Um die Verhandlungen rund um das Tisa-Abkommen zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück ins Jahr 1994. Das nach dem zweiten Weltkrieg abgeschlossene Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), das hauptsächlich der Abschaffung von Handelshemmnissen in Form von Zollgebühren diente, wird durch die heutige Welthandelsorganisation WTO ersetzt und in einen institutionelleren Rahmen überführt. Gleichzeitig mit der Gründung der WTO wird auch die Schaffung eines Dienstleistungsabkommens beschlossen: das Gats. Es soll den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen regeln und hat vor allem eines zum Ziel: „schrittweise einen höheren Stand der Liberalisierung zu erreichen“ (Artikel XIX, Absatz 1).
Anders formuliert bedeutet dies, dass alle Dienstleistungen den Regeln des freien Wettbewerbs unterworfen werden, der durch keinerlei Vorschriften behindert werden darf – also weder durch Umweltgesetze, Arbeitsrecht oder Reglementierung der Finanzgeschäfte beispielsweise. De facto sollten praktisch alle Bereiche des öffentlichen Lebens privatisiert werden, öffentliche Dienstleistungen soll es keine mehr geben.
Die WTO-Verhandlungsrunden – und mit ihnen die Umsetzung des Gats – sind seit 2005 blockiert. Daraufhin schlossen sich die Unternehmer_innenverbände der USA, Europas, Australiens, Chinas, Brasiliens, Japans, Kanadas, aber auch von Barbados und St. Lucia und weiteren Ländern zusammen, um Abhilfe zu schaffen. Sie drängten die Regierungen ihrer Länder, ein Dienstleistungsabkommen auf der Grundlage des Gats, aber ausserhalb des WTO-Rahmens abzuschliessen. Die wirklich guten Freund_innen der Dienstleistungen und mit ihnen die momentan laufenden Tisa-Verhandlungen waren geboren.
Gats 2.0
Das Tisa beruht auf den gleichen Prinzipien wie das Gats: Liberalisierung des Handels und Privatisierung aller Dienstleistungen. Dazu übernimmt es weitgehend die im Gats vorgesehenen Instrumente: - Offer (Angebot) und Request (Forderung): Die Staaten machen Angebote, welche Dienstleistungsbereiche sie liberalisieren und welche sie davon ausnehmen wollen. Gleichzeitig kann eine Regierung von einer anderen die Öffnung eines Sektors fordern.Ist die Marktöffnung in einem Bereich vollzogen, kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dafür sorgt die „Standstill“-Klausel (Stillhalteklausel): Alles, was zu Vertragsabschluss privatisiert ist, muss es auch in Zukunft blieben. Es muss entweder weiter liberalisiert oder der Status Quo eingehalten werden. In die gleiche Richtung zielt auch die „Ratchet“-Klausel (Sperrklinkenklausel): Jeder weitere, das heisst nach Vertragsabschluss erfolgte Privatisierungsschritt wird automatisch Teil des Vertrags und kann so ebenfalls nicht mehr rückgängig gemacht werden. - Daneben gilt das Prinzip der Inländer_ innenbehandlung: Jeder Staat ist verpflichtet, ausländische und inländische sowie private und öffentliche Dienstleistungserbringer_ innen gleich zu behandeln.
Subventionen können also beispielsweise nicht mehr nur an einen Teil der Leistungserbringer_innen gezahlt oder an einen Leistungskatalog geknüpft werden. Jedes neu zugezogene Unternehmen muss automatisch die gleichen Subventionen erhalten wie die schon bestehenden. In einem Punkt geht das Tisa sogar über das Gats hinaus: Dieses sah noch vor, dass bestimmte Bereiche wie die Bildung, das Gesundheitssystem oder Kultureinrichtungen vom Prinzip der Inländer_innenbehandlung ausgeschlossen sein können.
Im Tisa-Abkommen gilt das Prinzip für alle Sektoren, es sei denn, die Regierung setzt einen Bereich auf eine sogenannte Negativliste. Diese wird aber ebenfalls regelmässig neu verhandelt – mit dem Ziel, die Liste laufend zu verkürzen. So steigt der Druck auf die Regierungen, weiter zu privatisieren – wobei keine spätere Regierung jemals wieder etwas daran ändern können soll...
Doch damit noch nicht genug...
Aufgrund solch einschneidender Veränderungen überrascht es, dass der Widerstand gegen das Tisa-Abkommen nicht grösser ist. Im Falle eines anderen multilateralen Abkommens, über das zurzeit ebenfalls verhandelt wird, waren die Proteste in den letzten zwei Jahren lautstarker: Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) ist weitgehend ein Freihandelsabkommen nach ziemlich klassischem Schnittmuster – deren Auswirkungen schon von der Anti-Globalisierungsbewegung angeprangert wurden.Wie das Tisa, so stellt auch das TTIP schon die zweite Variante eines inhaltlich weitgehend gleichlautenden Abkommens dar: Nachdem das von der OECD initiierte Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), mit dem Unternehmen der gleiche Rechtsstatus wie Nationalstaaten verschafft werden sollte, 1998 scheiterte, verhandeln die USA und die Europäische Union nun seit 2013 über das TTIP.
Dieses zielt darauf ab, eine transatlantische Freihandelszone (Transatlantic Free Trade Area, Tafta)[1] zu schaffen, in der keine Zölle mehr erhoben und alle Standards in „nicht handelspolitischen“ Bereichen vereinheitlicht werden sollen. Das bedeutet, dass alle beteiligten Staaten ihre Gesetze und Vorschriften bis hinunter auf Gemeindeebene dem Abkommen anpassen müssen und dies in allen Bereichen, die vom neuen Regelwerk betroffen sind. Halten sich die Staaten oder Teile davon nicht an die Regeln des TTIP, können sie mit Handelssanktionen belegt oder zur Zahlung einer Busse verurteilt werden.
Welche Sektoren Gegenstand der Verhandlungen sind und welche Standards im Abkommen vorgesehen sein werden, ist nur schwer in Erfahrung zu bringen – auch das TTIP wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Grundsätzlich wollen beide Verhandlungsparteien möglichst viele Handelshindernisse für ihre eigenen Unternehmen aus der Welt schaffen – die Verhandlungen orientieren sich also nicht an den strengeren Vorschriften, sondern eher daran, welche Standards in einer Art Kuhhandel nach unten gedrückt werden können. Als Resultat werden auf beiden Seiten des Atlantiks schliesslich in zahlreichen Bereichen weniger strenge Vorschriften gelten als bisher.
Wie die Staaten freiwillig ihre Macht abtreten
Wichtiger Bestandteil des TTIP sind auch die „Investor_innenrechte“. Unternehmen können gegen Staaten klagen, wenn sie der Ansicht sind, ihre Investitionsrechte würden verletzt. Dies insbesondere im Falle einer „indirekten EnteigEnteignung“, das heisst, wenn neue Regelungen eines Staates den Wert einer Investition sinken lassen. Tritt das TTIP in Kraft, müssten die Staaten die Unternehmen für diese „Enteignungen“ entschädigen.In solchen Konflikten sollten laut TTIP „unabhängige“ Schiedsgerichte entscheiden, die unter der Aufsicht der Weltbank und der UNO tagen und ausserhalb der staatlichen Rechtssysteme funktionieren. Dies würde die Macht der Unternehmen enorm steigern – könnten sie doch mit dem einzigen Argument, ein Staat hätte Vorschriften erlassen, die ihre Gewinne schmälern, Staaten vor ein Gericht bringen, das sich jeglicher staatlicher Kontrolle entzieht, dessen Entscheide aufgrund des TTIP aber dennoch bindend wären.
Unter dem seit 2013 beständig gestiegenen Druck von NGOs und der Zivilgesellschaft krebste die EU-Kommission schliesslich zurück und gab im September 2015 bekannt, ein festes TTIP-Schiedsgericht mit professionellen Richtern und einer Berufungsinstanz schaffen zu wollen. Dieses Einlenken zeigt, dass sich die Verhandlungsparteien bewusst sind, dass das Abkommen nach wie vor scheitern kann. Dennoch ändert der neue Vorschlag nichts am grundlegenden Problem: Klage einreichen können nur die Unternehmen, nicht aber die Staaten. Die Schweiz ist als Nicht-EU-Mitglied nicht Vertragspartei des TTIP.
Dennoch würde das Abkommen die Schweiz tangieren, die in vielen Bereichen schon jetzt das EU-Recht übernimmt. Das TTIP und das Tisa zusammengenommen, würden beinahe alle Bereiche unseres Lebens einem noch weiter gehenden Diktat des freien Markts unterwerfen als bisher. Es bleibt zu hoffen, dass sich der Widerstand endlich auch in der Schweiz stärker regt. Dabei muss es nicht in erster Linie um den Erhalt nationalstaatlicher Souveränität gehen – ein Argument, das gerade unter Anarchist*innen nicht gefällt. Sondern vielleicht darum, dass lokale Selbstbestimmung einfacher erkämpft werden kann, wenn die Gegnerin ein Staat und nicht ein Unternehmen oder in einem multilateralen Abkommen festgelegte Regeln sind.