Angriff auf den Service public
Die Sorgen der TTIP-Kritiker sind mehr als berechtigt, wie Recherchen des ARD-Politmagazins «Monitor» jetzt aufdecken. Die Amerikaner wollen nicht nur Chlorhühnchen, Hormonfleisch und Gentechnik auf den europäischen Markt bringen. Geheime Verhandlungsdokumente belegen: Sogar über Bereiche des Service public verhandelt die EU-Kommission mit den amerikanischen Unterhändlern. Das weiss offensichtlich nicht einmal Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Er hat stets erklärt, öffentliche Dienste seien «ausdrücklich nicht Gegenstand des Freihandelsabkommens», doch im internen Papier der EU-Kommission sind sie Punkt für Punkt aufgelistet: Strom, Gas, Wasser, Schienenverkehr und sogar Gesundheitsdienstleistungen, speziell Privatspitäler.Dass TTIP auch für fast alle Sektoren des Service public gelten soll, sehen deutsche Politiker mit grosser Sorge. Sie befürchten eine zunehmende Privatisierung öffentlich-rechtlicher Unternehmen. Bisherige hohe Qualitäts-Standards könnten dabei auf der Strecke bleiben.
Grundversorgung und Arbeitsschutz in Gefahr
Im schlimmsten Fall werden sich in Europa Spitäler ausbreiten, denen Profit wichtiger ist, als das Wohl der Patienten. Der Aktienkonzern UPMC, ein grosser Spitalbetreiber aus Pittsburgh, ist bereits in den Startlöchern. «Wir können in den USA wegen der Gesundheitsreform nicht mehr genügend verdienen. Also müssen wir jetzt nach Übersee, sonst können wir unser Geschäftsmodell nicht mehr aufrechterhalten», sagt der stellvertretende Geschäftsführer in der ARD-Reportage «Der grosse Deal». Und so sieht das Geschäftsmodell aus, das UPMC nach Europa importieren möchte: Teure High-Tech-Medizin für Reiche, weniger Spitäler für die Allgemeinheit, möglichst hoher Profit. Die Grundversorgung der Kranken, unabhängig von Versicherung und Einkommen, überlässt man anderen. Vor kurzem hat UPMC das Allgemeinspital in Pittsburgh geschlossen – zu wenig rentabel.Mit TTIP könnten amerikanische Unternehmen sogar eigenes Personal nach Europa «importieren» und hier nach eigenen Regeln beschäftigen beziehungsweise bezahlen – ungeachtet der nationalen arbeitsrechtlichen Normen und Mindestlöhne. Das belegt ein Verhandlungsdokument, das der «Monitor»-Redaktion vorliegt: Im Angebot der EU an die Amerikaner ist die Arbeitsschutz-Klausel, die üblicherweise Bestandteil von Handelsabkommen ist, einfach gestrichen worden.
Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel beharrt auf seinem Standpunkt, TTIP könne das Grundgesetz und den deutschen Arbeitsschutz nicht aushebeln. Belege dafür bleibt er der «Monitor»-Redaktion schuldig. Über seinen Pressesprecher lässt er ausrichten, das Verhandlungsangebot der EU sei geheim und nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
Skandalöse Intransparenz
Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt. Von dem, was dort besprochen wird, soll die Öffentlichkeit nichts erfahren. Nur ausgewählte EU-Politiker bekommen in einem Leseraum Einsicht in die Dokumente, Notizen dürfen sie keine machen. Sogar EU-Abgeordnete bezeichnen die Intransparenz der Verhandlungen als «skandalös». Mit wachsendem Misstrauen verfolgen kritische Bürger und Politiker die regen Kontakte zwischen Industrie und EU-Kommission. Sie sind überzeugt, dass beim Freihandelsabkommen die Interessen der EU-Bürger kaum eine Rolle spielen. Die EU-Kommission trifft sich auffällig häufig mit den Lobbyisten der Industrie und eher selten mit Gewerkschaften, Umweltorganisationen und Konsumentenschützern. Gemäss einer Statistik der Anti-Lobby-Organisation CEO in Brüssel fanden 119 von 130 Treffen mit Konzernen und Industrieverbänden statt.Die Befürchtungen der TTIP-Gegner, dass die Lobbyisten ihre Interessen ungehindert durchsetzen können, sind nicht aus der Luft gegriffen. So fordert die Chemielobby offen, dass chemische Stoffe in der EU nach dem laschen Verfahren der USA zugelassen werden sollen. Die EU-Kommission hat stets beteuert, die hohen EU-Standards zum Schutz von Mensch und Umwelt würden beim Freihandelsabkommen TTIP nicht angetastet. Aber ein weiteres geheimes Verhandlungsdokument zeigt, wo ein Hintertürchen geöffnet werden könnte: im Europäischen Rat für Risikobewertung RAC. Er bewertet die Schädlichkeit von Chemikalien und gibt eine Empfehlung zur Zulassung ab. Bis jetzt sitzen dort nur Wissenschaftler, doch künftig sollen im Gremium auch Vertreter der Industrie mitreden. Der Vorschlag der Lobbyisten wurde prompt ins Verhandlungspapier aufgenommen. Wörtlich heisst es dort: «Interessenvertreter können an den Diskussionen des Rats für Risikobewertung teilnehmen.»
Undemokratische Paralleljustiz
Dies sind nur einige alarmierende Indizien. Aber selbst wenn am Ende nichts davon explizit im Freihandelsvertrag stehen sollte, können sich US-Konzerne immer noch auf den Investorenschutz berufen. Damit kann jedes ausländische Unternehmen gegen Gesetze und Massnahmen einer Regierung klagen, wenn es findet, diese würden die Gewinnchancen seiner Investitionen stark einschränken. Das kann Staaten Milliarden kosten. Ein bekanntes Beispiel ist die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall, der von der Bundesrepublik 3,7 Milliarden Euro Schadenersatz für die Folgen des Atomausstiegs verlangt. Die Urteile fällt ein Schiedsgericht, das im Geheimen tagt, und nicht etwa ein ordentliches Gericht. Eine Berufungsmöglichkeit gibt es nicht. Aus Sicht der Kritiker ist das eine undemokratische Paralleljustiz – und ein Milliardengeschäft für findige Anwälte.Die Schweiz will nachziehen
Die breite Mehrheit weiss nur wenig über TTIP und seine Folgen. Schweizer Medien berichten nur am Rande über den Jahrhundert-Deal. Dabei dürfte auch uns interessieren, worüber in Brüssel verhandelt wird. Denn die Schweizer Behörden haben bereits erklärt, dass die Schweiz in einem separaten Abkommen mit den USA sofort nachziehen müsste. Zu verhandeln gibt es dann für die Schweiz nichts mehr.Schon Ende 2014 will die EU-Kommission die Verhandlungen abschliessen. Doch bereits jetzt kommt der Wirtschaftswissenschaftler Jagdish Bhagwati im Interview mit «Monitor» zu einem vernichtenden Urteil: «Freihandel ist gut», sagt der ehemalige Unterhändler von grossen Freihandelsabkommen bei WTO und GATT. «Dieses Abkommen aber sollte nicht unterzeichnet werden. Schon gar nicht von den Europäern, sie werden am Ende die Verlierer sein.»