Und die Konjunkturaussichten sehen laut dem Finanzinstitut nicht gerade rosig aus. Demnach soll die Weltwirtschaftsleistung heuer um 2,4 Prozent wachsen, während es 2023 noch 2,6 Prozent waren. Sollte sich diese Konjunkturprognose bewahrheiten, dann wäre 2024 das dritte Jahr in Folge, in dem das Wirtschaftswachstum schwächer als im Vorjahr ausfiele. Es zeichnet sich somit ein eindeutiger globaler Trend zur konjunkturellen Stagnation ab: Das Bruttoinlandsprodukt der Industrieländer soll durchschnittlich von 1,5 Prozent im vergangenen Jahr auf 1,2 Prozent 2024 fallen. Der Euroraum kann hingegen auf eine leichte Konjunkturbelebung auf sehr niedrigem Niveau hoffen: von 0,4 Prozent 2023 auf 0,7 Prozent im laufenden Jahr.
Das Wachstum des Welthandels soll zudem nur noch die Hälfte des Werts vor Ausbruch der Pandemie erreichen, was – gemeinsam mit den hohen Leitzinsen – dazu beigetragen hat, dass die jährliche Wirtschaftsleistung in Entwicklungsländern in dieser Dekade durchschnittlich nur 3,9 Prozent betrug. Dies ist ein voller Prozentpunkt weniger als im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Entwicklungsländer müssen ein weitaus höheres Wachstumstempo erreichen, um die soziale Lage der Lohnabhängigen zu verbessern – oder auch nur zu halten. Die mittelfristigen Konjunkturaussichten sind auch nicht besser. Schon Mitte 2023 warnte der Internationale Währungsfonds (IWF), dass die kommenden fünf Jahre eine unterdurchschnittliche globale Wachstumsdynamik aufweisen werden.[2]
Vom Ende der Blasenökonomie
Die im spätkapitalistischen Weltsystem krisenbedingt um sich greifende Stagnation wird erst aus historischer Perspektive vollauf deutlich. Nur das Halbjahrzehnt von 1990 bis 1994 war, wie eingangs erwähnt, durch eine etwas schlechtere Konjunkturentwicklung (im Schnitt knapp über zwei Prozent pro Jahr) geprägt als die erste Hälfte der laufenden Dekade. Die frühen Neunziger waren aber durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen Staatskapitalismus in Osteuropa gekennzeichnet, der mit massiven Wirtschaftseinbrüchen einherging, was zu den miserablen globalen Durchschnittswerten führte. Somit hinterliessen die 2020 einsetzenden Krisenschübe (Pandemie, Krieg, Lieferengpässe) ähnlich starke konjunkturelle Bremsspuren, wie die Implosion des Ostblocks.Fast alle anderen Fünf-Jahres-Zeiträume zwischen den späten 90ern und 2019 – dem Vorabend von Pandemie und Ukraine-Krieg – wiesen global ein weitaus höheres durchschnittliches Wirtschaftswachstum von etwas mehr als drei Prozent auf. Die einzige Ausnahme bildet der Zeitraum zwischen 2005 und 2009, als das Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa (2007/08) zu einer kurzen, scharfen Weltwirtschaftskrise (2009) führte, die ab 2010 durch umfassende Konjunkturmassnahmen und die expansive Geldpolitik der Notenbanken überwunden werden konnte.
Dieser durch das Platzen der Immobilienblasen ausgelöste Einbruch 2009 verweist auf die regelrechte Blasenökonomie, die das globalisierte Weltsystem im neoliberalen Zeitalter ausbildete: Von der Dot-Com-Blase in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre, als der Internet-Boom zu einer Hausse mit Hightech-Aktien führte, über die 2008 in Europa und den USA platzenden Immobilienblasen,[3] bis zu der grossen, ab 2020 deflationierenden Liquiditätsblase, die durch die expansive Geldpolitik und die Gelddruckerei der Notenbanken aufrechterhalten wurde.[4]
Und es waren gerade diese an Umfang gewinnenden Spekulationsblasen, die als wichtigste Konjunkturtreiber in der Ära der finanzmarktgetriebenen Globalisierung fungierten. Die Tendenz zur Stagnation in den 20ern, die von der Weltbank beklagt wird, ist gerade auf den Zusammenbruch dieser auf einem beständig wachsenden Schuldenberg fussenden, globalen Blasenökonomie zurückzuführen. Die Inflation, die von den Notenbanken mit restriktiver Geldpolitik bekämpft wird, machte eine abermalige Blasenbildung nach dem Krisenschub von 2020 unmöglich.
Chinesische Konjunkturbremse
Der Zusammenhang zwischen Konjunktur und Spekulationsdynamik, der den an seiner Produktivität erstickenden Spätkapitalismus charakterisiert,[5] kann aktuell sehr schön anhand des chinesischen Staatskapitalismus nachvollzogen werden, wo mit dem dem Pleitekonzern Evergrande einer der grössten Bauinvestoren des Landes vor der Abwicklung steht – 300 Milliarden Dollar und Millionen von Eigentumswohnungen stehen im Feuer.[6] Die gigantische Immobilienblase,[7] die China im Gefolge der umfassenden staatlichen Konjunkturspritzen nach 2008 ausbildete, bescherte der „Werkstatt der Welt“ über Jahre zweistellige Zuwachsraten.Doch nun steht, allen Verzögerungstaktiken Pekings zum Trotz, die unausweichliche Deflation dieser Immobilienblase an[8] – und sie hinterlässt bereits deutliche konjunkturelle Bremsspuren. Laut Weltbank soll die Wirtschaft Chinas in diesem Jahr nur um 4,4 Prozent wachsen.[9] Dabei geht diese Prognose von einem Best-Case-Szenario aus, bei dem ein unkontrollierbarer Crash des Immobilienmarktes verhindert werden kann.
Doch selbst eine kontrollierte Entwertung und Abwicklung des heissgelaufenen chinesischen Immobiliensektors wird einen schwerwiegenden ökonomischen Fallout nach sich ziehen. Dies gilt nicht nur für die exportabhängige Bundesrepublik, sondern vor allem für viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die in hohem Ausmass ökonomisch von der Volksrepublik abhängig sind.[10] Der schuldenfinanzierte Spekulationsboom Chinas bildete einen wichtigen Faktor bei der konjunkturellen Erholung nach dem grossen transatlantischen Immobiliencrash von 2008, doch ist eine ähnliche Konstellation in der gegenwärtigen Krisenphase nicht mehr möglich. Im Gegenteil wird China künftig zur allgemeinen Tendenz zur Stagnation beitragen.
Nächster Krisenschub schon „eingepreist“?
Die sich breitmachende Stagnation ist Folge der partiell erfolgreichen Inflationsbekämpfung durch die Notenbanken, die der grossen Liquiditätsblase zwar den Geldhahn abdrehten, sich aber dabei perspektivisch in eine geldpolitische Sackgasse manövrieren, in der die Ziele der Inflationsbekämpfung, Finanzmarktstabilisierung und Konjunkturförderung immer stärker in Konflikt geraten.[11] Dies wird gerade anhand der USA deutlich, die 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent der allgemeinen stagnativen Tendenz in den Zentren des Weltsystems trotzen konnten. Die Weltbank prognostiziert den Vereinigten Staaten für dieses Jahr aber von nur noch eine Wachstumsdynamik von 1,6 Prozent, was auf „auf die restriktive Geldpolitik“ der US-Notenbank Fed zurückzuführen sei, so Reuters.[12]Inflationsbekämpfung wird für gewöhnlich mit Konjunkturabkühlung erkauft, wie es gerade der globale Konjunkturrückblick und -ausblick der Weltbank belegt (Die Ausnahme von dieser Regel bildeten gerade die USA des Jahres 2023). Hinzu kommen die destabilisierenden Folgen der Hochzinspolitik in der Finanzsphäre. Die Leitzinserhöhungen und das Ende der Aufkaufprogramme der Notenbanken führen zu einer stärkeren Krisenanfälligkeit des Finanzsektors, da Anleihen, Aktienmärkte und Immobiliensektoren nicht mehr mit ausreichender Liquidität und/oder Krediten versorgt werden können, um die Hausse fortsetzen zu können – es drohen Crashs, Einbrüche und Finanzmarktbeben, wie zuletzt im März 2023, als die Einbrüche auf den Anleihemärkten zu einer Bankenkrise in den USA führten.[13]
Die Hochzinspolitik gleicht somit einem Balanceakt auf des Messers Schneide, bei dem der aufgeblähte Finanzsektor samt den globalen Schuldenbergen den grössten Risikofaktor bilden.[14] Mit der fortgesetzten Bekämpfung der hartnäckigen Teuerung steigt somit zwangsläufig das Risiko weiterer Krisenschübe in der labilen Finanzsphäre. Um das Risiko von Krisenschüben zu minimieren, hatte die Fed zuletzt im Dezember 2023 den labilen Märkten signalisiert, dass bei weiterhin fallender Inflationsrate 2024 erste Zinssenkungen anstehen würden.[15] Damit lösten die Notenbanker ein kurzfristiges Kursfeuerwerk an den Börsen aus, die in dieser Hausse das potenzielle Ende der Hochzinspolitik schlicht vorwegnahmen. Das Ende der restriktiven Geldpolitik ist somit schon in der Kursentwicklung an den Börsen – wo ja immer die Zukunft gehandelt wird – „eingepreist“, wie es im Börsenjargon heisst.
Doch was passiert, wenn sich die Inflation nicht so schnell wie erwartet Richtung der Zwei-Prozent-Marke bewegt, die von der Fed als Zielvorgabe ihrer restriktiven Geldpolitik angegeben wird? Dann finden sich die Geldpolitiker, die mit ihren Bemerkungen die Märkte beruhigen wollten, plötzlich in einer Zwickmühle wieder. Ende Januar deuteten US-Notenbanker an, dass es im kommenden März voraussichtlich keine Zinssenkung geben wird,[16] nachdem die US-Inflationsrate im Dezember mit 3,4 Prozent leicht über der im Vormonat (3,1 Prozent) lag.[17] Dieser Rückzieher der Geldpolitik bereitete dem flüchtigen Boom an den Märkten mit starken Kursverlusten ein jähes Ende.
Zudem zeigten sich abermals Risse im US-Bankensektor, nachdem der Aktienkurs der Regionalbank New York Community Bancorp binnen zweier Handelstage um rund 50 Prozent einbrach.[18] Die Bank leidet – wie auch andere Regionalbanken – unter der Hochzinspolitik und der damit im Zusammenhang stehenden Krise des Gewerbeimmobiliensektors in den USA. Das Finanzhaus, das eigentlich als Gewinner der Krise vom März 2023 galt, musste nun rund 552 Millionen Dollar als Rückstellungen für Kreditverluste verbuchen und einen Verlust von 185 Millionen Dollar melden.[19] Eine Wiederholung der durch die Hochzinspolitik ausgelösten Bankenkrise vom März 2023 scheint möglich. Der Kurseinbruch bei der Bancorp ist auch darauf zurückzuführen, dass gerade Regionalbanken von den „eingepreisten“ Zinssenkungen der Fed profitieren sollten.
Die US-Notenbanker sind folglich zur Geisel ihrer eigenen Politik geworden: Die Beruhigungspille vom Dezember wandelt sich in einen geldpolitischen Sprengsatz. Der nächste Krisenschub ist somit faktisch „eingepreist“, sollte die Fed nicht bald abermals zu einer expansiven – und somit auch inflationstreibenden – Geldpolitik übergehen. Hierin zeichnet sich höchstwahrscheinlich ein grundlegender Widerspruch ab, der die kapitalistische Krisenpolitik nach dem Ende der neoliberalen Blasenökonomie kennzeichnen wird: es ist ein letztendlich zum Scheitern verurteilter Balanceakt, ein Versuch, in der Systemkrise die Quadratur des Kreises zu realisieren, um Inflationsbekämpfung mit wirtschaftlicher und finanzieller Stabilität zu koppeln.