Die für den März prognostizierte Leitzinsanhebung der Fed wirf ohnehin ihre Schatten auf den Anleihemärkten voraus: Die durchschnittliche Rendite für US-Unternehmensanleihen ist 2022 von 2,36 auf 2,55 Prozent angestiegen, während sie im dritten Quartal 2021 noch bei weniger als zwei Prozentpunkten lang. Die Kreditaufnahme wird somit bereits teurer für US-Konzerne, was vor allem die sogenannten Zombie-Firmen in Schwierigkeiten bringen dürfte, die selbst in der Nullzinsperiode der Fed nicht aus der Schuldenfalle herauskommen konnten. Als Zombies werden in der US-Wirtschaftspresse jene Konzerne oder Unternehmen bezeichnet, deren Einnahmen im vergangenen Geschäftsjahr nicht mehr ausreichten, um ihre Schulden zu bedienen.
Unternehmensanleihen: Die Rückkehr der lebenden Toten
Ende 2021 zog die Nachrichtenagentur Bloomberg Bilanz2 bezüglich dieser lebenden Toten des Spätkapitalismus, deren Anzahl dank der Nullzinspolitik und der staatlichen Konjunkturprogramme tatsächlich vermindert werden konnte. Von den 3000 Aktienkonzernen mit der grössten Marktkapitalisierung in den USA galten Anfang des vergangenen Jahres 756 Unternehmen als Zombies, während des gegen Jahresende noch 656 waren, was einem Rückgang von rund 13 Prozent entspricht. Doch das bedeutet zugleich, dass mehr als 20 Prozent der wichtigsten US-Konzerne am Ende einer langen Periode umfassender Konjunkturmassnahmen und extrem expansiver Geldpolitik überschuldet sind und unter ihrer Schuldenlast zusammenzubrechen drohen. Selbst ein massives konjunkturelles Strohfeuer konnte daran nichts Substanzielles ändern.Die Verringerung der Anzahl überschuldeter Konzerne, die von der Öffnung der Geldschleusen profitieren konnten, ging mit einem bislang unbekannten Phänomen einher: Die durch die Pandemie getriggerte Rezession führte erstmals dazu, dass Unternehmenspleiten in einem Konjunkturabschwung abnahmen.3 Während des Krisenschubs 2008, als die Immobilienblasen in den USA und der EU platzten, stieg in den Zentrumsländern die Anzahl der Insolvenzen um bis zu 50 Prozent gegenüber dem Vorkrisenzeitraum; während der Pandemie, als der lockdownbedingte Wirtschaftsabsturz 2020 durch massive Konjunkturmassnahmen aufgefangen wurde, gingen die Unternehmenspleiten in den führenden 13 Industrieländern um bis zu 20 Prozent zurück. Eine Fülle von kreditfinanzierten staatlichen Stützungsmassnahmen – in der BRD etwa die Aussetzung der Insolvenzregeln und das Kurzarbeitergeld – verhinderte die übliche Pleitewelle.
Diese lebenden Toten, die letztendlich durch die Gelddruckerei der Notenbanken ihr Scheinleben aufrechterhalten konnten, werden nach der Zinswende aber zurückkommen. Die übliche kapitalistische „Bereinigung“ der Märkte ist durch die gigantischen Konjunkturmassnahmen, die alles bisher dagewesene in den Schatten stellten,4 faktisch nur vertagt worden, da viele überschuldete Unternehmen und Konzerne, die derzeit in aller Hektik nochmal günstige Kredite aufnahmen, bald in die Zange genommen werden von steigenden Kreditkosten und einer abflauenden Konjunktur. Die Weltbank etwa geht in ihren Prognosen davon aus, dass die globale Konjunktur aufgrund der steigenden Inflation und anstehenden monetären Straffung der Fed von 5,5 Prozent 2021 auf 4,1 Prozent in diesem Jahr erlahmen wird.5
Dabei ist auch der Schuldenberg, den die private Wirtschaft der USA im neoliberalen Zeitalter akkumulierte, seit Jahrzehnten schneller gewachsen als die Wirtschaftsleistung.6 Die Verbindlichkeiten der privaten US-Unternehmen jenseits des Finanzsektors sind in den vergangen fünf Dekaden um das Dreissigfache angeschwollen und belaufen sich inzwischen auf 11,2 Billionen Dollar. Der langfristige Trend spiegelt somit die Gesamtentwicklung des kapitalistischen Weltsystems, das bekanntlich „auf Pump“ läuft, da der globale Schuldenberg ebenfalls schneller wächst als die Weltwirtschaftsleistung.7 Lag die Verschuldung der US-Wirtschaft in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bei rund 30 Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts (BIP), so sind es nun rund 50 Prozent.8
Massenhafte Unternehmenspleiten könnten aber auch den Finanzsektor destabilisieren, der unter Kreditausfällen zu leiden hätte. Es besteht somit in Krisensituationen eine enge Wechselwirkung zwischen der „realen Wirtschaft“ und der Finanzsphäre, bei der steigende Zinsen zu Zahlungsausfällen führen, die wiederum Finanzinstitute in Bedrängnis bringen können. Eine ähnliche Konstellation trat nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008 ein,9 als hypotekenbasierende Spekulationspapiere massenweise entwerteten, Banken in Schieflage oder in den Bankrott gerieten und die Finanzmärkte in Schockstarre traten. Hier war es faktisch der heiss gelaufene Immobiliensektor, der als reale Konjunkturlokomotive fungierte – bis dessen Kollaps auf die Finanzsphäre überzugreifen drohte.
Blaseninflation – die „Everything Bubble“
Dabei verarbeitet die Finanzsphäre, insbesondere der Aktienmarkt, die kommende Zinswende der Fed schon seit einiger Zeit. Da an den Börsen bekanntlich die Zukunft – genauer, die kommenden Profiterwartungen – gehandelt werden, manifestiert sich die Zinswende der Fed in den Kurseinbrüchen der vergangenen Wochen. Die Wichtigsten Aktienindizes befanden folglich sich zwischen Jahresanfang und Ende Januar auf Talfahrt, weil die prognostizierten Zinserhöhungen „eingepreist“ werden. Die Hoffnung der Geldpolitik besteht hierbei darin, dass diese sich bald auf einem niedrigeren Niveau stabilisieren, ohne in einen sich selbst verstärkenden Crash überzugehen.In der dritten Januarwoche10 haben alle wichtigen Aktienindizes binnen weniger Wochen deutliche Verluste hinnehmen müssen: Der Nasdaq lag 14 Prozent unterhalb des Höchstwertes vom November 2021, beim Dow Jones waren es gut sieben Prozent gegenüber historischen Höchststand vom 4. Januar 2022, beim breit aufgestellten S&P 500 waren es im gleichen Zeitraum 8,3 Prozent. Mit den jüngsten Andeutungen der US-Notenbank, notfalls die geldpolitische Wende schneller und radikaler einzuleiten, als bislang angenommen, scheint ein Ende der „Korrekturen“ an den Aktienmärkten vorerst nicht in Sicht zu sein.11 Inzwischen ist sogar fraglich, ob die Fed bei einem manifesten Crash der Börsen reagieren würde, da nun von einem „Hammer“ die Rede ist, mit dem die ausartende Inflation unter Kontrolle gebracht werden solle.12
Der US-Notenbank stehen drei Wege bei der monetären Inflationsbekämpfung offen, die als „quantitative tightening“,13 als quantitative Verengung oder Straffung des Geldangebots bezeichnet wird (im Gegensatz zu dem bekannten quantitativen Lockerung): Die Leitzinserhöhung, der derzeit bei null bis 0,25 Prozent steht, die Verringerung der Notenbankbilanz, die auf die Kleinigkeit von neun Billionen US-Dollar angeschwollen ist, und die vollständige Einstellung der Aufkaufprogramme für Staatsanleihen und Wertpapiere, die schon seit Ende 2021 bereits in ihrem Umfang reduziert werden.
Diese Massnahmen zur „monetären Straffung“ würden den Märkten, die im Zuge der Pandemiebekämpfung mit Liquidität der Fed überschwemmt wurden, „hunderte von Milliarden Dollar“ entziehen, um die Inflation zu stoppen. Das Grundprinzip der jüngsten Hausse an den Märkten ist einfach. Die Öffnung der Geldschleusen durch die Notenbanken führte zu einer Inflation der Wertpapierpreise, weshalb die nun zu Ende gehende Finanzmarktrally als eine Liquiditätsblase14 bezeichnet werden kann. Die „exzessive Liquidität“ der Fed hat nicht nur die Aktienmärkte mit den absurd überbewerteten Technologiewerten und „Meme-Aktien“ wie Gamestop aufgebläht,15 sondern nahezu alle „Anlageklassen“ erfasst, wie es ein Analyst formulierte.16 Entscheidend seien hierbei die Liquiditätsspritzen der Fed gewesen, also die Gelddruckerei vermittels des Aufkaufs von Staatspapieren und – im kleineren Umfang – Unternehmensanleihen und Hypothekenpapieren.
Aufgrund dieser historisch beispiellosen Gelddruckerei der Fed und der gigantischen Konjunkturmassnahmen der Krisenpolitik, die alle Stabilisierungsprogramme nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 übertrafen,17 sprechen Beobachter inzwischen von einer „Everything Bubble“:18 Die grosse Geldflut der Notenbanken ist in fast alle Bereiche der Finanzsphäre vorgedrungen, um die entsprechende Inflation der Finanzmarktpreise hervorzurufen, die nun – in Wechselwirkung mit Pandemie und Klimakrise19 – immer stärker die „reale Wirtschaft“ in Gestalt der sich beschleunigenden Teuerung erfasst. Mehrere Spekulationsblasen platzen derzeit, hiess es in Einschätzungen der Bank of America.20 Neben Tech-Aktien sind vor allem Kryptowährungen betroffen, die massive Verluste hinnehmen müssen.21
Weiteres Krisenpotenzial schlummert auf dem US-Immobilienmarkt, der bekanntlich den Krisenschub von 2007/08 auslöste.22 Die Immobilienpreise in den Vereinigten Staaten sind im vergangenen Jahr im Durchschnitt um 20 Prozent angestiegen, wodurch sogar der Preisauftrieb in der Aufstiegsphase der 2007 geplatzten Immobilienblase überflügelt worden ist (Historisch betrachtet sind die Immobilienpreise in den USA seit 1987 im Schnitt um 4,1 Prozent per anno angestiegen).23 Der heiss gelaufene Immobilienmarkt – befeuert durch historisch niedrige Hypothekenzinsen – litt sogar unter Rohstoffmangel, es fehlte etwa an Bauholz. Inzwischen sind die Hypothekenzinsen wieder kräftig am Steigen, was dem Bauboom ein jähes Ende setzen dürfte:24 Der durchschnittliche Zins einer 30-jährigen Hypothek stieg in Antizipation der Zinswende der Fed von 3,08 Prozent im November auf 3,54 Prozent, wobei einige Prognosen davon ausgehen, dass er mittelfristig auf mehr als vier Prozentpunkte steigen wird.
US-Staatsanleihen: das poröse Rückgrat des Weltfinanzsystems
Der beste Indikator für ein jähes Ende der obig skizzierten „everything rally“ ist der Anstieg der inflationsbereinigten Rendite der US-Staatsanleihen.25 Die kommende „Straffung“ der Geldpolitik lässt bereits die Renditen der „Treasuries“ ansteigen, da diese sich umgekehrt zur Kursentwicklung dieser auf den Anleihemärkten gehandelten US-Staatspapiere verhalten. Bei steigenden Anleihekursen, zuletzt im Gefolge der 2020 aufgelegten Aufkaufprogramme der Fed, fällt die Rendite der Treasuries, bei fallenden Anleihekursen steig deren Rendite. Anleihen werden hierdurch attraktiver, was zu einer Absetzbewegung des Finanzkapitals aus riskanten und spekulativen Anlageformen – Aktien, Krypto, Derivate unterschiedlichster Art, etc. – führt (und die Turbulenzen auf den betroffenen Märkten verstärkt).Die Reduzierung der allmonatlichen, ursprünglich 120 Milliarden Dollar umfassenden „Quantitativen Lockerung“ der Fed, die bis März gänzlich eingestellt werden soll, lässt somit nicht nur die die Aktien-, sondern auch die Anleihekurse einbrechen. Neben der reduzierten Nachfrage der US-Notenbank, die zum grössten Eigentümer der US-Staatsschulden avancierte, ziehen sich auch private „Investoren“ aus dem Markt zurück, da die Profitrate für das Finanzkapital nicht attraktiv ist.26 Die Rendite der 10-jährigen US-Anleihe liegt derzeit bei rund 1,80 Prozent, was einen steilen Anstieg gegenüber den 1.40 Prozent darstellt, die noch Ende 2021 galten. Bei zweijährigen Anleinen liegt die Rendite sogar bei 1.06 Prozent, sodass hier ein Niveau erreicht wurde, wie es seit Februar 2020 – am Vorabend der grossen Turbulenzen auf den Anleihenmärkten im März 2020 – nicht verzeichnet worden war, warnte die Financial Times (FT).
Doch die realen, inflationsbereinigten Renditen liegen aufgrund der anhaltenden Teuerung immer noch im negativen Bereich.27 Bei 10-jährigen „Treasuries“ ist es – trotz des besagten jüngsten Renditeanstiegs – ein Wertverlust von rund 0,7 Prozent, wobei dieser im vergangenen Jahr zeitweise sogar mehr als ein Prozent betrug. Im Klartext: Wer US-Staatsanleihen hält, der verliert derzeit faktisch Geld. Die Fed hofft aber, durch Zinsanhebungen und monetäre Straffung Anleihen wieder mittelfristig Attraktiv zu machen, indem die Inflation eingedämmt wird und die Anleiherenditen steigen – um den Preis höherer Finanzierungskosten für die gesamte US-Ökonomie und des daraus resultierenden Konjunktur- und Rezessionsrisikos.
Und genau dieser einstmals als risikofrei geltende Markt bereitet der Fed seit dem Frühjahr 2020 Sorgen. Der Anleihemarkt für US-Staatsschulden bildet mit seinem Volumen von rund 20 Billionen US-Dollar so etwas wie das Rückgrat des spätkapitalistischen Weltfinanzsystems, es sei kaum möglich, die Wichtigkeit dieses „tiefsten, essenziellen Anleihenmarktes auf den Planeten“ zu überschätzen, so die FT,28 der als ein „Fundament des globalen Finanzsystems“ fungiere und als Benchmark für Anleihen auf der ganzen Welt. Und genau dieses Rückgrat ist porös. Das Fundament der globalen kapitalistischen Finanzsphäre geriet im März 2020 in Bewegung.
Nach dem Ausbruch der Pandemie stand dieser gigantische Markt zur vor seiner Kernschmelze, wie es die FT formulierte, da plötzlich sehr viele institutionelle Investoren bemüht waren, in der ersten Pandemiepanik an Bargeld zu kommen und ihre „sicheren“ Treasuries abzustossen. Für die Marktteilnehmer wurde es somit immer schwerer, überhaupt US-Anleihen zu verkaufen, zeitweise brach der Handel zusammen, da keine Priese ermittel werden konnten. Die „Bildschirme der Broker blieben leer und konnten keine Preisinformationen anzeigen“, so die FT. Es kursierten bereits Gerüchte über kollabierende Hedgefonds, über das „zuvor unvorstellbare Szenario einer gescheiterten Auktion von US-Staatsschulden“. Im Klartext: Den USA drohte eine akute Schuldenkrise, da die Begebung neuer Anleihen zu scheitern drohte und es ein Überangebot an Treasuries gab, die nicht mehr auf dem Markt abgesetzt werden konnten.
Die Verwerfungen 2020 waren viel heftiger als alles, was beim Krisenschub von 200/2008 ablief. Solch ein Tumult sollte auf den Anleihemärkten nicht möglich sein, zitierte die FT einen Analysten. Wenn das Finanzsystem ein Haus wäre, dann seien die Anleihen dessen Fundament, „ein sicherer, solider Grundstein, auf dem alles andere fusst“. Wenn dieser aber „Risse“ aufzeige, dann kann dies „die gesamte Struktur erschüttern“. Es war diese drohende Kernschmelze des „Fundaments“ des Weltfinanzsystems, die entscheidend zu der historisch beispiellosen Gelddruckerei der Fed in der Pandemie beitrug. Die US-Notenbank reagierte sofort auf die Verwerfungen auf den „sicheren“ Anleihemärkten.
Zuerst hat die Fed in Reaktion darauf im März 2020 angekündigt, kurzfristige Staatsanleihen im Umfang von 700 Milliarden Dollar aufzukaufen. Als das noch nicht reichte, um den Markt zu beruhigen, kündigte die Fed an, unbegrenzt Anleihen aufzukaufen. Die Massnahmen wurden dann in das bis zum heutigen Tag laufende, kürzlich in seinem Umfang reduzierte Aufkaufprogramm überführt, das im März 2022 – exakt zwei Jahre nach der drohenden Kernschmelze des Anleihemarktes – auslaufen soll. Zugleich will die Notenbank ihre auf knapp neun Billionen Dollar abgeschwollene Bilanz reduzieren. Diese Anleihen sollen aber nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion nicht aktiv auf denn labilen Anleihemarkt verkauft, sondern bis zu ihrer Fälligkeit gehalten werden, um so deren Bestand langsam, graduell zu reduzieren.
Auf Messers Schneide
Dennoch ist die Idee einer gründlichen Reduzierung der Bilanz der Fed – die faktisch zu einer Sondermülldeponie des Weltfinanzsystems verkommen ist – auf das Vorkrisenniveau von 2007, als diese weniger als eine Billion Dollar betrug, illusionär. Die Fed balanciert derzeit auf Messers Schneide. Die ausartende Inflation im Nacken, muss sie eben die Gelddruckerei beenden, die das Weltfinanzsystem bei Pandemiebeginn stabilisierte – in der Spekulation darauf, dass sich das Szenario vom März 2020 nicht wiederholt, da inzwischen kein monetärer Spielraum für eine abermalige Öffnung der Geldschleusen gegeben ist. Doch die Hoffnung, dass es sich bei der Pandemie um ein singuläres Ereignis handelte, ist ebenfalls illusionär.Die Pandemie war nicht Ursache, sondern lediglich das auslösende Moment – der „Trigger“ sozusagen – des Krisenschubs von 2020, der ein überschuldetes, labiles Weltfinanzsystem traf, dass ohne Gelddruckerei und Verschuldung sein zombiehaftes Scheinleben29 nicht fortsetzen kann. Die Turbulenzen des US-Finanzsystems im Herbst 2019,30 also vor Ausbruch Pandemie, machen dies deutlich. Damals führte die von der Fed eingeleitete Reduzierung der eigenen Bilanz zu einem raschen Anstieg der Zinsen im Interbankenhandel, da Banken ohne die Liquiditätsspritzen der Fed nicht mehr gewillt waren, sich untereinander Geld zu leihen – es drohte ein „Einfrieren“ der Märkte, wie es den Krisenschub nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008 kennzeichnete. Was tat die Notenbank? Sie gab die Versuche der quantitativen Straffung auf, sie pumpte abermals Milliarden in die Märkte, um diese zu stabilisieren – und somit die 2017 vorsichtig eingeleitete Reduzierung ihrer Bilanz zu revidieren.31
Die 40-jährige Ära der neoliberalen Finanzialisierung des Kapitalismus scheint somit sich ihrem Ende zuzuneigen. Aufgrund eines fehlenden neuen Akkumulationsregimes, bei dem in der Warenproduktion massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, prolongiert der Spätkapitalismus seit dem Durchmarsch des Neoliberalismus sein Scheinleben durch einen beständig wachsenden globalen Schuldenberg und – seit 2008 – durch blanke Gelddruckerei, die nicht mehr abgestellt werden kann, ohne dass die Stabilität des Systems akut gefährdet würde.
Doch nun macht die Inflation diesen globalen Schuldenturmbau32 zunehmend unmöglich, die Politik in den Zentren sieht sich derselben Krisenfalle ausgesetzt, wie sie die Peripherie immer wieder seit den 80ern verheerte.33 Die politischen Funktionseliten müssten eigentlich zugleich die Zinsen senken und anheben, sie müssten Sparpolitik und Konjunkturpolitik in einem betreiben, um die eskalierenden Widersprüche noch zu überbrücken. Mittelfristig bleibt selbst Washington nur die Wahl zwischen verschiedenen Wegen in den nächsten Krisenschub, zwischen Deflation oder Inflation. Die innere Schranke des Kapitals, das an seiner eigenen Produktivität erstickt und seiner Substanz, der Lohnarbeit, verlustig geht, wird nun auch in den Zentren manifest.