Die Aufregung war gross. Besorgte Bürger und Bürgerinnen in den USA fragten sich entsetzt: Wird unsere geliebte Schokolade etwa mit Sklavenarbeit hergestellt? Wir schreiben das Jahr 2001 und grosse US-Medien berichten ausführlich über Kinderarbeit und Menschenhandel auf westafrikanischen Kakaoplantagen. Die politische Reaktion liess damals nicht lange auf sich warten. Der Abgeordnete Elliott Engel reichte im Kongress einen Gesetzesantrag ein, der die Entwicklung eines «slave free»-Label für Schokoladeprodukte vorsah. Damit sollte sichergestellt werden, dass die im Land konsumierte Schokolade nicht aus von Kinderhänden gepflücktem Kakao stammte.
Gemäss der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gilt Kinderhandel als Sklaverei. Diese wie auch alle anderen Tätigkeiten, die der Gesundheit, Sicherheit oder Moral von Kindern schaden können, fallen unter die «schlimmsten Formen von Kinderarbeit», die gemäss dem ILO-Übereinkommen 182 unverzüglich zu beseitigen sind. Auch deshalb fand Engels Antrag breite Zustimmung und wurde im Kongress mit grosser Mehrheit angenommen.
Listiges Lobbying gegen griffige Gesetzesgrundlage
Das versetzte nun die Schokoladeindustrie in helle Aufregung und deren Lobbymaschinerie in vollen Gang. Mit Bob Dole und George Mitchell wurden zwei sehr prominente Ex-Senatoren angeheuert. Deren Verbindungen und Einfluss sollte verhindern, dass die griffige Gesetzesvorlage auch noch den Senat passiert. Zugleich versicherte die damalige Sprecherin des US-Verbands der Schokoladehersteller, man würde doch bereits handeln und bräuchte kein Gesetz, um mit dem (bei dieser Gelegenheit immerhin erstmals offiziell anerkannten) Problem fertig zu werden.Das war die Geburtsstunde des Harkin-Engel-Protokolls. Gemeinsam mit diversen US-Regierungsstellen, der ILO, einigen NGOs sowie acht Kakaokonzernen – darunter auch die Schweizer Barry Callebaut, Nestlé und die von der Genferseeregion aus operierende Handelsgesellschaft ADM –wurde unter Leitung von Senator Tom Harkin und dem Abgeordneten Elliott Engel eine Vereinbarung unterzeichnet, die von den Schokoladefirmen konkrete Massnahmen zur Identifizierung und Beseitigung von Kinderarbeit forderte. Die wohl wichtigste war die Entwicklung und Implementierung eines wirksamen Zertifizierungssystems mit unabhängiger Überwachung und Berichterstattung. Deadline dafür war das Jahr 2005.
Mit diesem Protokoll konnte tatsächlich das Schlimmste abgewendet werden – allerdings nicht für die Kinder, sondern für die US-Geschäfte der Schokoladefirmen.
Denn da der Deal auf reiner Freiwilligkeit basierte, sahen die US-Bundesbehörden von einer Überwachung der Produktionsbedingungen ab. Und die Konzerne wiederum sahen sich nicht genötigt, ihren vollmundigen Versprechungen konkrete Taten folgen zu lassen.
Gebrochene Versprechen und verpasste Fristen
Die bald 20-jährige Geschichte des Harkin-Engel-Protokolls ist eine der gebrochenen Versprechen und verpassten Fristen. Die durch die Unterschrift der Firmenbosse bekräftige Umsetzungsfrist von 2005 verstrich ohne öffentlichen Aufschrei. Vielmehr erwirkte die Schokoladenindustrie einen Aufschub bis 2008, wobei die revidierte Zielsetzung nun plötzlich nur noch die Hälfte der kakaoproduzierenden Gebiete umfasste.Doch auch dieser Termin wurde nicht eingehalten. Als sich abzeichnete, dass die daraufhin bis 2010 erstreckte Galgenfrist wieder verpasst würde, kam kurzerhand ein neuer Vorschlag auf den Tisch: The Declaration of Joint Action to Support Implementation of the Harkin-Engel-Protocol. In dieser Vereinbarung war plötzlich nur noch von einer 70-prozentigen Reduktion der Kinderarbeit die Rede – und zwar bis 2020. Aber selbst dieses deutlich weniger ehrgeizige Ziel, für das es aus menschenrechtlicher Sicht keinerlei Rechtfertigung gibt, wurde nicht erreicht.
Die zahlreichen Recherchen der letzten Jahre haben in erschreckender Regelmässigkeit missbräuchliche Kinderarbeit zutage gefördert und bestätigt, dass Kinderarbeit im Kakaoanbau nach wie vor gängig ist. Als hätte es dafür noch einen weiteren Beleg gebraucht, befreiten ivorische Behörden Anfang 2020 137 Kindersklaven, die teilweise auf Kakaoplantagen zur Arbeit gezwungen wurden.
2021 jährt sich die Unterzeichnung des Harkin-Engel-Protokolls zum zwanzigsten Mal. Doch laut dem U.S. Department of Labor ist Kinderarbeit in den Hauptproduktionsländern Ghana und Côte d'Ivoire ungelöst.
In Ghana und Côte d'Ivoire sind noch immer zwei Millionen Kinder von missbräuchlicher Plantagenarbeit betroffen.
Und das im Protokoll geforderte Monitoringsystem zur Bekämpfung der Kinderarbeit deckt laut der Internationalen Kakaoinitiative (ICI) heute gerade einmal 15% der Kakaolieferkette in Ghana und der Côte d'Ivoire ab.
Mangelnder Wille und fehlende Wirkung
Die Industrie betont häufig und gerne, das Grundübel der Kinderarbeit im westafrikanischen Kakaosektor liege in der dortigen Armut, was natürlich stimmt. Ebenso richtig ist aber, dass eine der Hauptursache dafür das Fehlen eines existenzsichernden Einkommens für die allermeisten der rund zwei Millionen Kakaobauern und -bäuerinnen in Westafrika ist. Dass deren Einkünfte nicht für ein menschenwürdiges Leben reichen, ist mittlerweile auch in Politik und Wirtschaft unbestritten. Dass dieses Einkommen primär durch jene Abnahmepreise bestimmt wird, die Kakaohändler und -verarbeiter den Bauernfamilien für ihre Bohnen bezahlen, bleibt von der Industrie jedoch meist unerwähnt.Natacha Thys vom International Labor Rights Fund (ILRF) hat das eigentliche Problem hinter der Kinderarbeit schon vor Jahren auf den wunden Punkt gebracht:
«What's holding back progress on illegal child labor is nothing more than the industry's unwillingness to exchange a small portion of its massive profits to ensure a sufficient return for farmers and workers.»
Diese Kritik richtet sich auch an das Harkin-Engel-Protokoll, das es versäumt habe, überprüfbare Schritte einzufordern, die sicherstellen, dass die Bauern und Bäuerinnen faire Preise für ihre Produkte erhalten – was das wirksamste Mittel gegen Kinderarbeit wäre.
Aktuelle Zahlen zeigen, wie locker sich die Kakaofirmen das leisten könnten: So erhielten die Aktionäre von Barry Callebaut 2019 eine im Vergleich zum Vorjahr 8,3% höhere Dividende, während Lindt & Sprüngli seine Kapitalgeberinnen gar mit einer um 75% höheren Dividende am gestiegenen Gewinn beglückte. Dass ihr Konzernchef im vergangenen Jahr knapp 3,5 Millionen Franken verdiente, ist da nur noch eine Randnotiz.
Neue Berechnungen des VOICE-Netzwerks (Voice of Organisations in Cocoa) zeigen zudem, dass der für ein existenzsicherndes Einkommen notwendige Abnahmepreis bedeutend höher liegt als bisher angenommen. Was nichts anderes heisst, als dass die heute von der Schokoladeindustrie für ihren wichtigsten Rohstoff bezahlten Preise noch viel tiefer und unfairer sind als bislang gedacht. Wobei ein existenzsicherndes Einkommen eben auch nur knapp die Existenz sichert – mehr nicht. Es ermöglicht den Bauernfamilien ein einfaches, aber würdevolles Leben mit genug Geld für Nahrung, Kleidung, Medikamente und Schule.
Ein existenzsicherndes Einkommen ist also kein Luxus, sondern ein grundlegendes Menschenrecht.
Seit 20 Jahren versucht die Schokoladeindustrie nun schon vergeblich, ihr im Harkin-Engel-Protokoll abgegebenes Versprechen einzulösen. Mit dem öffentlichen Druck haben aber auch die Anstrengungen der Unternehmen zugenommen: Neue Initiativen wurden angestossen, Programme ausgeweitet und Projekte lokal besser abgestützt. Das Resultat ist dennoch ernüchternd: Missbräuchliche Kinderarbeit bleibt weiter omnipräsent im Kakaosektor Westafrikas.
Zertifiziert heisst nicht nachhaltig
Daran haben auch die diversen Labels kaum etwas geändert, egal ob unternehmenseigene oder solche von unabhängigen Organisationen wie Fairtrade oder Rainforest Alliance/UTZ. Selbst auf zertifizierten Plantagen kommt es immer wieder zu Kinderarbeit, wie der Dokumentarfilm «Shady Chocolate» oder zuletzt eine vom RTS ausgestrahlte Recherche aufdeckten.Grundlegende Vorbehalte gegenüber Zertifizierungsprogrammen, wie sie ein aktuelles VOICE-Papier formuliert, betreffen vor allem ihre bescheidene Wirkung auf die bäuerlichen Einkommen. Dazu kommen gravierende Probleme bei der Überwachung durch Audit-Firmen. So musste UTZ, dessen Label auf rund 65% allen zertifizierten Kakaos prangt, erst letztes Jahr einräumen, dass vier ihrer wichtigsten unabhängigen Überprüfer getrickst hatten. UTZ musste daraufhin die Zertifizierung einiger Produzenten annullieren und hat die weitere Ausdehnung ihres Programms auf Eis gelegt.
Dass Audit-Firmen ein Schwachpunkt des Systems sind, zeigt auch die erwähnte RTS-Recherche. Ein versteckt gefilmter Auditor in der Côte d'Ivoire gab unumwunden zu, dass es besser sei, bei den Kontrollen in den Kakaoplantagen nicht so genau hinzuschauen, wenn man im Geschäft bleiben wolle. Die Kunden, sprich die Kakaofirmen, würden strenge Kontrollen nicht besonders schätzen.
«Too little, too late»: diskreditierte Freiwilligkeit
Die Bemühungen der Unternehmen werden der Dimension der Probleme also in keiner Weise gerecht. Oder wie VOICE das bisherige Industrie-Engagement kommentiert: «too little, too late». Die Ansicht, dass die Selbstregulierung im Kakaosektor definitiv gescheitert ist, teilen auch die beiden US-Senatoren Brown und Wyden, die sich letzten Sommer mit einem Brief an die US-Zollbehörde wandten. Darin fordern sie ein hartes Durchgreifen beim Import von mit Kinderarbeit produziertem Kakao aus der Côte d'Ivoire und konstatieren:«The last 20 years demonstrate that the travesty of forced child labour in the global supply chain cannot be solved by chocolate companies' self-regulation.»
Offenbar haben auch Ghana und die Côte d'Ivoire, die zusammen rund 60% der globalen Kakaoproduktion auf sich vereinen, den Glauben an freiwillige Massnahmen der Industrie verloren.
2019 kündigten die Regierungen der beider Länder entsprechend an, ab dem Erntejahr 2020/21 von den Kakao-Firmen einen Aufpreis von 400 US-Dollar pro Tonne Bohnen zu verlangen. Dieses «living income differential» soll den Bauernfamilien zugutekommen und helfen, die Riesenlücke zu einem existenzsichernden Einkommen etwas zu verkleinern. Während zivilgesellschaftliche Organisationen den beiden Regierungen zu ihrer mutigen Massnahme gratulierten, äusserten sich betroffene Unternehmen nur vorsichtig positiv. Man sei nicht grundsätzlich gegen dieses Vorhaben, entscheidend sei jedoch dessen Umsetzung.
Regulierung auf dem Vormarsch
Vor einem Jahr hat Holland ein Gesetz zur Bekämpfung von ausbeuterischer Kinderarbeit in internationalen Lieferketten verabschiedet. Es verpflichtet Unternehmen zur Durchführung einer Sorgfaltsprüfung bezüglich Kinderarbeit. Sollten dabei entsprechende Risiken identifiziert werden, müssen sie Korrekturmassnahmen vorschlagen und umsetzen. Das voraussichtlich 2022 in Kraft tretende Gesetz ist das erste, das bei Nichteinhaltung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht strafrechtliche Sanktionen vorsieht. Seine Anwendung wird sich zwar nicht auf die Schokoladeindustrie beschränken, diese steht aber im Fokus.Einen anderen Weg sind die USA gegangen. Seit den 1930ern ist dort ein Gesetz gegen Importe aus Sklavenarbeit in Kraft, das im Jahr 2000 um Kinderarbeit erweitert wurde. Damit können solche Einfuhren beschlagnahmt werden und strafrechtliche Ermittlungen gegen den Importeur auslösen. Im Inland nicht ausreichend zur Verfügung stehende Güter– wie Kakao – waren von dieser Regelung ausgenommen, bis Obama diese Gesetzeslücke 2016 endlich geschlossen hat. Zustimmung in der Branche wächst
Eine Reihe von Kakaofirmen, darunter auch solche mit starkem Schweiz-Bezug wie Barry Callebaut, Cargill Cocoa & Chocolate und Nestlé Nederland, haben in einem offenen Brief an die holländische Regierung ihre Unterstützung für die neue Regulierung gegen Kinderarbeit signalisiert.
Rückendeckung durch Teile der Kakaoindustrie gibt es auch für ein hängiges EU-Gesetzesvorhaben mit ähnlichem Ziel, das allerdings einen breiteren Fokus aufweist. Gemeinsam mit dem Kakaonetzwerk VOICE, Fairtrade und Rainforest Alliance haben drei grosse Schokoladeproduzenten (Barry Callebaut, Mars Wrigley, Mondelēz) in einem Positionspapier einer verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfung grundsätzlich zugestimmt.
Doch das wird kein Spaziergang für die Kakaofirmen. Denn ihr Geschäftsmodell ist von der Armut der Bauernfamilien und von Kinderarbeit abhängig. Bei einer ernsthaften Umsetzung der Sorgfaltsprüfung müssten sie also ihr Geschäftsmodell grundsätzlich ändern. Aber dafür dürfen ihnen nicht nochmals 20 Jahre eingeräumt werden.
Schweiz zunehmend im Abseits
Während immer mehr Länder und inzwischen selbst Firmen zur Einsicht gelangt sind, dass kein Weg mehr an einer gesetzlichen Regulierung vorbeiführt, frönt die Schweiz unverdrossen dem Prinzip Freiwilligkeit. Dies zeigt nicht zuletzt die 2018 ins Leben gerufene Plattform für Nachhaltigen Kakao, eine unverbindliche Multistakeholder-Initiative. Während Branchenvereinigungen wie die European Cocoa Association oder der europäische Verband der Kakao- und Buiscuitshersteller (CAOBISCO) regulatorische Massnahmen explizit begrüssen, setzt der Schweizer Verband Chocosuisse weiter auf freiwillige Selbstverpflichtung.Auch die offizielle Schweiz sträubt sich – trotz ihrer hohen Verantwortung - weiter gegen griffige regulatorische Massnahmen in diesem Bereich.
Dabei steht die Schweiz mit ihren zahlreichen Schokoladeunternehmen, aber auch als globaler Handelsplatz, über den rund ein Drittel des weltweit gehandelten Kakaos läuft, besonders in der Pflicht.
Wie lange will die Schoggi-Nation ihren politischen Widerstand gegen griffige Gesetze, welche die Menschenrechte ausgebeuteter Kinder statt Profite ihrer Konzerne schützen, noch aufrechterhalten? Die Antwort interessiert nicht nur die Schoggi-Opfer in Westafrika, sondern auch die Schweizer Konsumierenden immer brennender.