen unserer neuen Konstitution. Daher beantrage ich eine strenge Strafe.«

Der Richter wandte sich nun an meinen Verteidiger, ehe die Verhandlung abgeschlossen werden sollte.
»Hat die Verteidigung etwas hinzuzufügen, bevor sich das Gericht zur abschliessenden Beratung zurückzieht?«
Mein Anwalt stellte sich schwerfällig auf die Füsse und schien den Blick des Richters zu suchen.
»Ja, ja …«
»Was meinen Sie? Sind Sie einverstanden, dass sich das Gericht vor den Plädoyers zurückzieht?«
Dem Verteidiger gelang es, für einen Moment meinen Blick zu fangen, und ich nickte. Dann neigte er sich schwer nach vorn zum Richter.
»Ja, ja …«

Die bewaffneten Wächter ergriffen mich und führten mich aus dem Gerichtsgebäude. Mir war gestattet worden, ein letztes Mal meine Wohnung zu besuchen, ehe ich ins Gefängnis gebracht werden sollte.

Nun wurde mir klar, warum meine Frau in der letzten Zeit so abweisend gewesen war, meinem Blick nicht begegnete und bei den Mahlzeiten immer weniger gesprochen hatte. In den letzten Wochen hatte sie am Fenster gesessen und schweigend über den kleinen Park draussen hinweggesehen.

Die Wächter liessen mich los, sodass ich einen Zettel aufheben konnte, der auf dem kleinen Tisch im Flur lag.

»Da ich Dich in letzter Zeit mehr und mehr liebe, möchte ich, dass sich unsere Wege trennen. Meine Anwältin wird sich bei Dir melden. Ellen.«

Ich faltete den Zettel sorgfältig drei Mal zusammen und steckte ihn in die Tasche.

Die Wächter bogen meine Arme auf den Rücken und schoben mich die Treppen hinunter.

Es waren neue Zeiten angebrochen.

Ingvar Hellsing Lundqvist

Übersetzung aus dem Schwedischen von Jürgen Vater