Und klar, diese Artikel kommen mit den üblichen hohlen Ratschlägen („zu viel Sozialstaat“, „zu hohe Steuern“, „zu wenig Arbeit“) und hämischen Untertönen einher, über die sich etwa die Wochenzeitung Die Zeit auf ihrer Onlinepräsenz beschwert hat.3 Doch genau diesen gehässigen Diskurs pflegte auch die veröffentlichte Meinung der Bundesrepublik noch vor wenigen Jahren, auf der Höhe der Eurokrise, gegenüber Südeuropa – nicht zuletzt in der Zeit selbst.4
Doch wiese wächst der ökonomische Abstand? Zu berücksichtigen ist hierbei der simple Umstand, dass es sich bei der Eurozone nicht um den Währungsraum eines einheitlichen Staates handelt. Seit dem Krisenausbruch 2008 war der Euroraum von heftigen nationalen Auseinandersetzungen und zunehmenden sozioökonomischen Ungleichgewichten geprägt, bei denen das deutsche Zentrum die Folgen der Eurokrise einseitig auf die südliche Peripherie, die sogenannten „Schuldenländer“, in Gestalt des Schäublerischen Spardiktats5 abwälzte, während die Bundesrepublik einen langen, exportgetriebenen Wirtschaftsboom erfuhr.6 Washington konnte somit eine mehr oder minder konsistente Krisenpolitik formulieren, während in Brüssel alle Krisenmassnahmen immer auch Ausdruck der zwischenstaatlichen Machtkämpfe in der Eurozone waren.
Der Abstand wächst
Dennoch: Sollten sich die Konjunkturprognosen für 2024 bewahrheiten, würde sich ein langfristiger konjunktureller Trend fortsetzen, da die Vereinigten Staaten die Europäer beim Wirtschaftswachstum in den vergangenen 15 Jahren schlicht abhängten – auch wenn der Unterschied zwischen der BRD und der USA weitaus schwächer ausfällt als zwischen Griechenland oder Italien und den Vereinigten Staaten. Laut dem WSJ, das sich auf Daten des IWF stützt, ist die europäische Wirtschaft – gemessen in der Weltleitwährung US-Dollar – in den vergangenen 15 Jahren nur um sechs Prozent gewachsen, während es in den USA rund 82 Prozent waren. Das Bruttoinlandsprodukt, das 2008 in den USA und der EU bei rund 14 Billionen Dollar lag, beträgt in den Vereinigten Staaten nun mehr als 26 Billionen – während es in Europa gerade mal 15 Billionen sind.Diese ökonomische Divergenz zwischen der EU und den USA ist auch beim Konsum und bei den Löhnen evident – auch dies eine Spätfolge des im Deutschland umjubelten schäublerischen Sparsadismus,7 der während der Eurokrise der hochverschuldeten südlichen Peripherie der Eurozone von Berlin oktroyiert8 wurde. Vor 15 Jahren, am Vorabend der transatlantischen Immobilienblase,9 entfielen auf die USA und die EU jeweils rund ein Viertel der globalen Konsumausgaben; nun sind in es 28 Prozent in den Vereinigten Staaten und nur noch 18 Prozent in der EU. Die realen, inflationsbereinigten Löhne sind westlich des Atlantik seit 2019 um sechs Prozent gestiegen, während sie in nahezu allen EU-Saaten geschrumpft sind: von drei Prozent in der BRD, über 3,5 Prozent in Italien, bis zu sechs Prozent in Griechenland.
Diese zunehmende ökonomische Kluft führt aber nicht mehr zu einer Steigerung des Lebensstandards der meisten Lohnabhängigen – in den USA ist die Entkopplung von offiziell registrierter Wirtschaftsentwicklung und sozialer Realität nur viel weiter vorangeschritten als in der EU. Die angespannte soziale Lage der Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten zeigt sich etwa in der durchschnittlichen Lebenserwartung,10 die auf 73 Jahre bei Männern und 79 Jahre bei Frauen gesunken ist.11
In Europa können Männer im Schnitt auf eine Lebenserwartung von 79 Jahren hoffen, Frauen gar auf 84 Jahre – und der Abstand ist in den letzten Jahren gewachsen. Eine Ahnung der Verzerrungen und der Schönrechnerei, die etwa in die Berechnung der offiziellen Inflationsrate eingehen, lässt sich anhand der Tatsache gewinnen, dass inzwischen knapp zwei Drittel aller US-Bürger keine nennenswerten finanziellen Rücklagen bilden können und sich allmonatlich von Gehaltscheck zu Gehaltscheck durchschlagen12 – in einer Zeit, in der angeblich die inflationsbereinigten Löhne in den USA um sechs Prozent gestiegen sein sollen.
Advantage USA: Ukraine? Energieträger? Protektionismus?
Zusammenfassend kann nichtsdestotrotz konstatiert werden, dass die ökonomische Entkopplung der Vereinigten Staaten von der Eurozone weit vorangeschritten ist – auch wenn die Lohnabhängigen westlich des Atlantiks davon kaum profitieren. Neben rein neoliberaler Ideologie, die den Sozialstaat, Steuern oder Gewerkschaften für die ökonomische Stagnation Europas verantwortlich macht, nennen das Wall Street Journal und die Financial Times in ihren Beiträgen auch sehr reale Ursachen für die zunehmende transatlantische Kluft. Genannt wurden u.a. die höheren Konjunkturausgaben Washingtons nach Ausbruch der Pandemie, oder der US-Hightech-Sektor, der keine Entsprechung im technologisch zurückfallenden Europa hat.Doch aktuell ist es vor allem der Ukrainekrieg, der Europa weitaus stärker tangiert als die USA. Die europäische Ökonomie leidet viel stärker unter hohen Energiepreisen als ihre amerikanische Konkurrenz, die auf billige fossile Energieträger zurückgreifen kann, die durch das ökologisch desaströse Fracking13 gewonnen werden – was die USA zu einem der weltweit grössten Energieexporteure gemacht hat.14 Dieser Unterschied spiegelt sich ganz konkret in den Inflationszahlen wieder, die in den Vereinigten Staaten15 durchgehend niedriger sind als in der Eurozone.16 Der russische Überfall auf die Ukraine zementierte überdies die Rolle der USA als „sicherer Hafen“ für Kapital in Krisenzeiten, zumal die EU faktisch über keine ausreichenden militärischen Kapazitäten verfügt, um solche imperialistischen Konflikte in Eigenregie führen zu können (was die hektische Rüstungsspirale in Europa triggerte).
Beide Wirtschaftsblätter weisen überdies darauf hin, dass die Exportausrichtung der EU und der BRD sich zu einem zentralen Nachteil Europas entwickelt hat. Europa und Deutschland seien bis vor wenigen Jahren „massive Gewinner der Globalisierung“ gewesen, hiess es etwa in der FT, doch gehörte „diese Art der Globalisierung“ inzwischen der Vergangenheit an. Das WSJ bemerkte, dass mit dem „abkühlenden globalen Handel“ auch die „formidable Exportindustrie“ Europas in der Sackgasse stecke. Das „Vertrauen Europas auf Ausfuhren“ verwandele sich von einer Stärke in eine „Schwäche“, da rund 50 Prozent des BIP der EU durch Exporte generiert werde, während es in den USA nur zehn Prozent seien. Der krisenbedingt zunehmende Protektionismus führt somit zu einer massiven Benachteiligung exportorientierter Volkswirtschaften und Wirtschaftsräume.
Krisenhintergrund: Drohende Erosion der globalen Defizitkreisläufe
Mit der Erosion der Globalisierung scheitert somit auch die langfristige, von der Bundesrepublik seit der Euroeinführung verfolgte Wirtschaftsstrategie der strikten Exportausrichtung, deren volkswirtschaftliches „Geschäftsmodell“ auf der Erzielung möglichst hoher Handelsüberschüsse beruht. Mit dieser sogenannten Beggar-thy-Neighbor-Politik17 („Bring deinen Nachbarn an den Bettelstab“) werden Schulden, Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit in die Zielländer der Ausfuhrüberschüsse exportiert.Eingeleitet mit der Agenda 2010 und den repressiven Hartz-IV-Arbeitsgesetzen,18 mit denen die Lohnstückkosten in der BRD massiv gesenkt wurden, konnte Deutschland bis zum Ausbruch der Eurokrise19 extreme Handelsüberschüsse20 gegenüber der Eurozone erzielen, was massgeblich zur Defizitbildung und dem Ausbruch dieser europäischen Schuldenkrise beitrug. Nachdem Berlin die europäischen Krisenstaaten mittels drakonischer Austeritätspolitik ruiniert hatte,21 richtete sich diese Exportstrategie auf das aussereuropäische Ausland.22
Die Eurozone bildete folglich nach der Eurokrise gegenüber dem aussereuropäischen Ausland ähnlich hohe Überschüsse aus, wie zuvor die Bundesrepublik gegenüber dem europäischen Währungsraum. Dies lässt sich eindeutig an der Handelsbilanz zwischen den USA und der von Schäuble auf Austeritätsdiät gesetzten EU nachvollziehen.23 Das US-Handelsdefizit stieg von rund 58 Milliarden Dollar im Jahr 2000, über knapp 100 Milliarden 2011, auf 218 Milliarden 2021 (rund ein Drittel des US-Handelsdefizits 2021 entfiel auf Deutschland24). Doch 2022 sanken die europäischen Überschüsse auf rund 202 Milliarden, was auf die zunehmenden protektionistischen Massnahmen in den Vereinigten Staaten zurückzuführen ist.
Dieselbe Financial Times, die jüngst den ökonomischen Niedergang Europas an die Wand malte, beschrieb Mitte 2023 diesen wirtschaftspolitischen Strategiewechsel Washingtons,25 der von der Trump-Administration eingeleitet und von Biden weiter forciert wurde. Im Kern handelt es sich um eine protektionistische Abkehr von der Globalisierung. Mittels einer „Aussenpolitik für die Mittelklasse“ wollte das Weisse Haus der „Aushöhlung der Industriebasis“, dem Aufkommen „geopolitischer Rivalen“ und der zunehmenden, demokratiegefährdenden „Ungleichheit“ entgegenwirken.
Sichtbarer Ausdruck der voll einsetzenden Deglobalisierung ist das sogenannte Nearshoring, bei dem die USA bestrebt sind, ihre ökonomische Abhängigkeit von der chinesischen Exportindustrie durch den Aufbau industrieller Kapazitäten in Mexiko zu ersetzen.26 Der auf Reindustrialisierung zielende Protektionismus Washingtons richtet sich aber nicht nur gegen den „geopolitischen Rivalen“ China, sondern auch gegen das „deutsche“ Europa – etwa in Gestalt der Buy-American-Klauseln in den Konjunkturpaketen Washingtons27 und der weiterhin drohenden transatlantischen Handelskriege. Mitte Oktober konnten sich EU und USA bei Handelsgesprächen nicht auf einen Kompromiss verständigen, der die Wiederaufnahme von Strafzöllen auf Stahl und Aluminium aus Europa zu Jahresanfang 2024 vermeiden würde.28
Zudem droht deutschen Autozulieferbetrieben weiterhin der Ausschluss aus den US-Produktionsketten aufgrund von Bestimmungen des US-Subventionsprogramms „Inflation Reduction Act“. Ein substanzielles Entgegenkommen Washingtons ist auch unwahrscheinlich, da der Protektionismus zu funktionieren scheint. Deutsche Unternehmen investieren verstärkt in den USA, um von den Subventionen Washingtons zu profitieren.29 Die privaten jährlichen Investitionen in den Vereinigten Staaten sind tatsächlich regelrecht explodiert: von rund 75 Milliarden Ende 2020 auf 204 Milliarden Dollar im dritten Quartal 2023.
Berlin verbrachte das 21. Jahrhundert damit, die Bundesrepublik30 – und ab 2010 im Gefolge der Eurokrise die Eurozone – auf ein exportfixiertes Wirtschaftsmodell auszurichten, das auf die Erzielung von Handelsüberschüssen in der globalisierten Weltwirtschaft des neoliberalen Zeitalters abzielte. Mit der voll einsetzenden Deglobalisierung findet sich der ehemalige Exportüberschussweltmeister in einer wirtschaftspolitischen Sackgasse wieder, die mittelfristig nicht nur die ökonomische Stabilität der Bundesrepublik, sondern den politischen Fortbestand der Eurozone infrage stellt.
Den systemischen Krisenhintergrund31 dieser neuen, von Protektionismus geprägten Krisenphase bildet die zunehmende Erosion der globalen Defizitkreisläufe,32 wie sie die neoliberale Globalisierung mit ihren permanent ansteigenden Schuldenbergen prägten. Die global schneller als die Weltwirtschaftsleistung steigende Verschuldung33 verlief ja nicht gleichmässig, es entstanden vielmehr Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen. Exportorientierte Volkswirtschaften wie China und die Bundesrepublik erzielten hohe Handelsüberschüsse gegenüber Defizitländern, die sich verschulden mussten. Und die USA bildeten das mit Abstand grösste Handelsdefizit aus,34 das von rund 328 Milliarden Dollar am Ende des 20. Jahrhunderts, über 816 Milliarden 2008, am Beginn der Immobilienkrise, bis zu 1,17 Billionen 2022 kletterte.
Die Vereinigten Staaten gleichen somit einem schwarzen Loch der an ihrer eigenen Produktivität erstickenden Weltwirtschaft,35 wo exportorientierte Industrieländer ihre Überschussproduktion absetzen können. Deswegen spielt der Konsum in den USA eine zentrale Rolle. Möglich ist dies nur, weil der Dollar als Weltleitwährung fungiert und dieselben Länder, die Handelsüberschüsse gegenüber den USA erzielen, auch deren Defizitbildung finanzieren, indem sie US-Anleihen aufkaufen – China, das enorme Handelsüberschüsse erzielt, ist immer noch einer der wichtigsten Auslandsgläubiger Washingtons.
Eben dies ist der Kern der Defizitkreisläufe, die sich im Neoliberalismus etablierten und Ausdruck des krisenbedingten Verschuldungszwangs36 des Weltsystems sind: Der hyperproduktive Kapitalismus läuft auf Pump, wobei konkret die USA immer grössere Handelsdefizite verzeichnen, während in die Gegenrichtung „Wertpapiere“ aus den Vereinigten Staaten, wo der immer neue Spekulationsblasen ausbildende Finanzsektor an Gewicht gewann, „exportiert“ wurden. Eine Reihe von Faktoren bereitete dieser absurden neoliberalen Krisenverschleppung ein Ende: Die zunehmenden Finanzkrisen – vor allem die Immobilienkrise 2008 -, die sozialen Folgen der Deindustrialisierung mitsamt der Ausbildung von Rostgürteln, das Aufkommen von Rechtspopulisten wie Trump, schliesslich die mit Pandemie und Ukrainekrieg voll einsetzende Inflation,37 die eine Zinswende38 unabdingbar machte.
Neuvermessung der Kampfzone
Washington ist somit nicht mehr bereit, die extremen Handelsdefizite der USA hinzunehmen, da die Folgekosten – politisch, sozial, wirtschaftlich – zu hoch sind. Die Biden-Administration setzt faktisch nur die protektionistische Politik Trumps fort. Mit dieser von den USA eingeleiteten globalen Wende in eine neue Krisenphase wandelt sich aber auch die Staatenkonkurrenz – die Vorteile, die exportorientierte Standorte wie die BRD hatten, wandeln sich in der heraufziehenden Ära der Deglobalisierung und des Protektionismus in Nachteile. Die lange Talfahrt des Euro,39 der seit seinem historischen Höchststand 2008 rund 50 Prozent seines Wertes gegenüber dem Greenback einbüsste, beförderte aufgrund der strukturellen Unterbewertung die deutschen Exporte, solange die Handelswege offenblieben. Doch nun, da die Handelshürden zunehmen, kommt eine schwache Währung einfach einem Import von Inflation gleich.Die USA haben scheinbar alle Vorteile auf ihrer Seite, um die EU ökonomisch und politisch in eine periphere Position zu drängen, wie jüngst die europäische Denkfabrik European Council on Foreign Relations in drastischen Worten warnte.40 Länder mit Handelsdefiziten haben bei ernsthaften Handelskriegen den strategischen Vorteil, dass ihre Defizite in der Tendenz reduziert werden, während Wirtschaftsräume mit Exportüberschüssen, wie Deutschland oder die EU, bei solchen Auseinandersetzungen nur verlieren können. Zudem ist die Deglobalisierung nicht nur durch eine rasche Zunahme von Handelshemmnissen geprägt (Die FT zählte 2022 global 801 neue protektionistische Massnahmen, während es 2017 nur 210 waren),41 hinzu kommen die zunehmenden Engpässe und Importhemmnisse bei wichtigen Rohstoffen und Ressourcen, die viele neue Industriezweige benötigen.
Die USA haben gegenüber der EU den strategischen Vorteil ihrer Militärmaschine, mit der sie notfalls intervenieren können, um die Versorgung mit notwendigen Rohstoffen zu sichern. Für Kapital ist dies ein wichtiger Faktor bei der Standortentscheidung. Und schliesslich ist es der US-Dollar, der es Washington ermöglicht, sich in der Weltleitwährung zu verschulden.
Doch zugleich tut sich eine neue ökonomische Kampfzone auf, die mit den protektionistischen Bestrebungen zur Reindustrialisierung der USA eng verflochten ist: Die wunderbare Welt der Anleihemärkte.42 Die Zinsen für US-Anleihen, für die sogenannten Treasuries, sind mit der Zinswende der Notenbanken in die Höhe geschossen, sodass der US-Haushalt 2023 mit explodierenden Zinskosten von 660 bis zu 800 Milliarden Dollar belastet werden dürfte. In einer Periode, in der Washington mittels kreditfinanzierter Konjunkturprogramme die Reindustrialisierung der USA forciert, steigen die Kreditkosten, mit denen sich der US-Haushalt konfrontiert sieht.43
Die übliche Methode, um die Zinsen trotz enormer Kreditaufnahme des Staates niedrig zu halten, ist derzeit unzugänglich: Die US-Notenbank Fed kann keine Treasuries aufkaufen, wie in den Jahren zuvor, da dies die Inflationsbekämpfung unterminieren würde – beim Aufkauf von Staatsschulden durch Notenbanken wird faktisch Geld gedruckt. Mehr noch: Die Notenbanken halten Billionen an Staatspapieren in ihren Bilanzen, die in der Zeit der „quantitativen Lockerungen“ mit frisch gedrucktem Geld aufgekauft wurden.44 Und nächstes Jahr muss Washington Schulden im Umfang von rund 7,6 Billionen Dollar bedienen, was den Druck auf den Anleihemarkt (mit steigenden Zinsen fallen die Anleihekurse) weiter verstärken wird.
Die mit dem Zinsanstieg fallenden US-Anleihekurse destabilisieren dabei nicht nur den Finanzsektor, wie zuletzt bei der Bankenkrise im Frühjahr 2023;45 sie stellen auch die strategische Rolle der Treasuries im Weltfinanzsystem infrage, wie die Financial Times (FT) im Oktober 2023 bemerkte.46 US-Anleihen sollen das stabile Rückgrat des Weltfinanzsystems bilden, sie werden von strategischen Investoren (Pensionsfonds, Versicherungen, etc.) gehalten, die eine zuverlässige, wenn auch niedrige Rendite erzielen müssen.
Die beständige Volatilität auf dem Anleihemarkt, die grossen Wertschwankungen von Treasuries, sie stellen diese Anker-Funktion der US-Anleihen infrage, sie können kaum noch als „sicherer Hafen“ in der Finanzsphäre fungieren. Dabei übersteigt das „Angebot“ an Treasuries längst die Marktnachfrage, da die Notenbanken ihre Aufkaufprogramme im Rahmen der Inflationsbekämpfung einstellen mussten, warnte die FT im November 2023.47 Analysten warnten gegenüber dem Wirtschaftsblatt, dass das „fiskale Rahmenwerk“ Washingtons in dieser Form nicht aufrechterhalten werden könne.
Die US-Notenbank Fed musste faktisch in den vergangenen Jahren eine zentrale Rolle als Anleihekäufer spielen, da der wichtigste ausländische Aufkäufer von US-Anleihen im 21. Jahrhundert, die Volksrepublik China, ihre Treasury-Bestände rasch reduziert. 2013 hielt China US-Anleihen im Wert von rund 1,5 Billionen Dollar, im Januar 2023 waren es nur noch 859 Milliarden.48 Dieser Rückzug Chinas aus den US-Anleihen konnte auch nicht durch andere ausländische Käufer – etwa Grossbritannien – ausgeglichen werden, zumal der Schuldenberg der USA rasch wächst. 2016, ein Jahr vor dem Regierungsantritt Donald Trumps, befanden sich nahezu 45 Prozent aller US-Anleihen im Besitz ausländischer Investoren.
Im zweiten Quartal 2023 waren es hingegen weniger als 30 Prozent.49 Dieser Rückzug ausländischer Investoren aus dem US-Anleihemarkt, der in der Trump-Ära so richtig an Fahrt aufnahm, ist faktisch eine Folge der protektionistischen Reindustrialisierungsbemühungen Washingtons. Dies wird nur vor dem Hintergrund der besagten Defizitkreisläufe verständlich. Der implizite Deal, der den Defizitkreisläufen zugrunde lag, bestand darin, dass die Exportüberschüsse, die etwa China in den USA erzielt, durch den Aufkauf von US-Schuldtiteln finanziert werden. Sobald Washington diesen Deal einseitig durch Protektionismus kündigt, schwindet auch der handfeste, materielle Anreiz für Peking, weiterhin das durch Exporterlöse erzielte Kapital in US-Bonds zu investieren.
Die einseitige Aufkündigung der Defizitkreisläufe durch Washington, mit der das Land reindustrialisiert werden sollte, führt somit zur Destabilisierung des beständig wachsenden Schuldenbergs der Vereinigten Staaten. Der konjunkturelle Vorteil gegenüber der Eurozone, den US-Wirtschaftsblätter so gerne thematisieren, geht somit mit zunehmenden Finanzrisiken einher, auf die wiederum deutsche Wirtschaftsblätter sehr gerne – mit der für bürgerlichen Wirtschaftsjournalismus beiderseits des Atlantik charakteristischen Gehässigkeit – verweisen.50
Washington kann derzeit nur darauf hoffen, dass die Inflation sich in den USA schneller als in der Eurozone legt, um wieder zur Praxis der „quantitativen Lockerungen“ durch die Fed zurückkehren zu können (bis diese wieder den Preisauftrieb anheizen). Anderenfalls müsste die aktive Konjunkturpolitik eingestellt werden – was nur auf die Fragilität des Konjunkturaufschwungs in den USA verweist.51
Letztendlich exekutieren diese wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen nur die objektive Krisendynamik in einem unter einer strukturellen Überproduktionskrise leidenden spätkapitalistischen Weltsystem. Der dekadenlange Krisenprozess, der sich seit den 80ern schubweise von der Peripherie über die Semiperipherie in die Zentren frisst, hat nun Letztere voll erfasst. In der transatlantischen Allianz tobt somit blanke Krisenkonkurrenz: Wer steigt ab beim nächsten Krisenschub? Die USA, China oder Europa? Die handels- und wirtschaftspolitischen Kämpfe fungieren somit als Exekutor der Krise.