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Deglobalisierung – Zeitdiagnose und Perspektive

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Zeitdiagnose und Perspektive Deglobalisierung

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Wirtschaft

Begeisterte Befürworter der Globalisierung erlebten schon einmal bessere Zeiten.

Frachtverkehr auf der Elbe bei Hamburg, Februar 2019.
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Frachtverkehr auf der Elbe bei Hamburg, Februar 2019. Foto: Frank Liebig (CC BY-SA 3.0 cropped)

Datum 13. April 2021
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In einer Einschätzung der Commerzbank heisst es alarmistisch: „Der Welthandel zerfällt in regionale Blöcke“ (zit. n. Kaufmann 2019). Protektionismus ist weit verbreitet. Nicht nur die bekannten Instrumente (z. B. Zölle) finden Anwendung. Die Denkfabrik Eurasien-Group spricht von einem „kalten Technologiekrieg“.

Die USA blockieren den Zugang von Huawei zum US-Markt und „reglementieren den Verkauf von High-Tech-Gütern ans Ausland. So brauchen Unternehmen wie Microsoft inzwischen staatliche Lizenzen, um Software an China zu verkaufen. ‚Technologische Vorherrschaft', so US-Vizepräsident Mike Pence, ist eine Bedingung unserer nationalen Sicherheit'“ (Kaufmann 2019).

Gegenwärtig ist von Globalisierungs-Euphorie wenig zu spüren. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm erklärte in einem Interview mit dem ‚Handelsblatt' auf die Frage, wie die Covid-Seuche, die anders als SARS nicht regional begrenzt ist, sich auswirkt; „Es wird nicht so bleiben wie bisher, weil wir nicht mehr so stark auf internationale Lieferketten vertrauen werden“ (zit. n. Pezzel 2020). Dies verstärkt einen Prozess, der unabhängig von der Covid-Krise bereits im Gang war.

In der Zeitung „Die Welt“ heisst die Überschrift eines Artikels: „Zeitenwende: Die De-Globalisierung hat längst begonnen.“ Für die „rückläufige Globalisierung“ werden folgende Anzeichen genannt: Der globale Handel wächst seit 2008 langsamer als die Produktion. Und: „Seit 2011 ist die Fragmentierung der Produktion auf globaler Ebene rückläufig. Sie war nach dem Einbruch in 2008 nur marginal wieder angestiegen, um seitdem kontinuierlich zu sinken“ (Straubhaar 2016).

Steffen Kinkel ist Wirtschaftsinformatiker an der Hochschule Karlsruhe. „Alle zwei bis drei Jahre fragt (er) […] mehr als 1400 deutsche Industrieunternehmen, ob sie Arbeit ins Ausland verlagert haben. Und ob sie Arbeit zurückgeholt haben. […] 1997 verlegten (Kinkels Umfrage zufolge – Verf.) z. B. 27% der Metall- und Elektronikhersteller Teile ihrer Produktion ins Ausland. 2003 waren es 25%. […] 2009 waren es nur noch 9, 2012 noch 8 %“ (Böhme 2019). „Viele haben Probleme mit den Partnerfirmen vor Ort. Oder die Logistik ist zu umständlich“ (Ebd.).

Zwei verschiedene Begriffe von Globalisierung

Ein enges Verständnis von Globalisierung bezieht sie auf das Ausmass langer, verschiedene Kontinente umspannender Lieferketten und auf die Überwindung von Handelsschranken. Einem weiten Verständnis von Globalisierung entspricht die Feststellung: Selbst wenn die Lieferketten weniger international wären und es mehr Handelshemmnisse gäbe, bliebe der Konkurrenzdruck des Weltmarkts auf die Volkswirtschaften bestehen. Um in der Konkurrenz nicht unterzugehen, muss jedes Kapital seine Verwertung steigern. Das Fortkommen der Sieger wird auf dem Weltmarkt prämiert. In Ländern, die wirtschaftlich schlecht dastehen, unterbleibt die Förderung von Entwicklungspotentialen auf ‚niedrigerem' Niveau.

Wer in der internationalen Konkurrenz auf den unteren Plätzen steht, kann oft nicht einmal mehr im eigenen Land auf teurere Weise technisch weniger anspruchsvolle Produkte herstellen, sondern wird durch die Produkte der Gewinner überschwemmt. Die Kapitale der wirtschaftlich reicheren Länder beanspruchen einseitig häufig bestimmte Stoffe und volkswirtschaftliche Segmente der wirtschaftlich armen Länder. Das verhindert eine aufeinander abgestimmte und eine sich positiv rückkoppelnde Arbeitsteilung in der ‚zurückgebliebenen' Ökonomie.

Negativfolgen internationaler ökonomischer Vernetzung

Bereits aus ökologischen Gründen werden sich Transporte zukünftig massiv verteuern. Kostenvorteile durch Aussenhandel verlören schon damit stark an Bedeutung. Das Lob der langen Lieferketten setzt die billigende Inkaufnahme niedriger und niedrigster Löhne sowie schlechter Arbeitsbedingungen in anderen Ländern voraus. Viele Befürworter der Globalisierung sehen davon ab, weitere Negativwirkungen überhaupt umfassend wahrzunehmen.

Ein Beispiel: Frachtschiffe laden „zwecks Stabilisierung in ihren Ballastwassertanks an einem Ende des Meerwasser, um es am anderen Ende wieder ins Meer zu lassen. Zehntausende Arten sollen dabei nach Schätzungen verschifft werden“ – und zwar in Gegenden, in denen sie nicht durch ein evolutionär gewachsenes Umfeld (inklusive natürlicher Feinde) gebändigt werden (Ulrich 2020). Die auch auf andere Art und Weise zustande kommende „Welthomogenisierung ist dabei, in hohem Tempo Tier- und Pflanzenarten auszurotten, und zwar ohne dass einem einzigen Tier oder einer einzigen Pflanze unmittelbar etwas angetan würde (was andernorts natürlich auch noch passiert, etwa um anstelle von Regenwald Soja für die deutschen Schweine anzubauen, die dann als Nackensteak nach China verkauft werden.)“ (Ebd.).

Vielen wird bewusst, wie die Herrschaft des Weltmarkts den Druck der Konkurrenz auf die nationalen Ökonomien verschärft. Aus den Erfahrungen mit den Negativfolgen internationaler ökonomischer Vernetzung im Krisenfall wird auf so etwas wie Schotten im Schiff gedrängt. Dem entspricht das Votum für die „grössere Unabhängigkeit von überregionalen Stoff-, Güter- und Finanzströmen, also die sukzessive Stärkung und Immunisierung der Region gegenüber zu grosser Abhängigkeit von aussen“ (Reinhard Loske). Diese verschiedenen Motive konvergieren im Plädoyer dafür, ökonomische Zusammenhänge zu dezentralisieren. Lokale und regionale Bereiche wären dann stärker miteinander verknüpft. National und international wäre der Vernetzungsgrad geringer.

Deglobalisierung

Walden Bello (2001) von der einflussreichen thailändischen Nichtregierungsorganisation 'Focus on the Global South' tritt für „Deglobalisation“ ein als Antwort auf die Probleme, die aus einer weit verstandenen Globalisierung oder aus den Zwängen des Weltmarkts entstehen. Die geforderte Regionalisierung unterscheidet sich vom Protektionismus oder der Formierung von Wirtschaftsblöcken, die sich auf die Konkurrenz am Weltmarkt ausrichten, sich also positiv auf ihn einstellen.

Stattdessen geht es um eine weltweite Raumordnung, die den Rückbau und die Entmächtigung des Weltmarktes beinhaltet: „Die Dekonnexion bedeutet für mich die Unterwerfung der äusseren Beziehungen unter die Logik einer internen Entwicklung. Es ist das Gegenkonzept zu dem zur Mode gewordenen Weltbankmodell der Strukturanpassung. Die Strukturanpassung erfolgt stets einseitig, es ist die Anpassung der Schwachen an die Erfordernisse der Starken. […] Es wäre eine auto-zentrierte Entwicklung in einem mittelgrossen Rahmen vorstellbar, bspw. dem Zusammenschluss von mehreren Nationen oder Ländern der Dritten Welt.

So grosse Länder wie China oder Indien und eine Reihe grösserer Staaten des Südens könnten hier eine Vorreiterrolle spielen“ (Samir Amin). Zwar bedarf es internationaler Absprachen, ihr Ziel muss aber sein, die „Notwendigkeit übergreifender Entscheidungen und Regulierungen zu vermindern“ und „die eigenständige politische Kompetenz lokaler und regionaler Einheiten zu Lasten von Staaten und internationalen Organisation zu stärken“ (Christoph Görg, Joachim Hirsch). Wenn wir im Folgenden von Deglobalisierung sprechen, dann nicht im Sinne einer Abnahme von internationalen Geschäftsbeziehungen, sondern im Sinne einer Überwindung des Weltmarkts.

Missverständnisse über die Deglobalisierung

Den Weg der Deglobalisierung gilt es abzugrenzen gegen Versuche, die Globalisierung gerecht zu gestalten einerseits, Strategien der Lokalisierung andererseits. „Während die ‚Gerecht Gestalten'-Strategie die Dynamik der Globalisierung stärkt, indem sie sie reformieren will, erliegt die Lokalisierungsstrategie der Gefahr einer Nischenpolitik ohne durchgreifende Wirkung“ (Eckhard Stratmann-Mertens 2004).

In der Konkretisierung dieser Deglobalisierung ist zu unterscheiden zwischen ‚passiv' zu unterlassenden Massnahmen und aktiven Schritten hin zu einer regionalen Orientierung. Zu unterlassende Massnahmen sind z. B. die Exportförderung (Agrarsubventionen, Hermesbürgschaften, Flug- und Schiffstreibstoffsubventionierung u.a.) und die Förderung Transnationaler Konzerne. Aktive Massnahmen orientieren sich daran, dezentrale Wirtschaftsstrukturen aufzubauen – von der Energieversorgung bis zum ökologischen Landbau, langlebige Produkte zu fördern und eine die Reduktion von Rohstoffimporten ermöglichende Recyclingwirtschaft.

Diese Perspektive ist abzugrenzen von illusionären Plädoyers für ‚small is beautiful' und „Eigenproduktion“ inklusive illusionären Erwartungen an den 3D-Drucker. (Vgl. zu diesen drei Themen Creydt 2018). Holger Görg, Leiter des Forschungszentrums Internationale Arbeitsteilung am Institut für Weltwirtschaft Kiel, weist hin auf den Adidas-Konzern, der „den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit einstellte. ‚Die Möglichkeiten technologischer Entwicklung sind da, aber beim Ausschöpfen sprechen wir eher von Dekaden' (Görg)“ (Pezzel 2020).

Notwendige Bedingung für das Primat der Binnenwirtschaft ist nicht die Abkopplung vom weiterhin dominanten Weltmarkt, sondern dessen Überwindung durch die Konzentration v. a. auch der wirtschaftlich am meisten entwickelten Länder auf die Binnenwirtschaft. Insofern ist es eine Themaverfehlung, die Deglobalisierung mit den bisherigen Versuchen nationaler Abschottung gegenüber dem Weltmarkt zu delegitimieren.

Diese Versuche betrafen bislang ökonomisch unterlegene Regionen zu Zeiten einer Koexistenz von Wirtschaftsstrukturen, die einander gegenseitig ausschlossen. Der „freie Westen“ hat sich nicht damit abgefunden, dass ein Teil der Erde kapitalistischen Imperativen entzogen war. Zu den eigenen Problemen der Wirtschaft im Ostblock kam der ihm aufgezwungene militärischen Wettbewerb hinzu. Mithalten zu können auf dem Gebiet militärisch anspruchsvoller Technologien forderte der Sowjetunion und ihren Verbündeten einen Reichtumstransfer in den Rüstungsbereich ab, der überproportional grösser war als im ökonomisch stärkeren Westen.

Das Primat der Binnenwirtschaft und die gesellschaftliche Selbstgestaltung in einem bestimmten Raum können allein resultieren aus konvergierenden Prozessen, die die Mehrheit der ökonomisch führenden Nationen ergreifen. Ebenso wenig wie es „Sozialismus in einem Land“ gab, kann Deglobalisierung in einem vom weiter bestehenden Weltmarkt abgekoppelten Wirtschaftsraum existieren.

Deglobalisierung ist kein Spaziergang

In Bezug auf die Deglobalisierung stellt sich das Problem der Abhängigkeit je nach Bereich auf unterschiedliche Weise. In Bezug auf die Arzneimittelproduktion wurde manchen erst anlässlich der Covid-Seuche bewusst, dass z. B. ein grosser Teil von Generika, also Nachahmungsprodukten von teuren Originalprodukten, in China hergestellt werden. Das lässt sich im Rahmen einer Deglobalisierung vergleichsweise leicht korrigieren. Gesa Busch vom Fachbereich Agrarökonomie der Uni Göttingen betont in Bezug auf den Lebensmittelbereich: Würde man sich auf Waren aus regionalem Anbau beschränken, so gäbe es weniger Auswahl bei Obst und Gemüse. „‚Mit der aktuellen Marktstruktur wäre auf keinen Fall eine grössere Änderung zu Gunsten von mehr Regionalisierung möglich.' (Busch).

Anbieter mit regionalen Vermarktungsstrukturen seien oft schon gut ausgelastet und könnten ein mehr an Nachfrage gar nicht decken“ (Pezzel 2020). Die – faktisch brisantere – Abhängigkeit von Rohstoffen, die es exklusiv in bestimmten Weltgegenden gibt, fordert Forschungs- und Entwicklungsarbeiten heraus. Sie sollen den Ersatz dieser Stoffe ermöglichen. Kommt es dazu, verringert sich deren Import und Export massiv. Sollte die Abhängigkeit von wenigen fremden Rohstoffen fortbestehen, so unterscheidet sich der diesbezüglich notwendig bleibende Aussenhandel ums Ganze vom gegenwärtigen Zustand: Unter der Herrschaft des Weltmarkts besteht flächendeckender Zwang zu Export und Import.

Arme Länder müssen um jeden Preis exportieren. Und die Exportweltmeister wie Deutschland machen das Gelingen ihrer Wirtschaft von der anspruchsvollen Voraussetzung abhängig, dass auch in Zukunft deutsche Maschinen und hochwertige Autos nahezu konkurrenzlos bleiben. Sich den grossen Aufwand zu vergegenwärtigen, den eine Deglobalisierung erforderlich macht, spricht weniger gegen diese Veränderung als gegen weit verbreitete Denkfehler.

Wer unter gutem Leben täglich frische Schnittblumen aus Lateinamerika und exotisches Obst versteht und diese Auswahlfreiheit als Moment seiner Vorstellung von postmoderner Vielfalt begrüsst, gewichtet auf recht spezielle Art zwischen den Vorteilen dieser Form von Genuss und den negativen Auswirkungen des Weltmarkts. Viele verdrängen, dass die Ausweitung des internationalen Angebots von zu konsumierendem Obst einherging mit der Verringerung der Vielfalt einheimischer Obstsorten. Wer nicht mehr die Geschmacksunterschiede zwischen den verschiedenen einheimischen deutschen Apfelsorten genossen hat, für den ist die Wahrnehmung des Verlustes schwierig. Die Fixierung auf die Sorge, bei massiver Reduktion internationaler Lieferketten würden manche Produkte teurer, sieht von der positiven Entwicklung der Lebensqualität ab, die durch einen Rückbau des Weltmarkts möglich wird.

Kosmopolitische Mentalitäten

Wer angesichts der Perspektive der skizzierten Deglobalisierung Provinzialismus assoziiert, verkennt, dass nicht Kleinstaaterei, sondern das Primat der Selbstversorgung in Wirtschaftsräumen gemeint ist, die mehrere Länder umfassen. Es geht darum, das Überbietungsrennen zwischen Ökonomien durch starke Ausdünnung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen grösseren Räumen, die intern stark vernetzt sind, zu beenden.

Dem in Gegenfixierung auf den Provinzialismus sich definierenden Kosmopolitismus fehlt das Bewusstsein für die Grenzen der von ihm favorisierten Raumordnung. „Das Entfernteste rückt näher, um den Preis, die Distanz zum Näheren zu erweitern“ (Georg Simmel). „Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe“ (Günther Anders). Über die Schauspielerin Sophie von Kessel heisst es: „Mexiko, Finnland, Österreich, USA: Wer seine Kindheit (in diesem Fall als Tochter eines Diplomaten) an so vielen Orten absolviert, für den ist Vielseitigkeit Programm. ‚Ich kenne kein Heimatgefühl, vermisse es auch nicht. Das macht mich flexibel', bringt es die stilvolle Aktrice auf den Punkt“ (rtv – Das Fernsehmagazin Ihrer Zeitung, Nr. 38, 2010, S. 4).

Die kosmopolitische Mobilität verstärkt die Ortlosigkeit und das „raumlose Überall“ (Dietmar Kamper). Für immer mehr Kosmopoliten gibt es nurmehr zeitweilige Durchgangsstationen. Einheimisch sind sie vor allem auf den Flugplätzen. Der beständige Ortswechsel untergräbt die lokale Verankerung und soziale Assoziation von Menschen. Sie kommen nicht auf die Idee, sich vor Ort zu engagieren.

Einzutreten ist für die „Verkürzung der sachlichen, sozialen und zeitlichen Distanz zwischen Handlungen und Handlungsfolgen auf jenes Mass, das es überhaupt erst erlaubt, die Qualität jenes Zusammenhangs kognitiv zu erfassen und wie auch immer politisch-moralisch zu beurteilen“ (Claus Offe). Für die hier beschriebene Deglobalisierung sprechen ökologische und demokratische Gründe sowie der Wert einer Lebensweise mit weniger Konkurrenz und wirtschaftlichem Druck. Das Wirtschaftlichkeitsprinzip („Suche nach möglichst grossem Ertrag bei geringst möglichen Kosten!“) erweist sich auch hier als eine Orientierung, die von der Wirklichkeit abhebt.

Im Preismedium lassen sich Belange der Nachhaltigkeit, der Demokratie und der Lebensqualität nur sehr selektiv ausdrücken. Wer es auf die Orientierung an Geldmengen absieht, muss von diesen Qualitäten absehen. Was im Radar der Preise nicht vorkommt, lässt sich im Schleiertanz des Geldes vernachlässigen und schädigen. „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heisst Wirklichkeit zerstören“ (Hegel).

„Der Niedergang antiker Städte vollzog sich über Jahrhunderte, der meiner Heimatstadt Detroit über zwanzig Jahre. So schnell passt sich unser Orts- und Heimatgefühl nicht an“ (Lilla 2019). Not-wendig wird es, Räume nicht länger als passives Resultat von Wirtschaftskonjunkturen, Handelsbeziehungen und Verkehrsströmen zu traktieren und den entsprechenden Zufällen zu überlasen. Stattdessen geht es um den Wert des konkreten Gefüges. Er besteht in der Gegenseitigkeit, Ergänzung und dem sinnvollen Aufeinander-bezogen-Sein der verschiedenen Aktivitäten in einem bestimmten Raum. Angesichts des Eigenwerts dieser raumbezogenen „Vernetzung“ wird der Preis fremder Waren und die Effizienz einzelner Techniken zweitrangig.

Der Weltstaat als Illusion

Die durch den Weltmarkt gegebene Situation besteht in einer Koexistenz von übermächtigen internationalen Wirtschaftsdynamiken und einer Politik, die national zersplittert und insofern der Internationalität der Kapitaldynamik nicht gewachsen ist. Angesichts der immens hohen Konsens- und Kooperationskosten internationaler Zusammenarbeit ist eine globale Weltrepublik ein illusionäres Ziel.

Die Aufmerksamkeit dafür wächst, dass mit der Grösse des zu regierenden Raums und der Zahl der Bevölkerung die Entfernung zwischen den Wählern und den Gewählten zunimmt. Dafür, dass die Bevölkerung Herr im Haus sein kann, bildet der massive Rückbau des Weltmarkts eine notwendige Bedingung. Es gilt sich von der Vorstellung zu verabschieden, einen entfalteten Weltmarkt politisch bändigen zu können. Diese Vorstellung hat illusionäre Erwartungen an die Politik.

Es gibt „Objekte“, die wie der Weltmarkt zu gross, zu komplex und zu eigendynamisch sind, als dass sie sich regulieren lassen. Der Weltmarkt bildet eine objektive Fehlentwicklung, die zurückgebaut werden muss. Gewiss bildet der Weltmarkt nicht das alleinige Problem der bestehenden kapitalistischen Wirtschaft. Dessen Rückbau würde aber einen massiven Treiber der Konkurrenz und des Wirtschaftswachstums, das vorrangig der Kapitalakkumulation dient, überwinden.

Meinhard Creydt

Literatur:

Amin, Samir 1995: Interview. In: Kommune H. 12, Jg. 17
Anders, Günther 1980: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. München
Bello, Walden 2001: The global conjuncture: characteristics und challenges. In: International Socialism Journal, Issue 91
Böhme, Johannes 2019: Die Rückkehrer. In: brand eins, H. 1
Creydt, Meinhard 2006: Grenzen der Globalisierung. Kritik an der affirmativen und pseudokritischen Verwandlung des Weltmarktes in einen Popanz. In: Sozialismus, 33. Jg., Hamburg, H. 9/2006 und in Forum Wissenschaft, H. 4/2006
Creydt, Meinhard 2018: Auseinandersetzung um Konzepte für die nachkapitalistische Gesellschaft In: labournet vom 16.4.2018 und in http://www.meinhard-creydt.de/archives/730
Görg, Christoph; Hirsch, Joachim 1998: Chancen für eine ‚internationale Demokratie'? In: Das Argument Nr. 225
Kamper, Dietmar 1998: von wegen. München
Kaufmann, Stephan 2019: Neue Machtwirtschaft. In: Neues Deutschland, 30. November, Wochenendbeilage, S. 4f.
Lilla, Mark 2019: Zugehörigkeit braucht Grenzen. In: Die Zeit, Nr. 12, 14.3.2019, S. 41
Loske, Reinhard 2014: Neue Formen kooperativen Wirtschaftens als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. In: Leviathan 42. Jg., H. 3
Offe, Claus 1986: Die Utopie der Null-Option. In: Peter Koslowski u.a. (Hg.): Moderne oder Postmoderne. Weinheim
Pezzel, Kristina 2020: Risse in der Kette. Die Pandemie hat eine Diskussion über die Rückverlagerung von Produktionsteilen neu belebt. In: Das Parlament, Nr. 30-32, S. 5
Simmel, Georg 1989: Philosophie des Geldes. Frankfurt M.
Stratmann-Mertens, Eckhard 2004: Entglobalisierung – Abschied vom Wachstum. Kritik der neo-keynesianischen Globalisierung. In: Biesecker, Adelheid; Büscher, Martin; Sauer, Thomas u. a. (Hg.): Alternative Weltwirtschaftsordnung. Hamburg
Straubhaar, Thomas 2016: Zeitenwende: Die De-Globalisierung hat längst begonnen. In: Die Welt, 3. 10. 2016
Ulrich, Bernd 2020: So nah ist zu nah. In: Die Zeit, 12. 3. 2020, S. 3