Diese absurd anmutende Reaktion der Finanzmärkte, die faktisch eine steigende Arbeitslosenquote bejubeln, hat durchaus ihre Krisenlogik. Die Märkte spekulieren schlicht auf ein Ende der Hochzinspolitik der Notenbanken, mit der die Inflation bekämpft wird. Weniger Arbeitsplätze und steigende Arbeitslosigkeit deuten darauf hin, dass der Anstieg des Lohnniveaus erlahmt und die Konsumnachfrage nachlässt, was die hartnäckige Inflation weiter abschwächen soll. Damit soll eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale verhindert werden, bei der steigende Preise und Löhne sich wechselseitig befeuern würden. Nur wenn mehr Lohnabhängige sich weniger leisten können, kann die Teuerungswelle eingedämmt werden – das ist das schlichte Spekulationskalkül, das hinter dem Kursfeuerwerk steckt.
Der Job der US-Notenbank Fed werde nun um einiges leichter, bemerkte etwa Reuters,2 da auch der Anstieg der Löhne mit 4,1 Prozent sich auf das niedrigste Niveau seit Juni 2021 verlangsamte. Hierdurch würden weitere Zinserhöhungen, die im Gespräch waren (über etwaige Zinssenkungen will die Fed bis auf Weiteres nicht reden), unwahrscheinlich. Und eben darauf spekulieren die Finanzmärkte bei ihrer Hausse Anfang November 2023. Steigende Zinsen, das wichtigste Instrument der Inflationsbekämpfung, sind zugleich Gift für den Finanzsektor. Die restriktive Geldpolitik der Notenbanken vermochte es zwar, die Inflation zumindest einzudämmen, doch zugleich setzt sie die Finanzsphäre der überschuldeten spätkapitalistischen Zentrumsgesellschaften unter Druck, deren Marktakteure zumindest auf ein Ende der Zinsanhebungen spekulieren.
Dieselbe Krisenpolitik, mit der die Inflation bekämpft wird, destabilisiert somit die Finanzsphäre. Irgendwann werde „irgendetwas brechen“, so beschrieb Anfang Oktober Mohamed El-Erian, Chefvolkswirt der Allianz, den zerrütteten Zustand der Finanzsphäre angesichts der anhaltenden Hochzinspolitik der Notenbanken.3 Der Arbeitsmarktreport für September, als nahezu 300 000 Stellen geschaffen worden seien, stelle „eine gute aktuelle Nachricht für die Ökonomie“ dar, doch es seien „schlechte Nachrichten für die (Finanz-)Märkte und die Fed“. Aber, so lässt es sich fragen, was kann konkret „zerbrechen“ im aufgeblähten Finanzüberbau der überschuldeten Zentrumsgesellschaften?
Labiler Anleihemarkt
Zuallererst sind hiermit die Anleihemärkte – das Fundament des Weltfinanzsystems – gemeint,4 die sich im Zentrum des letzten „Finanzbebens“ im März 2023 befanden,5 als etliche Banken in Schieflage gerieten oder gar abgewickelt werden mussten, nachdem die Hochzinspolitik zum Verfall des Marktwerts von Staatsanleihen führte. Anleihen von Zentrumsstaaten wie der BRD oder den USA werden als niedrig verzinste Sicherheiten gehalten, bis sie zum Nennwert fällig werden, doch fällt deren Marktwert bei steigenden Zinsen (da sie niedriger verzinst sind), was selbst grosse Marktakteure in Schieflage bringen kann, sobald sie plötzlich Anleihen verkaufen müssen. Dies war bei der Silicon Valley Bank im vergangenen März der Fall – sie sah sich zu Notverkäufen von Anleihen gezwungen, was zu ihrer Insolvenz führte und eine Bankenkrise auslöste.Zinsen und Anleihewerte verhalten sich somit proportional umgekehrt: bei fallenden Zinsen steigen die Anleihekurse, steigende Zinsen lassen die Anleihekurse fallen. Der Stress und Druck, der durch Inflationsbekämpfung und hohe Leitzinsen in den Finanzsektor induziert wird, kann somit an der Zinsentwicklung der US-Staatsanleihen abgelesen werden. Anfang Oktober erreichte die zehnjährige US-Anleihe einen Zinssatz von fünf Prozent – den höchsten Wert seit der Weltfinanzkrise 2007.6 Der Marktwert langfristiger Anleihen ist seit ihrem Höchststand 2020 im Schnitt um 46 Prozent gefallen.7 Und dieser hohe Anleihezins strahlt auf die gesamte Finanzsphäre, wie auch auf die Staatsfinanzen aus – es geht längst nicht mehr nur um Notverkäufe klammer Banken, die aufgrund des fallenden Marktwertes der Bonds in Schieflage geraten.
Anleihezinsen und Haushaltsbelastung
Die hohen Zinsen und der fallende Marktwert der US-Staatsanleihen („Treasuries“) sind aber nicht nur auf die Inflationsbekämpfung der Notenbanken, sondern auch auf den Staat selbst zurückzuführen. Die höhere Schuldenaufnahme der US-Regierung führe zu „zunehmenden Anleihe-Verkäufen“, so Reuters, was auch den Schuldendienst des Staates verteuert (das vergrösserte „Angebot“ an Staatsschulden kann nur bei höheren Zinsen, bei höherer Attraktivität, abgesetzt werden).8 Washington muss folglich immer mehr Mittel für die Bedienung seiner Schulden aufwenden. Der Zinsanstieg kostete den US-Steuerzahler binnen der ersten neun Monaten dieses Jahres 625 Milliarden Dollar,9 was einem Anstieg von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Bis Jahresende soll die Bedienung der Zinsen mehr als 800 Milliarden Dollar verschlingen.10 Zum Vergleich: Washingtons Haushaltsposten für Verteidigung belief sich 2022 auf 877 Milliarden Dollar.11Mehr noch: Die US-Notenbank baut im Rahmen der Inflationsbekämpfung ihre auf bis zu 8,9 Billionen Dollar aufgeblähte Bilanz ab, indem sie die in der Ära der Liquiditätsblase12 üblichen Anleihe- und Wertpapierkäufe stark reduziert, sodass die Neukäufe geringer ausfallen als der Wert der fällig werdenden Papiere.13 Zuvor hat sich Washington darauf verlassen können, dass die Fed schlicht Staatsanleihen mit frisch gedrucktem Geld aufkauft, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren. Dieser Gelddruckerei, mit der die Bilanz der Fed von weniger als einer Billion 2008 auf knapp neun Billionen 2022 aufgebläht wurde, macht die Inflation einen Strich durch die Rechnung. Washington kann nicht mehr einfach frisches Geld drucken, um die Kosten der Staatsverschuldung niedrig zu halten. Die Financial Times spricht von einem „Überangebot“ an Staatsanleihen,14 das deren Wertverlust beschleunige.
Finanzsphäre und Leitzinsen
Das hohe Zinsniveau, mit dem die Notenbanken die Inflation bekämpfen, tangiert die gesamte Finanzsphäre: etwa den aufgeheizten US-Immobilienmarkt, wo die Hypothekenzinsen zeitweise auf bis zu acht Prozent, den höchsten Wert seit 20 Jahren,15 kletterten. Vor zwei Jahren lagen die Zinsen bei Hypotheken im Schnitt noch bei rund drei Prozent.16 Die explodierenden Kosten führen dazu, dass sich immer weniger Lohnabhängige Wohneigentum überhaupt noch leisten können, was die soziale Erosion in den Vereinigten Staaten weiter beschleunigt (Wohneigentum bildet in den USA die zentrale soziale Absicherung der Mittelkasse). Inzwischen ist im Schnitt ein Jahreseinkommen von 115 000 US-Dollar notwendig, um sich ein Haus leisten zu können, was rund 40 000 Dollar über dem Durchschnittslohn liegt.17 Der Lohnanteil, den Immobilienkäufer für ihren Kredit aufwenden müssten, ist auf 40 Prozent gestiegen, während er in den vergangenen 35 Jahren bei rund 25 Prozent lag. Damit wird nicht nur der Aufstieg zur Mittelklasse faktisch blockiert, die Gefahr einer abermaligen Immobilienkrise und eines Konjunktureinbruchs in den USA nimmt rasch zu, wie er sich in der BRD bereits entfaltet.18Überall im Finanzüberbau, wo grössere Verbindlichkeiten akkumuliert wurden, droht irgendwas zu „zerbrechen“. Etwa bei den Kreditkartenschulden, die 2023 erstmals die Marke von einer Billion Dollar übersteigen, oder bei den Unternehmensschulden, von denen in den kommenden Jahren rund drei Billionen fällig werden. Das Volumen des Marktes für US-Unternehmensschulden höchster Bonität beträgt 8,4 Billionen – der Zinssatz stieg hier auf knapp über sechs Prozent, während es 2020 nur zwei Prozent waren.19 Und schliesslich destabilisieren die hohen Zinsen auch die Aktienmärkte, die weiter einer hohen Fluktuation ausgesetzt sein werden (ein guter Arbeitsmarktbericht liess den Dow Jones Anfang Oktober um 430 Punkte einbrechen),20 solange die Anleihezinsen hoch sind.21 Der eingangs erwähnte Höhenflug der Märkte kann somit kaum langfristig aufrechterhalten werden. Die Ära langanhaltender Finanzmarktblasen ist vorerst vorbei.
Sinkende Zinsen würden diesen Krisendruck, der auf dem gesamten Finanzsystem lastet, rasch reduzieren. Die Gefahr, dass etwas unmittelbar „zerbricht“, würde reduziert. Hieraus resultiert die absurd anmutende Konstellation, wonach schlechte Arbeitsmarktdaten, die auf ein Ende der Hochzinspolitik hindeuten könnten, von den Börsen mit Wohlwollen aufgenommen werden. Denn die tatsächliche Inflationsrate kann vorerst hierzu nicht dienen. Die ist nämlich in den vergangenen Monaten sogar leicht gestiegen22 – und mit 3,7 Prozent immer noch weit entfernt von den von der Geldpolitik anvisierten zwei Prozentpunkten. Nach ihrem Höchststand von 8,6 Prozent im Mai 2022 konnte die Fed aufgrund der hohen Zinsen und dem Ende ihrer Gelddruckerei mittels Anleiheaufkäufen die Teuerung auf bis zu drei Prozent im Juni 2023 drücken, doch hiernach hat sich der Preisauftrieb wieder beschleunigt. Die Inflation wird wesentlich durch äussere Faktoren beschleunigt,23 die aus der ökologischen Schranke des Kapitals resultieren24 – und die der Kontrolle der Fed schlicht nicht zugänglich sind.
Drohende Rezession in der Krisenfalle
Deswegen kann die Inflation nur noch dadurch bekämpft werden, dass der Konsum durch zunehmende Arbeitslosigkeit, durch faktischen Lohnrückgang (in den vergangenen Monaten sind die realen Löhne etwas stärker angestiegen als die Inflation) verringert wird. Doch in den Jubel der Märkte über schlechte Arbeitsmarktzahlen mischte sich bereits unmittelbar Skepsis. Der Bericht habe eine „Mischung aus Sorge und Beruhigung“ ausgelöst, titelte etwa die New York Times (NYT), da die Besorgnis über eine inflationäre „Überhitzung“ der Wirtschaft in die Angst vor einer Rezession umschlagen könne.25 Laut einer aktuellen Umfrage unter Ökonomen, die die NYT zitierte, geht eine knappe relative Mehrheit von 49 Prozent der Befragten von einer „Rezession in den kommenden 12 Monaten“ aus, während 42 Prozent glaubten, eine „sanfte Landung“ der Ökonomie sei immer noch möglich.Wirtschaftsmedien warnten gar, dass die Märkte förmlich eine „Rallye in die Rezession“ veranstalten würden, da fundamentale Indikatoren auf eine Kontraktion hindeuteten.26 Zum einen ist das starke Wachstum in den USA (1,2 Prozent im dritten Quartal 2023 gegenüber dem zweiten Quartal) auf den privaten Konsum zurückzuführen, der durch den Abbau von Ersparnissen generiert wird, die während der Pandemie angelegt worden sind. Überdies ist die einstmals breite US-Mittelklasse so weit abgeschmolzen, dass ein langer, auf Pump finanzierter Konsumboom, wie er im Zeitalter der neoliberalen Finanzblasenökonomie üblich war, nicht mehr möglich ist. Laut jüngsten Daten sind rund 62 Prozent der Lohnabhängigen in den „boomenden“ USA nicht in der Lage, nennenswerte finanzielle Rücklagen zu bilden.27 Sie leben von Gehaltscheck zu Gehaltscheck. Die berühmte, breite „Middle Class“ in den USA ist somit faktisch ein Relikt der Vergangenheit.28 Hinzu kommen die in den vergangenen zwei Jahren gestiegenen Staatsausgaben (die nun, wie erwähnt, zu einer starken Zinsbelastung des US-Haushalts führen).29
Den Vereinigten Staaten, die – nicht zuletzt aufgrund protektionistischer Massnahmen – nach dem Ende der Pandemie die beste Konjunkturentwicklung aller Industrieländer ausweisen konnten, droht somit tatsächlich mittelfristig die Rezession. Die Angst vor der Inflation und dem drohenden Finanzkrach schlägt in die Angst vor der Rezession um, die ebenfalls destabilisierend wirken könnte, wenn sie tief genug ausfällt. Dabei konkretisiert sich hier einfach nur die grundlegende Krisenfalle,30 in der sich die spätkapitalistische Wirtschaftspolitik befindet.31 Mit dem Aufkommen der Inflation ist es nicht mehr möglich, den an seiner Produktivität erstickenden Kapitalismus durch Schuldenaufnahme im Rahmen der finanzmarktgetrieben Blasenökonomie an einer Art Zombieleben32 zu erhalten. Die Politik kann folglich nur den Weg in die Krise wählen: Rezession, Finanzkrach oder Inflation? Selbst in den USA, die bislang aufgrund des Protektionismus der Biden Administration33 sich von der Krisenentwicklung in der Eurozone etwas entkoppeln konnten, kann diese Krisendynamik nur verzögert werden.