Peter Schadt: Digitalisierung Basiswissen
Wirtschaft
Die Digitalisierung biete »Chancen und Risiken«: Einerseits könne sie die Arbeit erleichtern, andererseits drohe Arbeitslosigkeit. Doch wessen Risiko ist es, durch einen Roboter ersetzt zu werden?
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20. Oktober 2022
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Wie in Zukunft produziert und konsumiert wird, soll sich durch die »Digitalisierung aller Lebensbereiche« recht grundsätzlich verändern. Kein Tag vergeht, ohne dass die »Chancen und Risiken« der Digitalisierung abgewogen werden.
Einerseits wird in unzähligen Texten die schöne neue Arbeitswelt beschrieben. Mit Smartphones, Tablets und Laptops könne nun bequem von Zuhause aus gearbeitet werden, und zwar immer dann, wenn es den Beschäftigten gerade passt. Flexibel bei Arbeitsort und -zeit, was den Widerspruch zwischen Familie und Arbeit, Kind und Karriere auflösen würde. Roboter erledigen die schwere, körperliche Schufterei und ermöglichen es, dass weniger und, wo überhaupt noch, leichter gearbeitet werden kann. Ausserdem würden die neuen Techniken dafür sorgen, dass passgenauer produziert und so weniger Material verbraucht werde. Was immer noch an Rohstoffen gebraucht würde, ist natürlich aus nachhaltigem, weil aus nachwachsendem Material, und werde energieeffizient und damit umweltschonend hergestellt. Die digitale Kennung jeder Ware in den Produktionsketten sorge für Transparenz auch bei den Fertigungsschritten und den verwendeten Materialien. So könne nicht zuletzt Ausschuss verhindert werden. Digitale Technik wird ferner dazu genutzt, Verkehr und Industrie von ihrer fossilen Grundlage zu befreien. Die nötige Energie sei selbstredend grün und dank intelligenter Stromnetze immer genau da, wo sie gebraucht wird.
Andererseits ist von den Risiken zu lesen. Es drohe, so der Tenor dieser Lesart, dass die Digitalisierung »uns« 24/7 erreichbar mache und so alle Lebens- zu Arbeitszeit mache. Unabhängig von Ort und Zeit müssen die neuen digitalen Knechte erreichbar sein, was die Familie endgültig auflöse. Roboter machen jenen Teil der Belegschaft zu grossen Teilen überflüssig, der bisher die harte und schlecht bezahlte Arbeit gemacht hat, IT und Künstliche Intelligenz rationalisieren in den Büros und in den Fabriken. Denjenigen, die in den menschenleeren Fabriken noch verbleiben, wird dafür mehr Leistung als zuvor abverlangt. Für die Produktion der smarten Maschinen gehe der Raubbau am Planeten in die nächste Runde, nun auch im Kampf um Seltene Erden. Der Ausbau der grünen Energien gehe nicht schnell genug voran, sodass die neuen »rollenden Smartphones« am Ende mit »dreckigem Strom« fahren.
Es sind also nicht nur unterschiedliche, sondern gegensätzliche Bilder der Zukunft, die hier gezeichnet werden. Seit der Erfindung des Schlagworts der Industrie 4.0 auf der Hannover Messe 2011 sind inzwischen Tausende Studien zum Thema erschienen. Die Debatte indes hat immer noch dieselbe Polarisierung, und beide Seiten wissen sich auf entsprechende Forschungsergebnisse zu beziehen.
Der erste Schluss daraus ist, dass sich die widersprüchlichen »Visionen« nicht aus einem Mangel an Fakten erklären. Vielmehr sind sich die verschiedenen Lager höchst uneins darüber, wie diese zu interpretieren sind. Ganz unbeeindruckt von Forschungsergebnissen, denen zufolge die Arbeit ziemlich entschlossen verdichtet und verbilligt wird, soll gleichzeitig die Möglichkeit bestehen, dass alles ganz anders gemacht werden könnte. Es wird darauf bestanden, dass die Technik ja wohl beides könne: die Arbeit für alle reduzieren oder aber auch einige immer mehr arbeiten lassen und andere zugleich arbeitslos zurücklassen; das Arbeitsvolumen insgesamt verringern oder Beschäftigte auf stumpfeste Tätigkeiten reduzieren, die diese jederzeit und möglichst lange durchführen müssen, etc. pp. »Die Digitalisierung« wird bei der Debatte um die »Chancen und Risiken« also gerne getrennt von den tatsächlich stattfindenden Prozessen der Rationalisierung in den Fabriken und Büros und stattdessen als »Potenzial« besprochen.
Hartmut Hirsch-Kreinsen, als einer der führenden Soziologen zum Thema, hat mit seinem Ansatz der »Industrie 4.0 als soziotechnisches System« dafür die Formulierung, »dass die Entwicklung, die Diffusion und Implementation neuer Technologien alles andere als bruchlos und widerspruchsfrei verlaufen« und dass deshalb »die sozialen Effekte kaum eindeutig ableitbar sind.« Überhaupt seien die »Konsequenzen für [die] Arbeit« von sehr vielen verschiedenen Faktoren abhängig [vgl. Hirsch-Kreinsen 2015: 13]. Weil man Technik für verschiedene Zwecke einsetzen könnte, seien ihre »sozialen Effekte kaum eindeutig ableitbar«. Mehr als »Chancen und Risiken« zu bestimmen, sei nicht möglich. Einerseits mag man die Techniken als Mittel für verschiedene Zwecke einsetzen können: Der Fantasie sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt, und so kann man sich alles Mögliche an (un-)freundlichen Folgen der digitalen Revolution für Mensch und Planet vorstellen. Andererseits zeigen sich nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Politiker reichlich unbeeindruckt von den Schwierigkeiten der Soziologen, die Folgen der Digitalisierung »eindeutig« zu bestimmen. Unbeirrt durch die Möglichkeit, sich etwas zu imaginieren, legen diese die Zwecke der neuen Technik einfach fest. Für die ehemalige Bundeskanzlerin ist klar, dass »die revolutionären Veränderungen der Digitalisierung« von »grösster Bedeutung für uns« sind, »weil das über die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Kraft der Europäischen Union entscheiden wird« [Merkel 2020]. Auch die Ampel-Koalition weiss sich diesem Ziel verpflichtet und will die Technik einsetzten, um die »Zukunftsfähigkeit und [den] Wohlstand unseres Landes« [Koalitionsvertrag 2021: 15] zu sichern. Es ist nicht zufällig so, dass Faktenbeschreibung und Willensbekundung oft kaum zu unterscheiden sind, weil beim Personal der entscheidenden Machtpositionen dieser Gesellschaft beides zusammenfällt.
Die Digitalisierung ist also erstens unumgänglich, weil »von grösster Bedeutung« für »uns«. Dabei kommt es auf den technischen Vorsprung an, den die EU braucht, aber (noch) nicht hat. Ganz unbeeindruckt von den Zweifeln der Soziologen, ob sich »soziale Effekte« aus der Technik ableiten lassen, setzt auch die Ampel-Regierung die Notwendigkeiten, was die Digitalisierung schon unter Merkel zu leisten hatte: »Europa«, sprich: die EU, voranzubringen: »Da müssen wir besser werden oder dürfen zumindest nicht weiter zurückfallen, denn die Entwicklung in vielen Teilen der Welt ist sehr dynamisch. […] Europa muss über die wesentlichen technologischen Fähigkeiten verfügen und dafür auch die Mechanismen entwickeln, wenn wir solche Fähigkeiten im Augenblick in bestimmten Bereichen nicht haben. […] Damit kommt auch das Thema der Souveränität ins Spiel. […] Dort, wo wir abgeschlagen oder zurückgefallen sind, müssen wir unsere Kräfte bündeln, um darauf die richtigen Antworten zu finden. […] Wir müssen schneller werden. Aber das liegt ja in unserer eigenen Hand« [Merkel 2020].
Dass Techniknutzung als Gegenstand der internationalen Konkurrenz zwischen Unternehmen zur Steigerung des Profits Gewinner und Verlierer kennt, das ist folglich schon unterschrieben und verbrieft, bevor der erste Chip entwickelt wurde. Was die Digitalisierung also zu leisten hat, ist ökonomisch bestimmt und politisch festgelegt: Ökonomisch geht es um den Erfolg in der Konkurrenz der Unternehmen, politisch um die digitale Souveränität der EU. Damit ist dann das Nadelöhr in der Welt, durch das jede neue Technik zu gehen hat: Digitale und analoge Mittel haben Unternehmertum und Standort, sprich uns, einen Vorteil zu schaffen.
Dieses »wir« schliesst dabei diejenigen, die die Digitalisierung ins Werk setzen, um bezahlte Arbeit überflüssig zu machen, und diejenigen, die da überflüssig gemacht werden, als Kollektiv zusammen. Dass »unser« Wirtschaftswachstum gerade dadurch vorangetrieben wird, dass die Arbeit der einen überflüssig und die der anderen verdichtet wird, deutet auf die Widersprüche in dieser ersten Person Plural. Das Risiko, morgen keinen Job mehr zu haben oder dequalifiziert zu werden, ist für die anderen die Chance, sich mit ihrem digital erneuerten Unternehmen und gesteigerter Produktivität in der Konkurrenz durchzusetzen. Dass also »Chancen ergriffen und Risiken vermieden« werden sollen, entpuppt sich als Nebelkerze, wenn die Chance des Eigentümers auf Extraprofit das Risiko der Lohnabhängigen ist, gar nicht mehr gebraucht zu werden.
Wo von »der Digitalisierung« gesprochen wird, die »uns« zu etwas »zwinge« oder »nötige«, soll der Prozess gleichzeitig Prozessstifter sein. So verschwinden mit den Akteuren der Digitalisierung auch ihre ökonomischen Interessen. Es ist eben nicht die digitale Technik, die Beschäftigte entlässt oder Tarifverträge aufkündigt – es ist eben nicht »die Digitalisierung«, die »unsere« Arbeitsplätze »bedroht«, sondern umgekehrt: Die digitale Technik wird von der Kapitalseite als Mittel verwendet, um bezahlte Arbeit billiger oder möglichst überflüssig zu machen. Von daher ist das »Scheinsubjekt Digitalisierung« zu kritisieren, das selber gar nichts tut, sondern Gegenstand des Tuns ist [vgl. Schadt 2021: 151].
Wenn schon »der Technik« so schwer zu entlocken ist, was sie für Konsequenzen haben wird, hilft also der Blick auf die politökonomischen Notwendigkeiten und ihre Widersprüche, um den tatsächlichen Folgen der Digitalisierung auf die Spur zu kommen. Die andernorts vielfach im Mittelpunkt stehenden Fragen (Vorratsdatenspeicherung, Handyortung, Staatstrojaner, Überwachung von Mail- und Datenverkehr, Client-Side-Scanning u. v. m.), werden hier nur kursorisch behandelt. Dargestellt werden die ökonomischen Interessen des Kapitals (2.), um daraufhin auf politische Beweggründe einzugehen (3.). Anschliessend an diese Notwendigkeiten folgt die Darstellung der »kaum eindeutig ableitbaren« Konsequenzen für die Arbeit (4.). Den Abschluss des Bands bildet die Kritik einiger Ideologien über »die Digitalisierung« (5.), zu der auch die ständige Verwendung der Digitalisierung als Scheinsubjekt gehört.
Peter Schadt: Digitalisierung. PapyRossa, 2022. 118 S., ca. 16.00 SFr., ISBN 978-3-89438-783-9