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Payssage - Geschichten aus der französischen Provinz

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Am Vorabend der französischen Vorwahlen Payssage - Geschichten aus der französischen Provinz

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Prosa

Abends kamen wir in Forges-les-Eaux an. Ich hielt gleich vor dem Hoteleingang und half Paul aus dem Wagen. Er sollte im Foyer auf mich warten.

Amerikanischer Soldatenfriedhof in Henri-Chapelle.
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Amerikanischer Soldatenfriedhof in Henri-Chapelle. Foto: M. A. Sieber

Datum 3. Januar 2018
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Als ich mit dem Gepäck zurückkehrte, sass er unverändert dort: zusammengesunken auf dem viel zu grossen Sofa, den Kopf in die Hände gestützt. Ich führte ihn auf das Zimmer, legte ihm seine Sachen bereit: den Kulturbeutel, die Tabletten; eine Flasche Wasser. Wenn er noch etwas brauche, sagte ich, müsse er nur an der Wand klopfen, mein Zimmer sei gleich nebenan. Er sah zu mir hoch, aus unendlich müden Augen, und bedankte sich.

Eine Weile blieb ich in dem leeren Hotelzimmer stehen; es war so still, dass ich ein Summen in meinen Ohren hörte. Ich öffnete das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Man konnte das alte Portal sehen, das auf der anderen Strassenseite als blosse Fassade allein für sich stand und vor ewiger Zeit zu einem Karmeliterkloster gehört hatte. Heute war das Casino dort. Mir fiel ein, dass die Frau an der Rezeption dieses Mal gar nicht auf die Öffnungszeiten hingewiesen hatte. Als wir an ihr vorbei gegangen waren, hatte sie nur „bonne soirée“ gesagt und die Augen niedergeschlagen. Aus Nachlässigkeit? Oder aus Taktgefühl? Wir sahen in der Tat nicht so aus, als wollten wir heute Abend unser Glück versuchen; anderseits wusste ich nicht, wie solche Leute überhaupt aussehen sollten. Ich dachte kurz an Leaving Las Vegas und warf die Zigarette aus dem Fenster. Es war meine letzte gewesen.

Als ich mich aufs Bett fallen liess, sah ich wieder Felder und Wiesen vor mir, tiefbraune Äcker und bewaldete Hügel. Ich war extra über Land gefahren, ich dachte, so bekäme Paul etwas zu sehen. Früher hatten wir von Aachen aus kleinere Ausflüge in die Umgebung gemacht, zum Vaalserberg, nach Aubel oder Lüttich. Ich mochte die Wallonie. Sie hatte etwas Ehrliches, Erdverbundenes an sich, etwas Rohes und Tristes, das mich irgendwie anzog. Dies lag nicht nur daran, dass ich Paul meistens im Winter besuchte, wenn sich das Astwerk der Bäume wie eine Tuschezeichnung gegen den Himmel abhob und alles so karg und ärmlich aussah; es lag auch an den Orten, die er mir damals gezeigt hatte. Einmal waren wir in Kelmis um einen öden Weiher gelaufen, an dessen Ufer irgendeine Blume wachsen sollte, die nur auf schwermetallhaltigen Boden gedieh.

Wir fanden sie nicht und fuhren weiter nach Henri-Chapelle, einem amerikanischen Soldatenfriedhof, auf dem wir, geblendet von der geometrischen Klarheit der Gräberreihen, auf die unzähligen weissen Kreuze schauten. Ich erinnerte mich auch, wie wir ein Jahr später auf dem Weihnachtsmarkt in Lüttich gewesen sind und uns nachher, als es schon dunkel war, am Montagne de Bueren in einem Labyrinth aus mittelalterlichen Gässchen verliefen. Wenn Paul auf den Stufen nach Atem rang, versicherte er mir immer wieder, dass irgendwo ein Weg abgehen müsse, der an den Terrassen unterhalb der Zitadelle entlangführe, an Gärten und Bauernhöfen vorbei, und einen herrlichen Blick auf die Stadt biete. Mit seinem Französischkurs fuhr er regelmässig nach Belgien und konnte mir zu allem etwas erzählen, meistens Geschichtliches.

Er hatte mir auch erklärt, dass die Wallonie vor allem durch Bergbau und Landwirtschaft geprägt sei. Vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass sie in meiner Vorstellung schon in Jackerath anfing, wenn ich mit dem Auto am Garzweiler Tagebau vorbeifuhr, und sich über Pauls bescheidene Wohnung am Bahnhof Rothe Erde bis in die eigentliche Region erstreckte.

Von Lüttich aus waren wir weiter südwestlich gefahren, über Rochefort bis Charleville. Dort hatte ich vor dem Bahnhof gehalten und mir in einem angrenzenden Parkstück die Beine vertreten. Vor Rimbauds Denkmal blieb ich stehen. Er hatte einen bürgerlichen Scheitel und starrte ausdruckslos in die Leere; die Büste sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Nur der kleine Musikpavillon, wenige Meter entfernt, sah genauso aus, wie ich ihn einmal in einer Biographie von Bonnefoy gesehen hatte. Ich ging zum Auto zurück; Paul wollte noch auf Toilette gehen. Und während ich in der Bahnhofshalle auf ihn wartete, dachte ich daran, wie sehr Rimbaud diese Stadt gehasst hat, und dass hier, in der Nähe der Züge, im Grunde der einzig mögliche Ort für sein Denkmal gewesen war.
Amerikanischer Soldatenfriedhof in Henri-Chapelle.

Bild: Charleville - Square de la Gare. Le Kiosque à Musique. / M. A. Sieber

Es gab nichts zu sagen. Anfangs hatte es mich noch irritiert, dass Paul die meiste Zeit über schwieg. Aber dann starrte ich auch nur noch stumm auf die Strasse.

Einmal, als wir gerade durch ein kleines Dorf in der Picardie fuhren, fragte ich ihn, ob wir hier im Wahlkreis von Le Pen seien. Die vom Regenwasser schwarzen Wände, der aufgebrochene Verputz, das grobe Mauerwerk, das darunter zum Vorschein kam, die teilweise mit Brettern und Wellblech vernagelten Fenster – das alles bot einen extrem trostlosen Anblick.

„Nein“, sagte er, „der ist weiter nördlich, in Nord-Pas-de-Calais.“
„Ferschstehe.“
Es war das einzige Mal, dass Paul gelacht hatte an diesem Tag.
Im Grunde genommen hätten wir auch in einem Rutsch durchfahren können. Dann wären wir jetzt schon am Meer.

Ich steckte die Transponder-Karte ein und trat in den Flur. Vor Pauls Tür war kein Laut zu hören. Ich ging weiter den Flur entlang, die Treppe herunter, durch das Foyer an der Empfangsdame vorbei. Draussen blieb ich einen Moment auf dem Bürgersteig stehen. Das gelbliche Laternenlicht warf einen schwachen Widerschein auf die Häuserfassaden; einige Lampen waren ganz ausgefallen. Woher würde ich jetzt Zigaretten bekommen? Ich entschied mich Richtung Marktplatz zu gehen; es war Freitagabend, irgendeine Kneipe musste ja wohl noch geöffnet haben. Auf dem Weg kam mir ein Mann mit seinem Hund entgegen. Ein Streifenwagen der Gendarmerie fuhr vorbei. Nach einer Weile tat sich zu meiner Linken ein Vorplatz auf: Er lag dort in völliger Stille, von ein paar Bäumchen umfriedet, wie eine unbedeutende Nebenstrasse.

In der Mitte stand ein obeliskartiges Denkmal, an seinem Fuss ein gefallener Soldat, darüber hing die Trikolore. Ich staunte, dass sich selbst hier, in dieser Provinzstadt, eingezwängt zwischen die Rue de Verdun und dem Place de Gaulle, die grande nation im Kleinen widerspiegelte. An der einen Seite waren, auf provisorischen Holzbrettern angebracht und mit Zahlen durchnummeriert, die Wahlplakate der Präsidentschaftskandidaten zu sehen. Ich trat näher. Auf die Stirn von Macron hatte jemand faiseur geschrieben, Le Pen trug ein Hitlerbärtchen. Ich ging weiter. Und als ich auf dem Place de la République ankam, wo die Strassen aus allen vier Himmelrichtungen zusammentrafen, wurde mir klar, das Forges-les-Eaux eine tote Stadt war. Nur ein Pizza-Imbiss, der in einem Container untergebracht war, hatte noch geöffnet; zwei Gestalten entfernten sich gerade mit ihren Pappkartons. Ich schaute ihnen nach, wie sie in einer Seitenstrasse verschwanden. Dann lief ich den Weg wieder zurück.

Das Grand Casino lag, weithin sichtbar, auf einer kleinen Anhöhe und wurde von rosafarbenen Scheinwerfern angeleuchtet. Der Säulenbau sollte wohl an einen griechischen Tempel erinnern; für mich sah er eher wie ein riesiger Edel-Puff aus. Am Eingang musste ich meinen Ausweis vorzeigen, ich kam durch eine Sicherheitsschleuse; zwei Schwarze in Anzügen standen steif daneben. Ich trat in einen gewaltigen Marmorsaal. Die Farben, der Lärm und das Menschengewirr machten mich im ersten Moment wie blind. Flüchtig suchte ich den Raum nach einer Bar ab und sah eine Frau mit Headset auf einem Podest stehen. Über ihr wurde ein Rouletterad als Projektion an die Wand geworfen; unten sassen die Spieler über ihre Bildschirme gebeugt wie Forscher. Die Frau nannte Zahlen. Es war, wie ich erst jetzt begriff, eine Liveübertragung.
Amerikanischer Soldatenfriedhof in Henri-Chapelle.

Bild: Das Grand Casino in Forges-les-Eaux. / M. A. Sieber

Ich ging in den Salles des Machines à Sous, irrte in Myriaden von Lichtern und Klingeltönen umher, die von der niedrigen Spiegeldecke zurückgeworfen wurden, bis ich endlich den Tresen fand. Ich bestellte einen Cognac und trank ihn in einem Zug aus; ich spürte, wie mich jemand von der Seite ansah. Es war ein Araber, vielleicht Libanese oder Marokkaner. Er nahm gerade seinen Espresso entgegen, dann ging er zielstrebig auf einen Pavillon zu. Ich folgte ihm. Der Raucherbereich war lieblos eingerichtet, ein paar Plastikstühle standen herum, weisse Beistelltische, von Asche übersät; aber selbst hier gab es Automaten, an denen man Roulette spielen konnte. Ich entfernte die Folie von der Zigarettenschachtel und steckte mir eine Marlboro an. Als ich mich umsah, begegnete ich seinem Blick.

„Avez-vous joué à la roulette?“
Ich verneinte.
„Je nʼai pas de bonheur.“
Er musterte mich einen Moment.
„Venez-vous dʼici?“
„Non. Je suis de lʼAllemagne.“
„Ah, Madame Merkel“, sagte er und legte seine Hand auf die Brust. „Elle a bon cœur.“
Ich wollte ihm sagen, dass ich ihm für morgen die Daumen drückte. Aber dazu reichte mein Französisch nicht.

Am nächsten Tag, als wir schon wieder unterwegs waren, fragte ich Paul nach der Redensart. „Croisser les doigts“, sagte er. „Warum?“

Ich erzählte ihm von meinem gestrigen Spaziergang, dass die ganze Stadt völlig ausgestorben war, keine einzige Bar noch geöffnet hatte und die Einwohner nur ins Casino gehen könnten.

„Ich dachte immer“, sagte ich, „dass Forges-les-Eaux eine reiche Kurstadt ist, mit einem alten, ehrwürdigen Casino. Das haben mir früher meine Eltern erzählt. Aber da sind gar keine vornehmen Leute gewesen, wie ich mir immer vorgestellt habe, es gab noch nicht mal richtige Roulettetische. Da waren ganz einfache Leute in Jeans und T-Shirt, die an ihren Automaten sitzen und vom grossen Gewinn träumen. Mit einem Araber bin ich ins Gespräch gekommen. Ich wollte ihm für heute die Daumen drücken.“

Und da er weiterhin schweigend nach draussen schaute, wo es ausser ein paar weidenden Kühen gar nichts zu sehen gab, fügte ich noch hinzu:

„Heute sind ja die Vorwahlen.“
„Ob Macron oder Le Pen“, sagte er schliesslich. „Für die Kühe hier wird sich nichts ändern.“

So können nur Todgeweihte denken, dachte ich.
In der Ferne tauchte ein Autobahnschild auf.
Ich fuhr auf den Zubringer und beschleunigte.

M. A. Sieber