Der heftigste, den er bisher erlebt hatte. Sein kleiner Bruder Erandi sass, den zerscheuerten Stoffhasen fest mit seinen Ärmchen umschlungen, auf der gemeinsamen Matratze. Neben ihm krabbelte die acht Monate alte Hanife schluchzend herum. Erandi zitterte, seine verschwitzten Haare hingen ihm ins Gesicht. Er sah sich ständig um, die Augen flackernd, wie ein Wolf in der Falle, die Lippen zusammengepresst zu einem Strich.
Jetzt, als die Flugzeuge wieder zu hören waren, die nächste Angriffswelle im Anflug, begann er wie ein Hund zu heulen.
Ein furchtbares Geräusch, das im Lärm der nahen Explosion einen Augenblick unterging. Latif hatte sich instinktiv zu Boden geworfen. Er spürte wie das Haus zitterte, die Balken ächzten. Kalk rieselte auf sein Haar.
Immer heftiger wurden die Erschütterungswellen, die durch das Haus liefen. Latif blickte an sich herunter und sah mit Abscheu, das sich seine Hosen nass verfärbt hatte. Trotzdem er wirklich andere Sorgen hatte, schämte er sich dafür. In diesem Augenblick tat es einen unheimlichen Schlag, gleichzeitig öffnete sich die Tür. Ein alter Mann, gekleidet in einen blauen Kaftan, stand im Rahmen. Der Fremde lachte aus bärtigem Gesicht: "Besser wir machen, dass wir hier wegkommen? Findet ihr nicht?" Latif lächelte schüchtern zurück und nickte.
Der Unbekannte kniete sich neben seinen Bruder und legte ihm die Hände an die Schläfen. "Nun schön ruhig, mein Erandi! Es ist alles gut. Ich bringe euch jetzt fort von hier, von den Bomben und Raketen!" Sofort beruhigte der Junge sich. Mit wehendem Gewand stand der Mann nun neben dem Bett, hob Hanife hoch und drückte sie an seine breite Brust. "Kommt mit!"
Er trat auf die Strasse und die beiden Knaben beeilten sich, ihm zu folgen. "Wo gehen wir denn hin?", fragte Latif, als sie vor dem Haus standen. Überall war Verwüstung zu sehen, brennende Wohnhäuser, riesige Krater in den Strassen, schwelende Autowracks. Der graubärtige Alte sah ihn aus seltsamen, freundlich leuchtenden Augen an. "Ich bringe euch über den Fluss", sagte er, "dort seid ihr in Sicherheit. Ihr werdet sehen, es wird euch gefallen."
Latif schwieg. Es gab keinen Fluss in der Stadt. Was hatte der Mann mit ihnen vor? Er empfand keine Angst, fühlte, dass hier jemand war, der es ihnen gut meinte. Der Fremde hob seinen Arm, in einer fliessenden Bewegung entfaltete sich ein grosses Stück von seinem Kaftan. "Hüllt euch ein!", forderte er die Buben auf, die kleine Hanife sanft umfassend. Sie traten zu ihm und er warf mit leichter Hand den Mantel um sie.
So gingen sie, wunderbar geschützt, durch die anbrechende Dämmerung, durch die Explosionen rechts und links, vorbei an Toten und Verletzten.
Da waren Lichter, fröhliches Kindergeschrei, ein Duft wie auf dem Jahrmarkt, von Bratäpfeln und Mandeln. Eine unbändige Freude machte sich in seinem Brustkorb breit. Da waren die Ruhe und der Frieden. Keine Bomben.
Da waren Kinder, die glücklich lachten. Dennoch drehte Latif sich noch einmal um. Hinter ihm zerfiel alles in grauen Staub.
"Lebe wohl, Mutter", flüsterte er und wusste. In der Rugova-Strasse bemühten sich Nachbarn um die zusammengebrochene Mutter der drei toten Kinder. Nur Wasser hatte sie besorgen wollen, war festgenommen worden.. "Ja", nickte eine zahnlose Alte, "die Siebzehn bringt nichts Gutes. Die Bombe muss das Haus genau getroffen haben, ist ja nur noch Schutt und Asche."