Zwei wesentliche Merkmale des Neoliberalismus' sind einerseits die Flexibilisierung der Arbeit und andererseits die Strategie, Menschen, vor allem in der digitalen Wirtschaft, zu der Vorstellung zu bewegen, dass sie bei der Arbeit von ihrer eigenen Leidenschaft angetrieben würden. Dies führt dazu, dass die Menschen ihre produktive Arbeit nicht mehr als Arbeit ansehen, was aber sehr gefährlich ist; dadurch wurden beispielsweise in der Vergangenheit Arbeitnehmerrechte untergraben. Ich glaube zwar, dass die traditionelle Definition von Arbeit unzulänglich ist, möchte aber trotzdem erstmal daran festhalten.
Aus meiner Sicht benötigen wir jetzt viel eher eine erweiterte Definition davon, was wir unter „Wirtschaft“ verstehen. Lasst uns also unsere Vorstellung davon, was „Arbeit“ ist nicht über Bord werfen, sondern diese Vorstellung eher erweitern. Wir sollten unter Wirtschaft nicht nur das verarbeitende Gewerbe, den Dienstleistungssektor und die materielle Ökonomie verstehen, sondern auch die immaterielle Wirtschaft, also Reproduktionsarbeit, Pflegearbeit oder Betreuungsarbeit.
Über generative Ökonomien nachdenken
In diesem Zusammenhang sollten wir uns von unserer Vorstellung von einer „produktiven Wirtschaft“ verabschieden, weil die ganze Idee der „Produktivität“ sehr stark mit dem Kapitalismus verbunden ist; Produktivität steht wiederum stark mit dem System der Herstellung von Waren und der Ausbeutung von Arbeitern in einem Zusammenhang. Stattdessen sollten wir mit dem Konzept der „generativen Ökonomien“ (fruchtbaren Ökonomien) arbeiten; damit ist ein Wirtschaftssystem gemeint, das „Früchte hervorbringt“ und weniger eines, das lediglich „produziert“. Eine generative Ökonomie umfasst viel mehr, beispielsweise auch das Hervorbringen von Wissen, das Hervorbringen der nächsten Generationen oder die Frage, wie wir unsere Landschaft pflegen.Ich möchte hier auch etwas gegen Vorwürfe angehen, dass pastorale Subsistenzwirtschaften nur rein nostalgisch betrachtet werden können und für den Kampf um eine Gemeingutökonomie keinerlei Bedeutung haben. Es gibt auch heute noch gut funktionierende Ökonomien, welche sich auf ihrem eigenen Land ernähren können und dort weiterhin überleben. Das ist in Kanada, wo ich herkomme, beispielsweise bei den indigenen Völkern so, und das trifft auch auf weite Teile des globalen Südens zu. Wir leben vielleicht alle in einer globalen kapitalistischen Wirtschaft, aber wir leben nicht alle in einer industriellen Wirtschaft.
Es gibt auch heute noch grosse intakte Gemeinschaften, die sich auf ihrem eigenen Land ernähren können und dort weiterhin überleben und bei denen das Land nicht etwas ist, was einfach nur ausgebeutet werden soll, sondern bei denen das Land eine wirtschaftliche Quelle für die Erzeugung von Nahrung, Medizin und Kulturgütern ist. Wenn wir darüber nachdenken, was wir im Zusammenhang mit der Gemeingutökonomie verteidigen wollen, sollten wir uns meines Erachtens deshalb intensiv mit den Themen „Landschaftspflege“ und „generative Ökonomie“ beschäftigen.
Lasst uns die Commons neu imaginieren
Eine Beschäftigung mit diesen Themen sollte meines Erachtens auch nicht auf der Metaebene stattfinden – nicht einfach nur als Theoriearbeit. Wenn wir beginnen, anders über Gemeingüter und Wirtschaftssysteme nachzudenken, dann beginnen wir in dem Zusammenhang auch plötzlich die Menschen zu sehen, die im Kampf um die Gemeingutökonomie aktiv sind. Das ist meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt des Kampfes um die Gemeingutökonomie: Wir sollten uns auf die Menschen konzentrieren, die tatsächlich für die Gemeingutökonomie kämpfen.Sobald wir das tun, werden Gruppen von Menschen in den Mittelpunkt unseres Interesses rücken, die normalerweise in unseren Diskussionen marginalisiert werden oder sogar unsichtbar sind. Beispielsweise sollten wir uns die Kämpfe der Sexarbeiter, die Kämpfe der Drogenkonsumenten, die Kämpfe der Wanderarbeiter, die Kämpfe der alleinerziehenden Mütter, die Kämpfe der alten Menschen und die Kämpfe der Landschützer anschauen. Diese Menschen, die durch die kapitalistische Wirtschaft entbehrlich gemacht werden, sind für den Kampf um eine Gemeingutökonomie tatsächlich von zentraler Bedeutung.
Das Engagement für eine Gemeingutökonomie (englisch: „commoning“) ist ein politischer Kampf, ein Kampf, bei dem der Prozess so wichtig ist wie das Ziel. Der Prozess, wie wir uns zueinander verhalten und wie wir zusammen kämpfen, das soziale Engagement, die sozialen Beziehungen und die politischen Kämpfe, das sind alles Schlüsselelemente des Kampfes um eine Gemeingutökonomie. Wir können uns in dem Zusammenhang ein Beispiel an den Kämpfen der indigenen Völker nehmen. Mel Bazil, ein im Unist'ot'en-Camp engagierter Landschützer, bedient sich zwar nicht der Sprache der Gemeingutökonomie, aber er spricht davon, wie wichtig es ist, darum zu kämpfen, dass Menschen ihr Wertesystem auf der Idee der „Verantwortung“ und nicht auf der Idee der „Rechte“ aufbauen.
Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Frage: Wie können wir die Idee der „kollektiven Verantwortung“ stärken und ermächtigen und die Vorstellung von „individuellen Rechten“ zurückdrängen? Eine Gemeingutökonomie kann nicht einfach nur daraus bestehen, dass sie vom Staat oder von Bürokratien festgelegte Rechte schützt. Ein zentraler Inhalt muss vielnmehr die kollektive Verantwortung sein. Das ist ein emanzipatorische Kampf um das menschliche Befinden, welcher nicht vom Staat diktiert wird.
Menschen, die nicht sichtbar sind, können trotzdem am Kampf beteiligt sein
Der reale Prozess des Engagements für eine Gemeingutökonomie gründet also in direkter Demokratie, dem Engagement der Menschen und dem Engagement von Gemeinschaften. Das ist natürlich leicht gesagt. Eine der Herausforderungen, vor allem für das Engagement und den politischen Kampf in sozialen Bewegungen, ist jedoch die Frage, wie man vermeiden kann, genau dieselben Machtverhältnisse zu reproduzieren, gegen die man ankämpft. Wie überwinden wir soziale Beziehungen, die auf einem hierarchischen Verhältnis beispielsweise auf der Basis von Herkunft (Rassismus), sozialer Klasse oder Geschlecht beruhen?Es ist verführerisch, diese Frage als eine Frage von Teilnahme und Beteiligung zu sehen, also zu überlegen, wie man erreichen kann, dass jeder potenziell am Kampf um die Gemeingutökonomie teilnehmen kann. Ich glaube jedoch, dass dies die falsche Fragestellung ist. Wenn Menschen nicht bei etwas dabei sind, dann heisst das nicht, dass sie sich nicht dafür engagieren. Es heisst vielleicht, dass sie bei Kämpfen dabei sind, die wir nicht sehen können, und dass wir diese Menschen nach unseren üblichen Vorstellungen nicht mit dem Prozess des Engagements für eine Gemeingutökonomie identifizieren.
Es ist aber wichtig, dass man auf Bewegungen nicht nur seine abstrakte Theorie anwendet, sondern sich anschaut, wie die Kämpfe entstehen. Viele Menschen kämpfen für die Gemeingutökonomie und sind in der Gemeingutökonomie aktiv, sehen sich aber selbst nicht als Gemeingutaktivisten (Commoners) und verstehen sich auch nicht als Teil des Engagements für eine Gemeingutökonomie. Letztlich sind sie aber genau das.
Ich möchte da etwas konkreter werden: Ich denke, es ist kein Zufall, dass diejenigen Gemeinschaften, die am stärksten kriminalisiert werden, auch diejenigen sind, die auf sehr inspirierende Weise am unmittelbarsten und wirksamsten an Kämpfen für die Verteidigung der Gemeingutökonomie teilnehmen. Sie können sich eben, wenn sie Schutz benötigen, nicht an den Staat wenden. Die am stärksten am Daseinskampf orientierten Bewegungen praktizieren deshalb aus reiner Notwendigkeit direkte Demokratie. Ich denke hier an die Landarbeiterbewegung, die Sexarbeiterbewegung oder die Bettlergewerkschaften. Ich möchte jedoch kurz über zwei Bewegungen sprechen, an denen ich in den letzten Jahren selbst teilgenommen habe.
Kriminalisierte Gemeinschaften und ihre Prozesse des Commoning
Die erste Bewegung betrifft vor allem die in Innenstädten stattfindenden Kämpfe der Wohnungslosen. Zentral ist hier die Frage der Zeltstädte. In Vancouver, wo ich lebe, haben Zeltstädte eine lange Tradition; diese Zeltstädte sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit den Hausbesetzerbewegungen in Europa und anderswo. Meiner Meinung nach handelt es sich bei diesen Zeltstädten im Wesentlichen und auf unterschiedliche Weise um Kämpfe für eine Gemeingutökonomie. Mit diesen Kämpfen wird auch die Gemeingutökonomie verteidigt. In Vancouver ist es beispielsweise gesetzlich verboten, überhaupt auf der Strasse zu schlafen.Es gibt in fast jeder kanadischen Stadt, mit Sicherheit jedoch in Vancouver, kommunale Verordnungen, nach denen das Schlafen auf der Strasse eine Straftat und/oder ein Verstoss gegen kommunale Verordnungen darstellt. Eine Zeltstadt zu errichten ist also zuallererst eine rechtswidrige Handlung, zugleich ist dies aber auch ein Akt, mit dem die Gemeingutökonomie verteidigt wird. Damit wird praktisch gesagt, dass dieses Land nicht privatisiert werden kann; die Strasse ist nicht der Herrschaftsbereich des Staates und mit Sicherheit nicht der Herrschaftsbereich des Kapitals oder sonstiger privater Interessen.
Das Land muss vielmehr enteignet werden und von denjenigen Gemeinschaften genutzt werden, die gezwungen sind, auf der Strasse zu leben. Wenn wir gezwungen sind, auf der Strasse zu leben, müssen wir eben zumindest ein Anrecht auf die Strasse haben. Zeltstädte sind also für mich ein sehr inspirierendes Beispiel dafür, wie Gemeinschaften bei der Verteidigung der Gemeingutökonomie gemeinsam agieren.
Hier zeigt sich meines Erachtens erneut, warum der Prozess hierbei von zentraler Bedeutung ist. Es geht hier um den Prozess, Zeltstädte für diejenigen Gemeinschaften zu errichten, die sich im alltäglichen Leben gegenseitig versorgen, es geht darum, auf der Strasse lebende Gemeinschaften mit Mahlzeiten zu versorgen, es geht darum, auf einander aufzupassen, Kinder zu betreuen, sichere Spritzentauschprogramme bereitzustellen und generell jede Art von sozialer Beziehung zu leben, die eben in dem Zusammenhang gepflegt und bereitgestellt werden muss.
Meiner Meinung nach ist dies ein tolles Beispiel für das Engagement für eine Gemeingutökonomie. Damit meine ich sowohl den Akt des Errichtens einer Zeltstadt, trotz des von Staat und Kapitalinteressen ausgesprochenen Verbotes, das Wohnen in einer Zeltstadt, die Teilnahme an einer Zeltstadt als auch – Nacht für Nacht – die Teilnahme an Prozessen der direkten Demokratie, mit denen geregelt wird, wie wir zusammenleben und wie wir den gemeinsamen Raum verwalten wollen.
Die Kämpfe von Migranten und Refugees
Die andere Bewegung, über die ich gleich sprechen will, ist diejenige Bewegung, mit der ich mich am besten auskenne: die Kämpfe von Migranten und Flüchtlingen. Als erstes möchte ich anmerken, dass Grenzen natürlich das beste Beispiel für eine Einhegung der Allmende sind. Eine Grenze ist die gewalttätigste Form des Ausschlusses auf unserem Planeten. Meines Erachtens ist die Staatsbürgerschaft eines der extremsten Beispiele für real existierende Apartheid: die Staatsbürgerschaft entscheidet darüber, wer das Recht auf Würde hat und wer nicht, sie erzeugt verschiedene Kategorien von erwünschten und unerwünschten Menschen und Merkmalen.Ausserdem setzt die Staatsbürgerschaft, vor allem in dem Kontext in dem ich mich bewege, mit Gewalt eine ganz klar umrissene Grenze zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden durch. Das ist zumindest meine Meinung. Durch die Staatsbürgerschaft werden die arbeitsteiligen Prozesse und die imperialistische Produktion, Enteignung und Ausbeutung vom globalen Norden gegenüber dem globalen Süden durchgesetzt.
Für mich stellt deshalb jeder Kampf gegen die Grenze das Engagement eines Gemeingutaktivisten (Commoner) zur Verteidigung der Gemeingutökonomie dar; dazu gehört auch jeder Mensch, der sich der Grenze widersetzt. Es gibt daher eine breite Palette von Kämpfen. Diese Stadt und dieser Kontinent bieten wiederum viele Beispiele dafür, wie die Kämpfe von Flüchtlingen in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung sind. Einer der Kämpfe in Vancouver, in dem wir kürzlich einen wichtigen Sieg errungen haben, war eine Kampagne, die sich „Beförderung statt Abschiebung“ (englisch: „Transportation Not Deportation“) nannte.
Dort waren mehrere Dinge zusammengekommen: Erstens wurde unser öffentliches Verkehrssystem privatisiert, was keine wirkliche Überraschung ist. Austerität und Neoliberalismus führten dazu, dass wir schlussendlich ein privatisiertes Verkehrssystem hatten. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurden dann jedoch öffentliche Gelder in eine öffentliche Polizeieinheit gesteckt, die das privatisierte Verkehrssystem militarisierte. Öffentliche Gelder wurden also in eine Polizeieinheit gesteckt, die ein privatisiertes Verkehrssystem schützen sollte, letztlich um den Profit sicherzustellen. Wieder machten der Staat und das Kapital hier gemeinsame Sache. Wir fanden schliesslich heraus, dass diejenige staatliche Stelle, die die meisten Einwanderer, Flüchtlinge und statuslose Menschen – also Menschen ohne vollen Status als Einwanderer – an den Grenzschutzdienst überstellte, eben jene Transportpolizei war.
Prekäre Arbeiternehmer – Menschen mit niedrigem Einkommen sind ja generell sehr stark auf „öffentliche Verkehrsmittel“ angewiesen – sind in unseren öffentlichen Verkehrsmitteln die am stärksten kriminalisierten, überwachten und rassistisch kontrollierten Menschen. Wir organisierten deshalb eine von Einwanderern, Flüchtlingen und Bündnispartnern geleitete Kampagne, die forderte, dass öffentliche Verkehrsmittel nicht zu Grenzkontrollstellen gemacht würden.
Das entspricht auch meiner Meinung und unterstreicht mehrere Dinge: das Verkehrssystem ist ein öffentliches Gut, und die Grenze darf nicht immer weiter ins Landesinnere verlegt werden (solche Grenzen, die dem Ausschluss dienen, tauchen ja heute plötzlich an so unterschiedlichen Orten auf: in Deutschland, wie ich gehört habe, ist das neue Flüchtlingslagersystem anscheinend die ganz eigenständige Durchsetzung einer Grenze).
Und was passierte? Innerhalb eines Jahres war unsere Kampagne erfolgreich. Unsere Kampagne war schliesslich aufgrund einer sozialen Bewegung und aufgrund eines sozialen Kampfes erfolgreich, und wir haben die Transportpolizei gezwungen, ihren Vertrag und ihre Vereinbarung über die Zusammenarbeit mit der Grenzpolizei zu beenden. Dies ist natürlich kein umfassender Sieg. Aber es bedeutet, dass prekäre Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen, die in unserer Gesellschaft am wenigsten sichtbar sind, Zugang zu dem haben, was wir als Gemeingut betrachten.
Wir müssen sicher stellen, dass der Kampf um's Gemeineigentum inklusiv ist
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf etwas vorhin Gesagtes zurückkommen: Im Kampf um die Gemeingutökonomie sollten wir sicherstellen, dass dieser Kampf potenziell alle Menschen einschliesst. Jeder Mensch muss dabei mitmachen können. Der Kampf für die Gemeingutökonomie wird kein Kampf für das sogenannte Allgemeinwohl sein, wenn Leute ohne Papiere, Leute, die als nicht produktiv bewertet werden, oder Leute, die in sämtliche Kategorien des „Unerwünschtseins“ in unserer Gesellschaft fallen, ausgeschlossen werden. Es ist also zwingend erforderlich, dass der Kampf für die Gemeingutökonomie ein Kampf ist, bei dem die Frage des „Zugangs“ von zentraler Bedeutung ist.Ich möchte meine Überlegungen mit einem Zitat von Eduardo Galeano schliessen, das mein Lieblingszitat ist. Eduardo Galeano sagte einmal: „Als die Welt geboren wurde, sehnte sie sich danach, eine Heimat für alle Menschen zu werden.“ Wenn ich an den Kampf um die Gemeingutökonomie denke, denke ich an einen Kampf gegen den Staat und an einen Kampf gegen das Kapital. Ich mache da keine Kompromisse: Ich bin gegen den Staat, ich bin gegen das Kapital. Ich bin gegen jede Art von Unterdrückung. Für mich ist die Gemeingutökonomie letztlich ein Kampf gegen Staat, Kapital und Unterdrückung. Wenn wir, wie Eduardo Galeano sagt, eine Heimat für alle Menschen bauen wollen, dann können wir nicht mit diesen System gleichzeitig leben.